Erwartete Gegenoffensive im Ukraine-Krieg "Das könnte das Machtgefüge im Kreml verändern"
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Während Russland Kiew aus der Luft angreift, kann die ukrainische Armee um Bachmut Putins Truppen zurückdrängen. Hat die große Gegenoffensive bereits begonnen? Ein Überblick.
Die Fronten sind verhärtet, viel Bewegung gibt es derzeit im Ukraine-Krieg nicht. Trotzdem heulten in der Nacht zum Dienstag in Kiew wieder die Sirenen: Luftalarm. Russland griff aus der Luft an, mit Drohnen und Raketen.
Es war der achte Angriff dieser Art auf die ukrainische Hauptstadt im Mai. Das ukrainische Militär will die meisten der russischen Raketen abgefangen haben, es gibt nur vereinzelt Bilder von Bränden in Kiew. Der nächtliche Angriff macht eines klar: Russland möchte die Ukraine militärisch schwächen, bevor Putins Armee wieder in die Defensive gerät.
Die ukrainische Führung bereitet militärisch gerade ihren Gegenangriff vor, um weitere Gebiete ihres Landes von den russischen Truppen zu befreien. Doch auch wenn es momentan noch keine größeren Angriffe auf russische Linien gibt, hat Kiews Offensive bereits begonnen. Denn für die Ukraine geht es zunächst darum, sich genug Nachschub an Waffen und Munition zu sichern und gleichzeitig die russische Versorgung ihrer Truppen zu erschweren.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sammelte bei seiner Europareise zahlreiche Zusagen für weitere Waffenlieferungen aus dem Westen ein, die es der ukrainischen Armee ermöglichen werden, russische Waffendepots und Versorgungslinien aus einer größeren Entfernung zu attackieren. Gleichzeitig hat Russland schon jetzt Versorgungsprobleme, und deshalb blickt Moskau wahrscheinlich immer nervöser auf die drohende Gegenoffensive der Ukraine.
"Die Zeit spielt gegen Putin"
In den letzten Monaten haben sich die Frontverläufe in der Ukraine kaum verschoben. Noch immer gibt es einen Großteil der Kämpfe im Osten des Landes, besonders Bachmut steht hier weiterhin im Fokus. Es ist im Prinzip das Warten auf den großen Sturm.
"Der wesentliche Teil der ukrainischen Offensive ist nicht das Stürmen der russischen Stellungen, sondern das Kappen der russischen Logistik", sagt Christian Mölling, Militärexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, im Gespräch mit t-online. Diese Angriffe auf russische Versorgungslinien laufen bereits. Immer wieder bestätigt auch Russland Sabotageangriffe gegen russische Bahnlinien; ukrainische Quellen veröffentlichen Videos, die Raketenangriffe auf russische Waffendepots zeigen sollen.
Die ukrainische Führung zielt aktuell demnach auf eine Schwächung der russischen Truppen, um die Erfolgschancen ihrer Gegenoffensive zu steigern. "Wenn die russischen Soldaten wissen, dass sie mit ihrer Munition ihre Stellung nur noch wenige Tage halten können, wird das für sie natürlich auch psychologisch zum Problem", meint Mölling.
Demnach wird immer deutlicher, dass die ohnehin schon schwierige Versorgungslage für die russische Armee in der Ukraine auch weiterhin in Kiew und in anderen westlichen Hauptstädten als Achillesferse von Wladimir Putin gesehen wird – und als strategische Schwachstelle Russlands.
Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Er studierte Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften an den Universitäten Duisburg und Warwick und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Zwar kann Russland die Zeit bis zum Beginn der Gegenoffensive nutzen, um seine Verteidigungslinien weiter auszubauen. Dennoch ist Mölling überzeugt: "Die Zeit spielt gegen Putin, denn die russische Armee kann sich offenbar nicht einfach aufmunitionieren", erklärt der Experte. "Die Nervosität in Russland steigt, weil man nicht einschätzen kann, wie schlimm die ukrainische Offensive werden wird. Darüber hinaus geht sich die russische Führung gegenseitig an die Gurgel, und das ist im Sinne der Ukraine."
Kein ukrainischer Angriff auf Bachmut?
In der Tat gab es innerhalb der russischen Militärführung in den vergangenen Monaten immer wieder Konflikte zwischen der Armeeführung und dem Chef der Wagner-Söldnertruppe, Jewgeni Prigoschin, der Versorgungsengpässe beklagte und die militärische Führung offen kritisierte. Auch der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow möchte in der Ukraine mitmischen. Diese internen Machtkämpfe im Schatten des russischen Angriffskrieges schwächen die Militäroperationen – und davon profitiert die Ukraine.
Ein Beispiel dafür ist der Kampf um Bachmut. Die Stadt ist seit dem Spätsommer 2022 schwer umkämpft und nur noch eine Trümmerwüste. Der russischen Armee und den Wagner-Söldnern gelang es bisher nicht, sie komplett zu erobern. Zuletzt hat laut den Darstellungen von Prigoschin die russische Armee die Flanken um die Stadt geräumt, und die russischen Truppen drohen nun, eingekesselt zu werden. Das wäre für den Kreml nach den erbitterten Kämpfen eine herbe Niederlage.
Doch die genauen Hintergründe in den derzeitigen Kämpfen um Bachmut sind unklar. "Die russische Armee hat sich an den Flanken um Bachmut aufgelöst, und die Ukraine konnte in diese Bereiche vorstoßen", so Mölling. "Natürlich möchte Kiew verhindern, dass die eigenen Truppen dort eingeschlossen werden. Aber ich sehe nicht, dass die Ukraine mit großem Aufwand Bachmut befreien möchte."
So habe Bachmut zwar eine große politische und psychologische Bedeutung, auch liefen dort einige Verkehrsknotenpunkte zusammen. Dennoch ist sich der Experte sicher: "Es ist militärisch keine wichtige Stadt. Die Vorbereitung der Offensive ist wichtiger, die muss gelingen."
Diese Parole gibt auch der ukrainische Staatschef Selenskyj aus. Ihm zufolge könne die Ukraine noch in diesem Jahr den Krieg für sich entscheiden. Dafür muss es laut Mölling vor allem Erfolge im Süden des Landes geben: "Wenn die Ukraine in den Süden vorstoßen und die Krim ins Visier nehmen kann, bringt das Putin in Erklärungsnot", sagt er. "Das könnte dann wiederum das Machtgefüge im Kreml verändern."
Putin schickt seine besten Raketen gegen Kiew
Im russischen Angriffskrieg in der Ukraine steht demnach alles im Zeichen der ukrainischen Gegenoffensive. Aus ukrainischer Perspektive ergibt es Sinn, dass sich Präsident Selenskyj dafür im Westen weitere Waffen und Munition sicherte. Deutschland wird weitere Haubitzen und Flugabwehr liefern. Großbritannien unterstützt mit Drohnen und Hunderten "Storm Shadow"- Raketensystemen mit größerer Reichweite.
Vor allem mit den britischen Marschflugkörpern hat die ukrainische Armee nun mehr Optionen, um russische Versorgungslinien aus der Distanz zu attackieren. "Die 'Storm Shadow' ist ein wichtiger Baustein für den Kampf der Ukraine", erklärt Mölling. "Wenn die Briten Hunderte Raketen liefern, müsste Russland enorm viel Aufwand betreiben, um sich dagegen zu wehren."
Die russische Armee versucht dagegen auch, die Ukraine dazu zu zwingen, ihre Munition zu verbrauchen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Angriffe auf Kiew zu werten, denn die Munition für die Iris-T- oder Patriot-Flugabwehrsysteme ist im Vergleich viel teurer als zum Beispiel eine im Iran hergestellte Kamikaze-Drohne. Trotzdem ergeben die russischen Angriffe aus militärischer Sicht nicht unbedingt Sinn, denn Russland soll in der Nacht auch die Hyperschalllrakete "Kinschal" oder andere ballistische Raketen eingesetzt haben.
Dadurch bekommen die Ukraine und der Westen wichtige Daten, wie sie im Ernstfall Putins wichtigste strategische Raketen abfangen können. "Man bekommt den Eindruck, dass die russische Armee keine großen Wahlmöglichkeiten beim Einsatz von Waffen hat", meint Mölling. "Jetzt schießen sie Hyperschallraketen auf Kiew, und das ist ja scheinbar das Beste, was sie im Stall haben."
- Gespräch mit Christian Mölling
- liveuamap.com: Ukraine
- theguardian.com: Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 446 of the invasion (engl.)
- fr.de: Ukraine kämpft erbittert um Bachmut - Russische Brigade zerschlagen
- news.sky.com: Putin launches intense air attack on Kyiv (engl.)
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, May 15, 2023 (engl.)
- Nachrichtenagenturen dpa und afp