Kritikerinnen in Gefahr Moskaus Todesfalle schnappt auch im Ausland zu
Moskau sperrt kritische Aktivisten, Journalisten und Politiker für Jahrzehnte ins Gefängnis. Die prominentesten und einflussreichsten unter ihnen versucht der Kreml zu ermorden – wohl auch in Deutschland.
Für Russinnen und Russen, die gegen Wladimir Putin sind, bedeutet ein Leben in ihrer Heimat ein enormes Risiko. Das Land, in dem ein Vater wegen einer proukrainischen Schulzeichnung seiner Tochter in Haft sitzt und Friedensaktivismus als Straftat zählt, ist für Kremlkritiker eine Todesfalle. Viele von ihnen leben deshalb im Exil, häufig in Europa. Doch selbst hier sind sie nicht sicher.
Das zeigen einmal mehr drei neue Fälle, die das russischsprachige Investigativmedium "The Insider" kürzlich veröffentlicht hat. Demnach wurde die russische Journalistin Irina Bablojan in Georgien vergiftet, der Aktivistin Natalija Arno wurde in Tschechien Gift eingeflößt. Und auch in Deutschland ist es wohl zu einem versuchten Mord gekommen: Der lange Arm des Kremls soll die Journalistin Jelena Kostjutschenko in München gepackt haben.
Tatort München, 2022
Als Journalistin tut Jelena Kostjutschenko, was der Kreml am meisten fürchtet: Über die Wahrheit berichten. In Reportagen aus der Ukraine schrieb sie in den Wochen nach Russlands völkerrechtswidrigem Angriff, wie Moskaus Truppen Kriegsverbrechen im Nachbarland begangen: Folter, Verschleppung, Mord. Kurz bevor ihr Auftraggeber, die kremlkritische Zeitung "Nowaja Gaseta", gezwungen wurde zu schließen, erreichte Kostjutschenko laut Bericht von "The Insider" ein Anruf ihres Chefredakteurs. Der warnte sie: Sie solle auf keinen Fall nach Moskau zurückkehren, "hier werden Sie getötet."
Die junge Frau zog daraufhin nach Berlin und begann für das unabhängige russische Onlinemedium "Meduza" zu schreiben. Für eine erneute Recherchereise in die Ukraine fuhr sie im April 2022 zum ukrainischen Konsulat in München – auf der Rückfahrt im Zug brach sie in Schweiß aus, konnte sich nicht mehr konzentrieren, ihr Kopf schmerzte. In den folgenden Tagen verschlimmerten sich ihre Symptome. Die Journalistin litt unter starken Schmerzen in Kopf und Rücken, konnte kaum schlafen, musste sich immer wieder erbrechen und hatte Blut im Urin. Ein Foto auf ihrem Instagram-Kanal zeigt sie mit dick angeschwollenen Händen bei ersten Untersuchungen in der Berliner Charité.
Nach wochenlangen Beschwerden und ergebnislosen Tests auf Covid, Hepatitis, Autoimmunerkrankungen und eine Nierenbeckenentzündung schaltete sich ein medizinischer Berater von Kostjutschenkos Arbeitgeber "Meduza" ein: Könnte sie vergiftet worden sein? Kostjutschenko erinnerte sich: Beim Mittagessen mit einer russischen Freundin in München hatte sie an einem Tisch im Freien gesessen, nacheinander waren dort Bekannte ihrer Freundin vorbeigekommen – erst ein Mann, dann zwei Frauen.
"Wie klein München ist", habe sie gedacht, ständig treffe man Leute. Diese Begegnungen und das anscheinend ungenießbare Essen, das sie größtenteils stehen ließ, seien der Journalistin aber erst im Nachhinein beim Verdacht einer möglichen Vergiftung suspekt erschienen.
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In der Zwischenzeit waren bereits zweieinhalb Monate seit der München-Reise vergangen; zu viel, um Giftstoffe im Körper noch gut nachweisen zu können. Laut Bericht von "The Insider" konnten weder die Polizei noch Ärzte an der Charité Strahlungsspuren im Körper der Journalistin oder an ihrem Reisegepäck nachweisen. Auch Blutuntersuchungen sollen keine Hinweise gebracht haben. Eine Quelle des Mediums gibt jedoch an, im Blut der jungen Frau sei durch eine Massenspektrometrie "eine nicht genannte Substanz in stark erhöhter Form" nachgewiesen worden.
Giftspezialisten und Mediziner, die "The Insider" angefragt hat, ordnen Kostjutschenkos Symptome als mögliche Vergiftungsschäden ein: Die neurologischen Ausfallerscheinungen zusammen mit Leber- und Nierenstörungen deuten ihnen zufolge auf einen Stoff wie Dichlorethan hin; ein Gift, das am einfachsten über kontaminierte Nahrung in den Körper gelangt. Nachdem die Staatsanwaltschaft Berlin den Fall der Journalistin erst im Mai eingestellt hatte, sind dort inzwischen neue Ermittlungen angelaufen.
Tatort Tiflis, 2022
Ähnliches wie Kostjutschenko erlebte im vergangenen Jahr auch ihre Kollegin Irina Bablojan, die für den liberalen Radiosender Echo Moskau tätig ist. Kurz nachdem sie im Oktober 2022 von der russischen Hauptstadt aus nach Georgien gezogen war, litt sie urplötzlich unter Schwindel und Schwäche, ihre Haut brannte und verfärbte sich bläulich an Händen und Füßen. Auch in diesem Fall kamen starke Schmerzen und Schlaflosigkeit dazu.
Wie Kostjutschenko dachte auch Bablojan nicht sofort an eine mögliche Vergiftung, sondern ließ sich auf Allergien testen – ohne Befund. Sie könnte laut den von "The Insider" konsultierten Experten ebenfalls durch Dichloretan oder eine ähnliche Chlorverbindung vergiftet worden sein.
Tatort Prag, 2023
Unter den betroffenen Frauen, mit denen "The Insider" gesprochen hat, ist auch eine Aktivistin: Natalija Arno lebt im Exil in Washington, D.C., und leitet eine der bekanntesten russischen Stiftungen, "Freies Russland". Von den USA aus unterstützt die prodemokratische Organisation Aktivisten und Journalisten in Russland und fordert internationale Sanktionen für Präsident Putin und dessen engsten Zirkel.
Anfang Mai nahm Arno als Präsidentin der Stiftung an einer Veranstaltung in Prag teil, die weder öffentlich noch vorab angekündigt worden war. Am Abend habe bei ihrer Rückkehr ins Hotel die Tür ihres Zimmers offen gestanden, schreibt "The Insider". Anscheinend sei nichts verrückt worden, doch der Raum habe stark nach Parfum gerochen. An der Rezeption sei Arno erklärt worden, dass sicherlich nur ein Zimmermädchen vergessen habe abzuschließen.
In der Nacht sei die Aktivistin dann mit starken Schmerzen im Mund und einem metallischen Geschmack aufgewacht; nach und nach habe der Schmerz sich im gesamten Körper ausgebreitet, Arme und Beine seien taub geworden, ihre Sicht unscharf. Statt in Prag zum Arzt zu gehen, sei Arno am nächsten Tag sofort zurück in die USA geflogen und habe sich und ihr Blut untersuchen lassen. Bislang sind die detaillierten Ergebnisse der toxikologischen Untersuchungen noch nicht bekannt, heißt es bei "The Insider".
Die US-Strafverfolgungsbehörden hätten sich jedoch bereits in den Fall eingeschaltet. Denn: Dass Arno mit einem Nervengift vergiftet worden sei, stehe laut ihren Ärzten bereits fest. Die Frage, um welchen Stoff es sich handelt, sei hingegen noch offen. Sicher ist: Viele Gifte können auch über Hautkontakt in den Körper gelangen und da schwere bis tödliche Schäden anrichten.
Derweil mahnt "The Insider" gefährdete Personen, auch im ausländischen Exil stärker auf ihre eigene Sicherheit zu achten, um nicht "zu leichten Zielen für russische Sicherheitsdienste" zu werden. Doch wie viel vorsichtiger lässt sich ein einigermaßen normaler Alltag leben, wenn man bedenkt, wie unauffällig diese und zahlreiche weitere mutmaßliche Giftanschläge des Kremls verübt worden sind?
Die bekanntesten Giftopfer Moskaus
Zu den bekanntesten Fällen gehört das Attentat auf den weltbekannten russischen Kremlkritiker und Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Dieser war im August 2020 wohl über einen Tee am Flughafen in Omsk oder kurz zuvor während eines Hotelaufenthalts durch eine präparierte Unterhose mit dem militärischen Nervenkampfstoff Nowitschok in Kontakt gekommen.
Dass er den Anschlag überlebt hat, dürfte der inzwischen 47-jährige Nawalny – der nach mehreren Schauprozessen nun für insgesamt 19 Jahre in einem Straflager inhaftiert ist – nur schneller medizinischer Hilfe verdanken. Ähnlich ist es dem russisch-britischen Oppositionspolitiker und Journalisten Wladimir Kara-Mursa ergangen, nachdem er sich für Sanktionen gegen Russland eingesetzt hatte.
Erst 2015 und dann erneut 2017 wurde er Opfer von Giftattentaten, die er knapp überlebte und die vom FBI als "absichtliche Vergiftungsfälle" weiterhin untersucht werden. Laut gemeinsamer Investigativrecherchen von "Spiegel", "The Insider" und "Bellingcat" war Kara-Mursa jeweils kurz zuvor von derselben Gruppe russischer FSB-Agenten verfolgt worden, die auch den Anschlag auf Nawalny mitorganisiert haben sollen.
Ebenso wie dieser entschied Kara-Mursa sich jedoch dafür, nach Ende seiner Behandlung im Ausland nach Russland zurückzukehren. Für seine Kritik am Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine wurde er dort im April dieses Jahres zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt; seine Berufung im Juli wurde abgelehnt.
Russische Exilanten in UK im Fokus
Einer möglicherweise endlosen Haftstrafe in Russland konnte Sergei Skripal zwar entgehen, doch das Gift des Kremls hat den Ex-Spion und russischen Doppelagent auch im Exil gefunden. Jahrzehnte nach Ende seiner Tätigkeit für den britischen Geheimdienst MI6 wurden er und seine damals 33-jährige Tochter Julija 2018 im britischen Asyl vergiftet. Bevor die beiden leblos auf einer Bank gefunden wurden, hatten sie eine Kneipe besucht und in einer Pizzeria gegessen.
Obwohl beide nach dem Vorfall, der sich später ebenfalls als Nowitschok-Angriff herausstellte, länger in Lebensgefahr schwebten, überlebten sie. Seitdem halten sich Vater und Tochter an einem geheimen Ort auf und erhalten besonderen Polizeischutz.
Skripal, der durch einen Gefangenentausch zwischen Großbritannien und Russland im Jahr 2010 nach England gekommen war, dürfte befürchtet haben, dass der Kreml ihm nach dem Leben trachtet. Kurz nach dem Tausch hatte Wladimir Putin den Handel in einer TV-Sendung recht doppeldeutig kommentiert: "Die Verräter werden von allein [ohne offizielles Zutun] ins Gras beißen. Vertrauen Sie mir. Diese Leute haben ihre Freunde betrogen, ihre Waffenbrüder."
Bei einer internationalen Energiekonferenz im Jahr 2018, kurz vor dem Giftanschlag, kam er erneut auf Skripal zu sprechen und nannte ihn "Vaterlandsverräter" und "Dreckskerl".
Ebenfalls im britischen Exil war bereits 2006 der einstige Doppelagent Alexander Litwinenko vergiftet worden. Er starb nach der Verabreichung des radioaktiven Stoffes Polonium-210 in London an den Folgen einer dadurch ausgelösten Strahlenkrankheit.
Vermutlich war das Polonium in einer Tasse grünen Tees enthalten, an der Litwinenko in einer Hotelbar genippt hatte. In einem Abschiedsbrief, den er zwei Tage vor seinem Tod unterschrieb, heißt es an Putin gerichtet: "Sie werden es vielleicht schaffen, mich zum Schweigen zu bringen, aber dieses Schweigen hat einen Preis. Sie haben sich als so barbarisch und rücksichtslos erwiesen, wie Ihre ärgsten Feinde es behauptet haben."
- theins.ru: "Уже не "Новичок": что известно о новой волне отравлений журналистов и активистов в Европе"
- spiegel.de: "Wurden diese drei Kremlkritikerinnen in Europa vergiftet?"
- sz.de: "Angriff aus der blauen Unterhose"
- spiegel.de: "Was passierte am Flughafen Tomsk?"
- youtube.com: "WLADIMIR PUTIN: Russlands Präsident beschimpft Ex-Spion Skripal"
- independent.co.uk: "Video re-emerges of Putin threat that 'traitors will kick the bucket'"
- nbcnews.com: "Putin: Russia's secret services don't kill traitors"
- spiegel.de: "Polonium in den Tee gesprüht?"
- rferl.org: "New FBI Documents Shed Light On Probe Into Russian Activist's Near-Fatal Illnesses"
- tagesschau.de: "Russland weist Berufung von Putin-Kritiker zurück"
- ksta.de: "Litwinenkos Abschiedsbrief"