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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Hoffnung für die Ukraine Ein Wendepunkt im Krieg?
Die Ukraine büßt Gelände ein, Hunderte Soldaten desertieren. Doch die Entwicklung einer Brigade macht Hoffnung.
Von außen setzt Russland die Ukraine unter Druck, doch auch im Inneren rumort es derzeit gewaltig: Zuletzt mehrten sich Berichte über Fahnenflucht und gleich zwei Brigaden fielen im vergangenen Monat auseinander.
Vor allem die in Frankreich ausgebildete Eliteeinheit "Anna von Kiew" stand dabei in der Kritik. Sie sollte eigentlich als Aushängeschild der ukrainischen Armee dienen, wurde dann aber vor allem für einen Skandal rund um mutmaßliche Deserteure und Ausrüstungsmangel bekannt (t-online berichtete).
Doch nun scheint die Armeeführung das Ruder herumreißen zu wollen. Mehrere Journalisten berichten unabhängig voneinander, dass die Brigade sich auf einem guten Weg hin zur Kampffähigkeit befinde.
Erfahrene Soldaten und Kommandeure fehlen
Damit könnte die 155. Brigade doch noch zum gewünschten Vorbild werden – wenn auch anders als zuvor gedacht. Von ihrem Schicksal könnten andere lernen, wie eine Einheit aus der Krise geholt und wieder einsatzfähig werden kann. Denn die Rekrutierungs- und Materialprobleme betreffen auch andere Einheiten. Hinzu kommt deutliche Kritik am allgemeinen Führungsstil.
So berichteten der ukrainische Sender Hromadske und die US-Zeitung "Forbes" zu Beginn der Woche vom Auseinanderbrechen einer 157. mechanisierten Brigade. Eine Brigade der ukrainischen Armee besteht normalerweise aus rund 2.000 Soldaten. Die Brigaden mit den Nummern 150 bis 158 haben jedoch teils eine mehr als doppelt so große Truppenstärke.
Die Einheit hatte zuvor herbe Verluste erlitten – angeblich in Höhe von rund 40 Prozent der Truppenstärke. Bei den Gefechten an der Front bei Pokrowsk in Donezk sollen manche Soldaten beim bloßen Anblick der Schützengräben desertiert sein. Ein Angehöriger einer der Soldaten berichtete im Anschluss, dass die Einheit kein ausreichendes Training erhalten habe und trotzdem an den hart umkämpften Frontabschnitt geschickt wurde.
Gerade den eilig neu gebildeten Brigaden fehlt es dabei an erfahrenen Soldaten und Kommandeuren. Oberstleutnant Denis Prokopenko, der mit seiner Einheit die Verteidigung von Mariupol im Frühjahr 2022 verantwortete, sagte vor knapp zwei Wochen, dass einigen der jungen Kommandeure grundlegende Kenntnisse fehlten. So wüssten sie teils nicht, wie eine Verteidigungslinie anzulegen sei, wie der Beschuss einer Einheit koordiniert werde oder wie mit knappen Ressourcen für die Einheit umgegangen werden müsse.
Doch auch mit älteren Kommandeuren läuft nicht alles glatt, denn ihr Führungsstil ist noch von der sowjetischen Ausbildung geprägt und steht deshalb in der Kritik. Franz-Stefan Gady vom International Institute for Strategic Studies (IISS) erklärt, dass damals die militärische Entscheidungsgewalt "stark zentralisiert" war und sich Befehlshaber "oft weit entfernt vom Schlachtfeld befunden haben". Das sei heute nicht mehr passend und wenig effizient. Teils verbreite dieses Verhalten auch eine Stimmung der Angst.
Riesiger Personalbedarf
Was also stimmt Beobachter nun so optimistisch, dass es zu einer Trendwende kommen könnte? Der ukrainische Kriegskorrespondent Andriy Tsaplienko teilte nach einem Frontbesuch am Mittwoch folgende Einschätzung zur Brigade "Anna von Kiew" auf Telegramm: "Die Leute kehren in die Brigade zurück." Und weiter: "Es sind Leute, die mobilisiert wurden und nun gelernt haben, mit ihrer neuen Ausrüstung umzugehen … sie haben es geschafft, ihr Einsatzgebiet zu stabilisieren."
Darin klingen bereits zwei wesentliche Punkte an: Zum einen brauchen die Einheiten genug Personal und zum anderen muss dieses entsprechend geschult sein. Damit geht die jüngste Entscheidung von Präsident Wolodymyr Selenskyj einher, zunächst keine neuen Brigaden formen zu wollen, sondern neue Soldaten zunächst in bestehende Einheiten zu integrieren.
Offen ist hingegen noch, wie das Führungsproblem nachhaltig gelöst werden kann. Denn der Einschätzung mehrerer Kriegsjournalisten und Militärblogger zufolge fehlt es vor allem an kompetenten Kräften auf dem Juniorlevel, also Unteroffizieren und Feldwebeln. Allein durch die Größe der ukrainischen Armee mit 800.000 Soldaten und durch die andauernden Verluste an der Front gebe es hier einen konstanten Bedarf.
Oberst: Führungskräfte wachsen nicht auf Bäumen
Seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014 hat die Ukraine versucht, die eigene Armee auf Nato-Standards zu bringen. Das gelingt bisher nur in Teilen. Immer wieder gibt es Skandale um Korruption und Machtmissbrauch durch hochrangige Offiziere. Und während das 199. Trainingszentrum zwar quasi auf Nato-Niveau ausbildet, sind es jährlich nur einige Hundert Unteroffiziere und damit viel zu wenige.
Deshalb gehört es derzeit zur gängigen Praxis in der ukrainischen Armee, dass ein Brigadekommandeur erfahrene Soldaten befördert, während nur wenige Einheiten die Zeit und die Ressourcen aufbringen, um die frisch beförderten Unteroffiziere für ihre neue Aufgabe auszubilden. Auch hochrangige Militärvertreter empfinden diese Situation mittlerweile als problematisch und fordern Veränderung.
Oberst Andriy Biletsky sagte: "Es ist nicht so, dass Leute, die [zur Führung] bereit sind, einfach auf Bäumen wachsen, und man geht hin und pflückt sie und wirft sie dann in Kleinbusse, um sie an die Front zu fahren." Er hält es aber für leicht umsetzbar, junge Soldaten besser für Führungspositionen vorzubereiten, ohne dass es dafür umfassende Reformen braucht.
Ein schnelles, pragmatisches Handeln ist für die Ukraine derzeit besonders wichtig, da sie in den vergangenen Monaten stark in die Defensive geraten ist. Im vergangenen Jahr haben die russischen Truppen 3.600 Quadratkilometer ukrainischen Gebiets besetzt, ein Territorium, fast anderthalbmal so groß wie das Saarland. Nur mit gut geführten, zusammenhaltenden Einheiten hat die Ukraine eine Chance, dem etwas entgegenzusetzen.
- Eigene Recherche
- kyivpost.com: "ANALYSIS: Ukraine’s Attempt to Create Top-Quality Combat Brigades Fast Didn’t Work"
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa