Folterkeller in Cherson "Die ganze Nacht hindurch hörten wir Schreie"
Nach dem erzwungenen Rückzug der russischen Armee aus Cherson stoßen Ermittler auf Spuren eines Foltersystems. Augenzeugenberichte offenbaren Schreckliches.
Vor gut einer Woche wurde die Stadt Cherson von der ukrainischen Armee befreit. Monatelang war die Seehafenstadt in der gleichnamigen Oblast von russischen Truppen besetzt. Welchen Schrecken Putins Soldaten mutmaßlich unter den Einwohnern von Cherson verbreiteten, zeigen nun erste Untersuchungen.
Demnach wurden Hunderte Menschen in der Region während der russischen Besatzung festgenommen oder sind verschwunden. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der amerikanischen Yale University, die vom US-Außenministerium gefördert wurde.
Nach den Erkenntnissen der Spezialisten sind vermutlich Dutzende Menschen gefoltert worden. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, sind 226 Festnahmen und Vermisstenanzeigen zwischen März und Oktober dokumentiert.
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"Einfach entsetzlich"
Die ukrainischen Behörden sprechen in einer vorläufigen Bilanz von 11 Folterstätten, 63 Toten mit Folterspuren und mehr als 430 Untersuchungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen. Er habe so etwas bei all seinen Reisen zu "Folterkammern in unterschiedlichen Regionen" des Landes "noch nie zuvor gesehen", sagte der ukrainische Parlamentsbeauftragte für Menschenrechte, Dmytro Lubynez, am Donnerstag in einer Fernsehsendung. Es sei "einfach entsetzlich".
Laut Lubynez wurden die Gefangenen mit elektrischen Stromstößen malträtiert, ihnen wurden mit Metallstangen die Beine gebrochen oder es wurde ein Tod durch Ersticken simuliert – und das alles vor laufenden Kameras. "Die Russen haben alles gefilmt", so Lubynez. Der Menschenrechtsbeauftragte spricht von einer neuen Dimension im Verlauf dieses Krieges: "Das Ausmaß ist erschreckend."
"Die ganze Nacht hindurch hörten wir Schreie"
Einem Team der ARD berichteten Anwohner in der Nähe einer der Folterstätten von den Gräueltaten. "Die ganze Nacht hindurch hörten wir Schreie. Es wurde geprügelt und geschrien, Tag und Nacht. Und dann, irgendwann, wurden zwei Leichen rausgetragen, eingewickelt in Zellophan. Sie haben sie in den Müll geworfen. Am nächsten Tag kam ein Auto und hat den Müll weggebracht."
Solche Aussagen mutmaßlicher Zeugen werden nun von ukrainischen und internationalen Organisationen dokumentiert und geprüft, unter anderem auch von Human Rights Watch. Die bisherigen Untersuchungen weisen dabei darauf hin, dass die begangenen Menschenrechtsverletzungen in den von der russischen Armee besetzten Gebieten keine Einzelfälle waren, sondern mit System geschahen.
Russland weist Vorwürfe von sich
Russland bestreitet hingegen, dass seine Truppen Zivilisten ins Visier nehmen und Gräueltaten begangen haben. In anderen Gebieten, die zuvor von russischen Truppen besetzt waren, wurden jedoch bereits Massengräber gefunden, darunter auch einige mit Leichen von Zivilisten, die Anzeichen von Folter aufwiesen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf den russischen Truppen zudem vor, bei ihrem Rückzug aus Cherson die gesamte Infrastruktur der Stadt zerstört zu haben. Viele Straßen und Gebäude in der vor dem Krieg 290.000 Einwohner zählenden Regionalhauptstadt seien vermint zurückgelassen worden, sagte der ukrainische Innenminister.
Bei der Entschärfung der Bomben seien ukrainische Kampfmittelräumer getötet oder verletzt worden. Russland setzt nach jüngsten Angaben der Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen (ICBL) in der Ukraine mindestens sieben verschiedene Arten der international geächteten Minen ein.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen Reuters, dpa und AFP
- tagesschau.de: "'Ich habe jeden Tag Schreie gehört'"
- Deutschlandfunk