Warnung vor "Katastrophe" Sprengt Russland jetzt den Staudamm bei Cherson?
Russland gerät bei Cherson massiv unter Druck – und schickt eine beunruhigende Warnung heraus. Die Ukraine befürchtet eine Katastrophe, die Dutzende Orte ausradieren könnte.
Alle Augen auf Cherson: In der russisch besetzten Großstadt in der Südukraine steht eine Entscheidungsschlacht an, die für die Ukraine die Kriegswende bringen könnte. Seit Monaten rücken ukrainische Streitkräfte immer näher an die Stadt heran, an manchen Stellen sind es keine 20 Kilometer mehr. Die Rückeroberung wäre ein militärisches und politisches Desaster für Moskau – und würde Kremlchef Putin weiter in Bedrängnis bringen.
Die ukrainischen Gebietsgewinne zwingen die russische Führung zum Umdenken: Der neue Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine, General Sergej Surowikin, hatte in einem ungewöhnlichen TV-Auftritt Probleme bei der Verteidigung Chersons eingeräumt. Er rechne mit einem heftigen ukrainischen Angriff auf die Stadt und mit "schwierigen Entscheidungen", die er zu treffen habe – ein Hinweis, dass ein russischer Rückzug aus der Stadt zumindest denkbar ist.
Selenskyj: Russland hat Anlage vermint
Doch Anlass zur Beunruhigung gab noch eine andere Bemerkung Surowikins: Angeblich planten ukrainische Streitkräfte, den Kachokwa-Staudamm östlich von Cherson zu sprengen, um eine Überschwemmung auszulösen. Auch der Chef der russischen Besatzungsverwaltung, Wladimir Saldo, wiederholte die Warnung und warf Kiew vor, das dortige Wasserkraftwerk zu beschießen.
Stimmt das? Oder ist es eher so, wie es umgekehrt die ukrainische Regierung darstellt? Die nimmt die Warnungen aus dem russischen Generalstab nicht auf die leichte Schulter – und behauptet ihrerseits, dass Moskau den Damm ins Visier nehme.
"Russland schafft im Süden der Ukraine bewusst den Boden für eine groß angelegte Katastrophe. Wir haben Informationen, dass russische Terroristen den Damm und die Aggregate des Wasserkraftwerks Kachowka vermint haben", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videoansprache beim EU-Gipfel am Donnerstag.
Eine Sprengung der Anlage wäre eine weitere Eskalation im Ukraine-Krieg. Doch welche Folgen hätte es genau für die Menschen in der Region? Warum ist der Damm so wichtig und würde sich Moskau mit der Sprengung nicht ins eigene Fleisch schneiden? t-online gibt den Überblick.
Warum ist der Damm so wichtig?
Der Kachowka-Staudamm liegt rund 60 Kilometer östlich von Cherson und verbindet das linke und rechte Ufer des Dnepr. Das gestaute Flusswasser versorgt das Wasserkraftwerk der ukrainischen Gesellschaft Ukrhidroenerho, das laut eigenen Angaben rund 700 Millionen Kilowattstunden Strom im Jahr produziert, also Strom für rund 200.000 Haushalte. Neben der Energieerzeugung versorgt der Staudamm Teile der Südukraine sowie – über den Nord-Krim-Kanal – die nördlichen Gebiete der Krim mit Wasser. Auch das Atomkraftwerk Saporischschja erhält Kühlwasser aus dem 18 Kubikmeter großen Stausee des Damms.
Der Kampf um die Kontrolle des Kraftwerks ist nicht neu: Kurz nach der Krim-Annexion 2014 hatte die Ukraine die Wasserversorgung der russisch besetzten Halbinsel über den Nord-Krim-Kanal mittels eines eigenen Damms blockiert. Diesen März eroberten russische Truppen in der Cherson-Offensive den Kanal und sprengten den ukrainischen Blockadedamm. Das Wasser konnte wieder in Richtung Krim fließen.
Welches Interesse hat Russland an der Zerstörung des Damms?
Obwohl die Sprengung des Kraftwerks auch die Wasserversorgung der Krim gefährden würde, könnte die russische Armee einen Nutzen daraus ziehen. "Russland hätte dann für sich eine Pufferzone erreicht, damit die Kräfte sich geordnet zurückziehen können und die ukrainische Offensive danach ins Stolpern gerät", erklärt der ukrainische Oberstleutnant a.D. Oleksij Melnyk "ntv.de".
Da die russische Propaganda bereits jetzt vor angeblichen ukrainischen Plänen warnt, könnte Moskau eine Sprengung zudem "propagandistisch ausnutzen". So könnte Putin etwa behaupten, die Ukraine habe ihre eigenen Bürger einer Flut ausgesetzt. "Wir sprechen hier über eine humanitäre und technologische Katastrophe für die gesamte Region", so Melnyk zu dem Sender.
Der ukrainische Journalist Illia Ponomarenko verweist zudem auf die strategische Bedeutung der Wasserkraftanlage: Da der Damm zugleich eine Brücke zwischen den zwei Ufern des Dneprs ist, dient er russischen Streitkräften als mögliche Nachschub-und Rückzugsroute.
Was, wenn der Damm bricht?
Präsident Selenskyj befürchtete in seiner Videoansprache am Donnerstag, dass rund 80 Orte im Gebiet Cherson überflutet werden könnten – inklusive der gleichnamigen Stadt, in der vor Kriegsbeginn 300.000 Menschen lebten. In der "Zone der schnellen Überschwemmung" könnten Hunderttausende Menschen von den Fluten betroffen sein, so Selenskyj.
Eine Karte, die derzeit von russischen Kriegsbloggern über den Messengerdienst Telegram verbreitet wird, zeigt das Ausmaß der möglichen Überschwemmung: Orte nördlich und südlich des Dnepr würden von den Wassermassen erfasst, selbst die Großstadt Cherson verschwindet in der Animation fast vollständig im Blau der Fluten.
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Laut dem Ersteller der Karte würde ein zerstörter Damm eine 4,8 Meter hohe und fünf Kilometer breite Flutwelle zur Folge haben. In nur zwei Stunden hätte das Wasser die Stadt Cherson erreicht, mit womöglich desaströsen Folgen für die Menschen dort.
Die Informationen auf der Karte können nicht verifiziert werden. Klar ist aber: Das Wasser würde sehr wahrscheinlich an beiden Ufern des Dnepr übertreten. Russland würde also auch Tausende Menschen in Gebieten gefährden, die es aktuell noch selbst kontrolliert.
Ist eine Sprengung Russland zuzutrauen?
Die russische Armee hat im Verlauf des Krieges gezielt Wohngebiete beschossen, Zivilisten gefoltert, vergewaltigt und getötet, darüber hinaus Hunderttausende Ukrainer, darunter Kinder, nach Russland zwangsumgesiedelt. Es ist schwer vorstellbar, dass die russische Führung bei einer Kraftwerkssprengung plötzlich moralische Bedenken hätte.
Auch in der vergangenen Woche haben die Kreml-Truppen erneut bewiesen, dass Angriffe auf die kritische Infrastruktur der Ukraine kein Versehen, sondern eine Kriegstaktik sind: Hunderte Raketen und mit Sprengstoff bestückte Drohnen regneten auf ukrainische Städte nieder und zerstörten ein Drittel der Energieversorgung des Landes. Die russische Propaganda lobte hinterher die Angriffe als Versuche, die Ukraine durch "Erfrieren und Aushungern" zum Einlenken zu bewegen.
Auch der Kachokwa-Damm gehört zur kritischen Infrastruktur der Ukraine. Eine Sprengung inklusive der dramatischen Folgen würde also zum Drehbuch der russischen Militärführung passen. Zwar ist das derzeit Spekulation, aber Russland hat schon in der Vergangenheit "False Flag"-Operationen durchgeführt, um sich als Opfer zu stilisieren und seine eigene Aggression zu rechtfertigen. So begründete Kremlchef Wladimir Putin sein militärisches Eingreifen im Donbass seit 2014 oftmals mit einem angeblichen "Genozid" an der dortigen Bevölkerung.
Die russischen "Warnungen" vor einer angeblichen Sprengung durch die Ukraine verheißen also nichts Gutes.
- kyivindependent.com: What would a Ukrainian counter-offensive in Kherson look like? (englisch)
- uhe.gov.ua: Kakhovskaya HPP (ukrainisch)