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Gegenoffensive der Ukraine – Experte: "Haben Russen sehr intelligent gemacht"


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Experte über ukrainische Offensive
"Das haben die Russen sehr intelligent gemacht"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 19.06.2023Lesedauer: 6 Min.
Ukrainische Artillerie: Bislang verteidigen die russischen Truppen ihre Stellungen effektiv.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Artillerie: Bislang verteidigen die russischen Truppen ihre Stellungen effektiv. (Quelle: KAI PFAFFENBACH/reuters)
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Groß war die Hoffnung, bislang konnte die ukrainische Offensive die russischen Linien aber nicht durchbrechen. Oberst Markus Reisner analysiert die Probleme der ukrainischen Armee.

Lange war sie erwartet worden, nun läuft die ukrainische Gegenoffensive seit einigen Tagen. Ihr großes Ziel konnte sie aber bisher nicht erreichen: den Durchbruch der russischen Linien. Warum sind die russischen Truppen bislang so stark in der Abwehr der ukrainischen Armee? Wurde die Anpassungsfähigkeit der Kreml-Armee bislang unterschätzt? Was macht der Ukraine besonders zu schaffen? Diese Fragen beantwortet Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.

t-online: Herr Reisner, die lang erwartete Gegenoffensive läuft, ein entscheidender Erfolg ist den ukrainischen Truppen bislang nicht gelungen. Nun hat die Intensität der Kämpfe abgenommen. Was ist los?

Markus Reisner: Aus militärischer Sicht beobachten wir gerade eine sogenannte operative Pause. Im Augenblick ist die Intensität der Kämpfe relativ zum Erliegen gekommen. Es gibt zwar immer noch kleinere Scharmützel, auch Versuche beider Seiten, sich mit Artillerie oder Drohnen zu bekämpfen. Aber keine massiveren Vorstöße. Operative Pausen dienen der Neustrukturierung, der Umgruppierung der Kräfte und der Vorbereitung eines neuen Ansatzes.

Also sind weitere Vorstöße der Ukraine nur eine Frage der Zeit.

Die Ukraine versucht, sich jetzt neu aufzustellen. Es kommt hinter der Front zu massiven Truppenbewegungen, daran erkennt man es. Kräfte, die bislang im Raum zwischen Dnipro und Saporischschja untergebracht waren, sollen herangeführt werden für einen neuen Waffengang. Diese operative Pause wird zeitnah abgeschlossen sein – und dann wird die Ukraine einen Neuansatz versuchen. An denselben Stellen, möglicherweise auch an anderen. Nur eben noch forcierter.

Oberst Markus Reisner, Jahrgang 1978, ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt und derzeit in einer Truppenverwendung Kommandant des Gardebataillons des österreichischen Bundesheeres. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 analysiert Reisner den Kriegsverlauf auf dem YouTube-Kanal "Österreichs Bundesheer".

Bis auf einige kleinere Ortschaften haben die russischen Truppen bislang kaum Gelände verloren. Worin liegt dieser Abwehrerfolg begründet?

Sie haben diesen Erfolg durch Einsatz aller ihrer Fähigkeiten erzielt, manches hätten viele Beobachter von den Russen gar nicht erwartet. Zum Beispiel der erfolgreiche Einsatz der russischen Luftwaffe, hier vor allem von Kampfhubschraubern, aber auch von Störern im elektromagnetischen Feld. Ferner haben sie auch dem Grundsatz der beweglichen Verteidigung folgend in den letzten Monaten kleinere Elemente zusammengestellt, etwa in Form von mit Panzerabwehrlenkwaffen ausgestatten Trupps in Kombination mit Artillerie. Das haben die Russen sehr intelligent gemacht.

Aber Verluste hat auch Russland erlitten.

Natürlich haben sie auch Verluste erlitten, genauso wie die Ukrainer. Die Russen versuchen jetzt ebenfalls, zusätzliche Reserven heranzuführen. Auch dies lässt sich sehr gut aufgrund der Bewegungen hinter der Front nachvollziehen. Durch die Sprengung des Kachowka-Staudamms ist der Südraum wegen der dadurch verursachten Überschwemmungen nicht nutzbar, sodass von dort Kräfte zur Unterstützung der Abwehr herangeführt werden können. Das kommt den Russen zurzeit zugute.

Also nutzt die russische Seite auch die momentane operative Pause.

So ist es. Sie ziehen auch zusätzlich Kräfte aus dem Raum Donezk in den Zentralraum heran, um sich dort besser aufzustellen. Wir sehen im Prinzip eine Neuausrichtung von Kräften und eine Neustrukturierung derselben in der mobilen Verteidigung, um besser abwehrfähig zu sein.

Die Entfernungen, die die zu verlegenden Truppen zurücklegen müssen, sind allerdings enorm.

Wir haben aus der Entfernung oft den Eindruck, alles in der Ukraine wäre klein und überschaubar. Machen Sie sich mal die Mühe und denken Sie den Frontabschnitt im Zentralraum nördlich von Melitopol und Mariupol in der ganzen Ausdehnung entsprechend nach Westeuropa hinein. Dann bekommt man ein Gefühl für die großen Entfernungen, und diese sind schwierig für beide Seiten.

Für die russische Seite als Verteidiger aber weniger.

Die Russen haben tatsächlich einen großen Vorteil – und zwar besitzen Sie bereits bestehende Verteidigungsanlagen in der Tiefe. Achtung, an dieser Stelle gibt es einen weitverbreiteten Irrtum: Wenn man sich Aufnahmen dieser Stellungen ansieht, finden sich Unterbrechungen. Diese entstehen durch das Gelände. Durch Ortschaften gibt es keine Panzergräben, weil die Ortschaft selbst schon eine behindernde Wirkung hat als solches. Andere Hindernisse sind natürlich, etwa Flüsse. Nach Ende dieser operativen Pause wird die ukrainische Seite beim nächsten Ansatz vermutlich auf diese ersten Verteidigungsstellungen treffen. Das ist die erste wirkliche große Herausforderung.

Nun herrschte im Westen noch vor Beginn der Offensive eine irrige Hoffnung, dass die russischen Linien schnell durchbrochen werden könnten.

Ich habe in der Vergangenheit immer wieder darauf gepocht: Wir dürfen die Russen nicht unterschätzen! Aus meiner Sicht bringt es überhaupt nichts, wenn wir die Russen permanent zu Clowns erklären. Ich sage es ganz klar: Das schadet den Ukrainern viel mehr, als es ihnen hilft. Denn dadurch ergibt sich ein falsches Bild. Und wenn wir die Ukraine effektiv unterstützen wollen, dann brauchen wir ein klares Verständnis ihrer Bedürfnisse.

Ebenso sollten wir uns keine Illusionen über die russische Armee machen.

Richtig. Die Russen haben sich monatelang eingegraben und nun verschiedene militärische Fähigkeiten zum Zusammenwirken zusammengebracht. Und das in einer Art und Weise, wie sie das vorher nicht getan haben. Ich verweise an dieser Stelle gerne auf das Royal United Service Institute aus Großbritannien, das mittlerweile vier lesenswerte Berichte herausgebracht hat. Die Russen sind sehr wohl in der Lage, sich anzupassen, so ließen sich die Erkenntnisse zusammenfassen. Wir weigern uns nur eben oft, die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich sind.

Zunächst hat die russische Armee etwa beim Angriff auf Kiew oder bei der sogenannten Winteroffensive tatsächlich wenig effektiv agiert.

Die Russen haben schwere Fehler gemacht – und haben sich ziemlich verkalkuliert. Aber sie haben sich nun so gut aufgestellt, dass sie in der Lage waren, diese ersten Vorstöße der Ukraine abzuwehren. Das ist das Entscheidende. Auf russischer Seite hat sich dieser Erfolg in Hinsicht auf die Moral sicher positiv ausgewirkt. Auf den russischen Kanälen heißt es, dass man zusammensteht, sogar den berühmten Leopard-Panzer besiegt habe.

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Während auf ukrainischer Seite Enttäuschung herrscht.

Bei den Ukrainern stellen Soldaten die ersten kritischen Fragen. Wäre es nicht besser umzugruppieren? Wäre es nicht besser, den Einsatzplan zu ändern? Und so weiter und so fort.

Nun wird im Westen mit Betroffenheit die Zerstörung westlicher Kampf- und Schützenpanzer, die der Ukraine geliefert wurden, zur Kenntnis genommen.

Es gibt eine seriöse Informationsquelle im Internet, das ist die Seite "Oryx". Da hat sich jemand die Mühe gemacht, wirklich jeden zerstörten Panzer auf russischer Seite zu zählen. Mehr als 2.000 Panzer haben die Russen demnach verloren, mit Videos und Bildern dokumentiert bis Anfang Juni 2023. Dieselbe Seite hat nun die ukrainischen Verluste untersucht – und dokumentiert, dass mindestens 16 Kampfschützenpanzer vom Typ Bradley verloren sind und zwischen vier bis sieben Leopard-Kampfpanzer.

Die russischen Minenfelder sind das große Problem.

Besonders dramatisch ist deswegen auch der Verlust des kostbaren Minenräumungsgeräts, das eine noch viel größere Rolle spielt als die Kampfpanzer. Die Ausfälle, die die Ukraine bislang erlitten hat, sind nicht ungewöhnlich. Sie hat sie aber bereits in der Gefechtsvorpostenlinie erlitten. Das ist das Ungewöhnliche. Ebenso wie sich die Gegenwehr der Russen entgegen allen Annahmen bis jetzt sehr synchronisiert und fähig dargestellt.

Der Ukraine fehlt es also an geeignetem Gerät, um die russischen Minenfelder und Panzergräben zu überwinden. Gibt es noch weiteren Mangel?

Es fehlt einfach eine Komponente, die für einen derartigen Angriff notwendig ist, und das ist die Domäne Luft. Zum Beispiel mitfliegende Kampfhubschrauber, die den Gegner beim Durchbruchsversuch in seinen Stellungen niederhalten. Wie die amerikanische A-10 oder auf der russischen Seite die SU 25 …

… sogenannte Erdkampfflugzeuge.

Ja. Der Ukraine fehlt einfach dieses Element. Im Gegensatz zum Irakkrieg von 1991 oder 2003, wo die Amerikaner die gegnerischen Stellungen auch durch die Luftüberlegenheit zunächst sturmreif schießen konnten, müssen die Ukrainer von vornherein jede russische Stellung physisch in Besitz nehmen. Zwar mit einer gewissen Artillerieunterstützung, aber ohne vorheriges Luftbombardement. Das macht die Offensive zu einer verlustreichen Sache.

Bleibt zu hoffen, dass die nächsten Vorstöße zum Durchbruch der russischen Linien führen werden.

Die Offensive könnte sich schnell festfressen, wenn ein solcher nicht in den ersten Tagen erreicht wird. So nennt man das bei uns. Mark A. Milley, der amerikanische Generalstabschef, hat das kürzlich gut auf den Punkt gebracht: Wenn die Ukraine nicht rasch an Raum gewinnt, kommt es zu einem Hin und Her. Ich würde sagen, wir befinden uns dann im historischen Vergleich möglicherweise im Jahr 1916, dem elenden Jahr der Offensiven.

Herr Reisner, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Markus Reisner via Telefon
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