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Ukraine-Krieg: Aufschrei über hohe Verluste setzt Putin unter Druck


Hunderte Tote bei einer Schlacht
Aufschrei über hohe Verluste setzt Kreml unter Druck

Von t-online, mk

Aktualisiert am 08.11.2022Lesedauer: 4 Min.
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Russische Brigade: Diese Truppe zeigte einst ihr Können – jetzt sind viele der Soldaten in der Ukraine gefallen. (Quelle: t-online)

Die hohen Verluste im Ukraine-Krieg lösen in Russland zunehmend Unmut aus. Die Debatte befeuert auch den Machtkampf im Kreml.

Es ist nicht die erste für Russland verlustreiche Schlacht in diesem Krieg, doch die Ereignisse von Pawliwka kann selbst der Kreml nicht einfach aussitzen. Bei Angriffen auf das Dorf im Südosten der Ukraine soll die russische Armee in vier Tagen 300 Soldaten verloren haben. Jetzt setzt ein öffentlich gewordener Beschwerdebrief der betroffenen 155. Marineinfanterie-Brigade die russische Führung zunehmend unter Druck.

"Infolge der 'sorgfältig' geplanten Offensive der 'großen Befehlshaber' zählten wir in vier Tagen etwa 300 Gefallene, Verwundete und Vermisste und verloren 50 Prozent der Ausrüstung. Und das ist nur unsere Brigade", heißt es mit sarkastischem Unterton in dem Brief der Einheit an den Gouverneur ihrer ostrussischen Heimatregion Primorje, Oleg Koschemjako. Diese Aufnahmen einer ukrainischen Drohne sollen zeigen, wie zwei russische Panzer in Pawliwka unter Feuer geraten:

Kreml verschickt seltenes Dementi

Die Autoren des Briefes erheben schwere Vorwürfe gegen ihre Kommandeure Muradow und Achmetow sowie den Chef des russischen Generalsstabs, den Putin-Vertrauten Waleri Gerassimow: "Wieder einmal wurden wir von General Muradow und seinem Waffenbruder Achmetow in unfassbare Angriffe verwickelt, damit Muradow von Gerassimow Prämien erhält und Achmetow zum Helden Russlands wird." Um ihr Versagen zu verheimlichen, würden Muradow und Achmetow Opferzahlen und militärische Berichte fälschen, heißt es.

Der angesprochene Gouverneur Koschemjako reagierte in seinem Telegramkanal abwiegelnd auf die Vorwürfe. Es habe zwar Verluste in Pawliwka gebeben, aber bei Weitem nicht so hoch wie angegeben, schrieb er am Montagmorgen. Doch Koschemjakos Dementi reichte dem Kreml offenbar nicht aus. Am Montagnachmittag veröffentlicht das russische Verteidigungsministerium eine eigene Stellungnahme zu den Vorwürfen über die Propagandaagentur Ria.

"Spannungen werden weiter zunehmen"

"Aufgrund der kompetenten Maßnahmen der Kommandeure der Einheiten übersteigen die Verluste der Marines in diesem Zeitraum nicht ein Prozent des Kampfpersonals und sieben Prozent der Verwundeten, von denen ein erheblicher Teil bereits wieder in den Dienst zurückgekehrt ist", heißt es in der Stellungnahme. Stattdessen seien die eigenen Truppen fünf Kilometer weit hinter ukrainische Linien vorgedrungen: "Die Verluste des Feindes entlang der Kontaktlinie der Brigade betrugen im Durchschnitt sieben zu eins und in einigen Gebieten neun zu eins an Menschen und Ausrüstung." Doch mit den hilflos wirkenden Lügen der russischen Führung ist das Problem Pawliwka nicht aus der Welt.

"Die Debatte über das Versagen der Militärführung hat die Sphäre der Kriegsblogger verlassen und löst zunehmend Bewegung in der russischen Gesellschaft aus", schreibt die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) in ihrem jüngsten Lagebericht zum Ukraine-Krieg. "Seit Beginn der Mobilmachung Ende September beobachtet das ISW immer häufiger, dass sich Mütter und Frauen von Militärangehörigen mit Beschwerden an die Armee, an lokale Behörden oder bekannte Kriegsblogger wenden", heißt es weiter. "Wenn das Verteidigungsministerium es nicht schafft, diese systemischen Missstände und ihre Ursachen anzugehen, werden die gesellschaftlichen Spannungen im Laufe des Krieges weiter zunehmen."

Pawliwka heizt Machtkampf in Moskau an

Tatsächlich häuften sich in den sozialen Medien zuletzt Berichte über katastrophale Verhältnisse bei den russischen Invasionstruppen. Kürzlich mobilisierte Soldaten werden offenbar häufig ohne Vorbereitung, ohne richtige Ausrüstung und Waffen als "Kanonenfutter" gegen ukrainische Stellungen getrieben. Videos dokumentieren nicht nur das Ausbildungsdesaster der russischen Armee, sondern auch den Widerstand einfacher russischer Soldaten gegen ihre Befehlshaber. Die Berichte decken sich mit ukrainischen Angaben, denen zufolge Kiews Truppen zurzeit Hunderte russische Soldaten täglich töteten, häufig offenbar bei vergeblichen Angriffen auf gut befestigte Stellungen wie in Pawliwka.

Der wachsende Unmut über die Kriegsführung der russischen Armee befeuert nun auch den Machtkampf innerhalb der russischen Eliten. Bezeichnenderweise gelangte der Brief der 155. Marineinfanterie-Brigade an Gouverneur Koschemjako erst über den Telegramkanal "Grey Zone" an die Öffentlichkeit. "Grey Zone" wird mutmaßlich von Angehörigen der Söldnertruppe "Wagner" betrieben. Deren Chef, Jewgeni Prigoschin, treibt die russische Militärführung seit Wochen mit harscher Kritik vor sich her, häufig im Gleichklang mit dem Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow, der mit seinen "Kadyrowiten" ebenfalls über eine Privatarmee verfügt.

Prigoschin als "kommender Mann"?

Anfang Oktober nahmen Prigoschin und Kadyrow die russische Niederlage bei Lyman zum Anlass für eine Medienkampagne gegen den damaligen Oberkommandeur in der Ukraine, General Alexander Lapin, dessen Abberufung sie forderten. Kurz darauf ließ der Kreml Lapin fallen und ersetzte ihn durch "General Armageddon" Sergej Surowikin, der sich seinen Beinamen als Kriegsverbrecher in Syrien "verdient" hatte und als Wunschkandidat von Prigoschin und Kadyrow galt. Dem ISW zufolge wollen Prigoschin und Kadyrow mit ihren Attacken vor allem Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Gerassimow schwächen.

Schoigu und Gerassimow sind enge Vertraute von Kremlchef Putin, was sich auch darin zeigt, dass sie über zwei der drei russischen Atomkoffer verfügen. Viele russische Kriegsblogger, die in ihren Telegramkanälen offen Kritik an der Militärführung üben, machen die beiden dagegen verantwortlich für das Kriegsdebakel in der Ukraine. Indem sich Prigoschin und Kadyrow an die Spitze dieser Kritiker stellen, können sie sich als entschlossene Gegenspieler der etablierten Militärführung inszenieren, ohne sich in Opposition zum Kremlchef zu bringen. Der nimmt das Machtstreben Prigoschins und Kadyrows hin, weil er in der Ukraine auf deren Kämpfer angewiesen ist, schreibt das ISW.

Dabei galt auch Prigoschin lange als Vertrauter Putins. Die Aufträge des Kremls bei dessen Cateringfirma brachten Prigoschin den Beinamen "Putins Koch" ein. Jetzt bringt sich der 61-Jährige womöglich in Stellung für höhere Aufgaben. "Russische Journalisten fragen Prigoschin oft nach seinen Ambitionen als künftiger Kremlchef", heißt es im jüngsten ISW-Lagebericht. "Auch wenn Prigoschin solche Ambitionen regelmäßig zurückweist, zeigen die Fragen danach, dass er ein öffentliches Bild von sich als 'kommendem Mann' erzeugt hat. Allein diese Debatte untergräbt das Bild des einzig denkbaren russischen Herrschers, das Wladimir Putin in den vergangenen Jahrzehnten von sich aufgebaut hat."

Verwendete Quellen
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