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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zerstörte Brücken Putins Soldaten stehen vor einem Dilemma
Rund um die strategisch wichtige Stadt Cherson im Süden des Landes konnten die ukrainischen Truppen wichtige Brücken beschädigen. Was bedeutet das?
Auch wenn sich die Fronten im Ukraine-Krieg derzeit kaum verschieben, gibt es aufsehenerregende Entwicklungen: Im erbittert umkämpften Süden des Landes sollen am Wochenende russische Kommandeure ihre Posten am rechten Dnipro-Ufer verlassen und sich auf die linke Seite des Flusses zurückgezogen haben. Geraten die russischen Truppen rund um die strategisch, aber auch symbolisch wichtige Stadt Cherson zunehmend in Bedrängnis? Zuvor hatten ukrainische Artillerieschläge die Nachschubrouten in der Region empfindlich getroffen.
Im Osten hingegen haben russische Angriffe rund um die bedeutsame Industriestadt Donezk in den vergangenen Tagen zugenommen. Gibt es einen Zusammenhang? Ein Überblick über die militärische Situation in der Ukraine, 174 Tage, nachdem Russland seinen Angriffskrieg begonnen hat.
Im Süden: Die russischen Truppen in der Bredouille?
Besonders angespannt ist die Lage im Süden. In der Region Cherson konzentrieren sich derzeit die ukrainischen Bemühungen einer Gegenoffensive. Die strategisch wichtige Region grenzt an die Halbinsel Krim. Sollte es der Ukraine gelingen, Cherson als wichtigen russischen Brückenkopf über den Fluss Dnipro zurückzuerobern, wäre die Versorgung der Krim in Gefahr.
Doch auch symbolisch ist Cherson für Russland von Bedeutung: Seit Beginn der groß angelegten Invasion Ende Februar ist es die einzige Gebietshauptstadt, die erobert werden konnte.
In den vergangenen Wochen gelang es den ukrainischen Truppen, Brücken und Bahnstrecken in der Region zu beschädigen – und damit wichtige russische Nachschubrouten. Am Wochenende sorgten dann neue Berichte für Aufsehen: Russische Kommandeure in der Region sollen sich von ihren Kommandoposten auf der rechten Dnipro-Seite auf die linke Seite des Flusses zurückgezogen haben, so der ukrainische Gouverneur der Region Mykolajiw, Vitaliy Kim. Das berichtete unter anderem die ukrainische Zeitung "The Kyiv Independent". Hier lesen Sie mehr dazu.
Ein Rückzug des russischen Kommandos aus Cherson könnte darauf hindeuten, dass sich bald auch russische Truppen von dort zurückziehen – oder dass Russland einen ukrainischen Gegenangriff mit hohen Verlusten für die eigene Seite erwartet.
So erklärte der ukrainische Regionalabgeordnete Serhij Chlan am Sonntagmorgen: "Russland verlegt seine Kommandozentralen vom rechten ans linke Flussufer, da ihnen klar ist, dass sie im Falle einer Eskalation nicht rechtzeitig evakuiert werden können." Das liege an den beschädigten oder zerstörten Brücken in der Region. "Die einzige Möglichkeit für die Besatzer, den Fluss zu überqueren, sind Pontons in der Nähe der Antoniwski-Brücke", fügte der Politiker hinzu. Diese reichten für den russischen Bedarf jedoch nicht aus.
Auch die britischen Geheimdienste sehen die russische Position in Cherson deutlich geschwächt. Über die zwei Hauptstraßenbrücken könne mutmaßlich keine erhebliche militärische Ausrüstung mehr in die russisch besetzen Gebiete westlich des Flusses transportiert werden, hieß es am Samstag vom britischen Verteidigungsministerium.
Selbst nach weiteren Reparaturen würden die Brücken voraussichtlich eine Schwachstelle des russischen Militärs bleiben. Der Nachschub und die Versorgung für Tausende russische Truppen auf der Westseite des Dnipro sei damit von zwei provisorischen Fährverbindungen abhängig.
Mit der Abriegelung des Flusses sei es für die Ukraine jedoch nicht getan, sagt der Experte Wolfgang Richter im Gespräch mit t-online. Um die angekündigte Gegenoffensive im Süden zu starten, müsste die Ukraine eine Überlegenheit ihrer Kräfte in der Region herstellen und in einer großangelegten Angriffsoperation Kräfte, Bewegung und Feuer aufeinander abstimmen. "Nur so könnte die Ukraine wirklich Raumgewinne erzielen", so der Wissenschaftler von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Artillerieschläge, die nur die Brücken beschädigen konnten, reichten dafür nicht aus. Zwar gelinge der Ukraine die Eroberung einzelner Dörfer, aber man sehe bislang keine großangelegten Vorstöße.
Für eine mögliche Einnahme der Stadt Cherson sieht der Experte zwei Möglichkeiten – mit erheblichen Schwierigkeiten: "Entweder müsste die Ukraine die Stadt einschließen, diesen Ring langfristig aufrechterhalten können und so die dortigen Verteidiger zur Aufgabe zwingen. Oder sie müssten die Stadt mit viel Feuerkraft beschießen, um die Russen zurückzudrängen", so Richter. "Dies würde zur Zerstörung der Stadt führen."
Im Osten: Ein Ablenkungmanöver?
Im Osten des Landes versuchen russische Truppen weiterhin nach der Eroberung der Region Luhansk auch die Nachbarregion Donezk einzunehmen. Im Donbass habe Russland "kolossale Ressourcen" an Artillerie, Personal und Ausrüstung aufgefahren, erklärte der ukrainische Präsident Selenskyj in einer Ansprache am Wochenende.
"In Donezk wird von den russischen Truppen ein großer Aufwand betrieben", sagt auch Experte Richter. Mit einigem Erfolg: "Sie bewegen sich langsam vor, indem sie die lokale Überlegenheit herstellen und viel Feuerkraft auf engem Raum konzentrieren", so der Wissenschaftler.
Laut der renommierten US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) haben Angriffe auf Ortschaften nahe der bedeutsamen Industriestadt Donezk seit vergangenem Donnerstag wieder zugenommen. Zuvor hatte es eigentlich Meldungen gegeben, wonach die russischen Truppen begonnen haben, ihre Reserven aus dem Donbass in den Süden zu verlegen – laut dem ukrainischen Generalstab etwa einige Luftlandeeinheiten.
Das könnte auf einen Wechsel der russischen Strategie hinweisen: "Die russischen Streitkräfte könnten ihre Vorstöße im Nordosten der Oblast Donezk neu priorisieren, um die Aufmerksamkeit von den ukrainischen Gegenoffensiven in der Südukraine abzulenken", schreiben die Experten vom Institute for the Study of War.
Der Donbass
Der Donbass, auch Donezbecken genannt, ist ein großes Steinkohle- und Industriegebiet in der Ostukraine, das an Russland grenzt. Seit April 2014 sind Teile des Donbass Schauplatz des Konflikts zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten. Die von Moskau unterstützten Separatisten riefen in dem Gebiet damals die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk aus. Im Februar 2022 erkannte Kremlchef Wladimir Putin die Gebiete als unabhängig an – kurz vor der Invasion in die Ukraine. International werden die Regionen nicht anerkannt. Im Zuge des Angriffskrieges gilt die Eroberung des Donbass als Putins wichtigstes Kriegsziel.
Die verstärkten Angriffe rund um die Stadt Siversk als auch die Attacken auf Bachmut könnten den Experten zufolge auf den Versuch hinweisen, ukrainische Aufmerksamkeit und Kampfkraft aus dem Süden abzuziehen. Möglicherweise hofften die russischen Streitkräfte den "taktischen", aber auch den "rhetorischen Schwerpunkt" vom Süden weg zu verlagern – und so den Druck auf ihre eigenen Operationen entlang der Südachse zu mindern.
Experte Richter hält es für wahrscheinlich, dass Russland beides versucht: Durch verstärkte Artillerieschläge in Donezk weiter vorzurücken und gleichzeitig Reserven und Material in den Süden zu verlegen. "Dafür hat die russische Seite genügend Ressourcen, aus welchen sie schöpfen kann", sagt der Experte.
So wurden am Wochenende nach russischen Angaben Ziele in Dutzenden Ortschaften in Donezk beschossen. Der ukrainische Generalstab berichtete ebenfalls von massiven Angriffen im Osten – die Situation in dem Gebiet insgesamt sei aber weitgehend unverändert. Ein Versuch des Feindes, die Verteidigungslinie in Richtung der Stadt Slowjansk zu durchbrechen, sei abgewehrt worden, so die Angaben aus Kiew.
Besonders die Lage um den Donezker Vorort Pisky ist ungewiss: Am Wochenende haben russische Streitkräfte erneut die Einnahme erklärt. Die Ukraine widersprach. Es werde dort weiter heftig gekämpft, teilte der ukrainische Generalstab am Samstag mit. "Die Besatzer versuchen, die Verteidigungslinien unserer Truppen in Richtung Olexandropol, Krasnohoriwka, Awdijwka, Marjinka und Pisky zu durchbrechen", hieß es.
Widersprüchliche Angaben gab es auch zur Lage in der Region Charkiw: Präsident Selenskyj berichtete von neuerlichen Angriffen Russlands. Die Verteidigung aber halte. Das russische Verteidigungsministerium teilte hingegen mit, die Ortschaft Udy sei eingenommen worden. Überprüfbar waren die Angaben von unabhängiger Seite nicht.
AKW Saporischschja: eine Feuerpause?
Ungewiss bleibt die Lage zudem am ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja in der südlichen Ukraine: Weltweit wuchsen zuletzt Sorgen um eine drohende Atomkatastrophe, nachdem es Nachrichten über Kämpfe in unmittelbarer Nähe gegeben hatte.
Am Wochenende haben sich die Kriegsparteien erneut den Beschuss der hochsensiblen Anlage vorgeworfen. Russland soll dabei Teile der Pumpstation des Thermalbades und eine Werkstatt für unterirdische Kommunikation beschädigt haben, berichteten die ISW-Experten aus Washington unter Berufung auf den ukrainischen Geheimdienst.
Der ISW-Lagebericht von Sonntag zitiert außerdem ukrainische Regierungsvertreter, denen zufolge ein Mitarbeiter des Kernkraftwerkes durch den Einschlag von sechs russischen Projektilen getötet worden sei. Ein Botschafter der selbsternannten Volksrepublik Luhansk soll in Moskau hingegen von neun ukrainischen Geschossen gesprochen haben, die auf das Kraftwerk abgefeuert worden seien.
Den Experten zufolge gebe es zumindest geolokalisiertes Bildmaterial eines russischen Artilleriegeschützes, das in etwa elf Kilometern Entfernung zum Meiler positioniert sei.
Am Sonntag hatten 42 Staaten und die EU in einer Erklärung den sofortigen Abzug russischer Truppen aus dem besetzten Atomkraftwerk gefordert. "Die Stationierung von russischen Militärs und Waffen in der Atomanlage ist inakzeptabel", hieß es in der Erklärung. Russland verletze die Sicherheitsprinzipien, auf die sich alle Mitgliedsländer der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) verpflichtet hätten.
Die russische Seite reagierte darauf mit der Forderung nach einer Feuerpause: "Die Führung der Vereinten Nationen und der Chefdiplomat der EU sollten nicht über Entmilitarisierung sprechen, sondern über die Einführung einer Feuerpause", sagte Wladimir Rogow, ein Vertreter der russischen Besatzungsbehörden, am Montag der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti.
"Offenbar hat Russland Truppen, Material und Feuerstellungen in die Peripherie des AKW verlegt, worauf die Ukraine regelmäßig mit Feuerschlägen reagiert. Gefechtshandlungen so nahe an den Reaktoren sind brandgefährlich", sagt Experte Richter. "Beide Seiten schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu."
Dass sich Russland auf einen Abzug seiner Truppen vom AKW einlasse, sei jedoch sehr unwahrscheinlich, so Richter. Für denkbar hält er es hingegen, dass tatsächlich eine Feuerpause erreicht werden kann: "Seit Beginn des Krieges haben wir bereits einige kleinere Verhandlungserfolge gesehen: Getreideschiffe können Häfen verlassen, es gab Gefangenenaustausche. Da sich beide Seiten offenbar der Gefahr einer nuklearen Katastrophe bewusst sind, erscheint eine lokale Feuerpause möglich." So könne verhindert werden, dass das AKW-Gelände für Feuerstellungen genutzt wird oder selbst unter Feuer gerät.
- Telefonisches Gespräch mit Wolfgang Richter am 15.8.2022
- Institute for the Study of War: "Russian Offensive Campaign Assessment, August 13" (Englisch)
- Institute for the Study of War: "Russian Offensive Campaign Assessment, August 14" (Englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP