Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Völlig klar, wer Kanzler kann
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Das Problem dieses Bundestagswahlkampfes ist, dass bisher keiner der Spitzenkandidaten die Wählermehrheit überzeugt hat. Das könnte sich mit dem gestrigen Abend geändert haben. Und das ist überraschend. Im ersten Fernsehduell trafen Olaf Scholz (SPD) und Friedrich Merz (CDU/CSU) aufeinander. Der eine will Kanzler bleiben, liegt jedoch in den Umfragen abgeschlagen hinten. Der andere will Kanzler werden, stößt mit seinen Wahlkampfmanövern aber trotz des Umfragevorsprungs viele Bürger vor den Kopf. Scholz gilt vielen als unnahbarer Apparatschik, der krudes Beamtendeutsch spricht. Merz gilt vielen als abgehobener Besserwisser, der heute dies sagt und morgen das.
Kein Wunder, dass die persönlichen Beliebtheitswerte der beiden nicht doll sind. Doch wer daraus schließt, dass nach der Wahl am 23. Februar weder Scholz noch Merz das Zeug zu einem guten Kanzler haben, wurde am Sonntagabend eines Besseren belehrt. Diese Fernsehdebatte war nicht nur quicklebendig, kontrovers und gut moderiert. Sie brachte auch eine Siegererkenntnis hervor. Der Reihe nach.
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Im Umgang miteinander schonten sich die Kontrahenten nicht. Amtsinhaber Scholz wirkte überraschend locker, klar, stellenweise sogar sympathisch. Als Wahlkämpfer zeigt er endlich, was er im Kanzleramt viel zu selten gezeigt hat: dass er leidenschaftlich für seine Überzeugungen streiten und Menschen mitreißen kann. Seine entschiedene Absage an jedwede Taktik im Umgang mit der rechtsextremen AfD ließ keine Fragen offen. Er parierte Angriffe seines Widersachers schlagfertig und zitierte wichtige Zahlen aus dem Kopf, ob bei Abschiebungen, Strommengen oder Arbeitslosen. Er sprach Klartext und prägte starke Sätze ("es hat noch nie schärfere Gesetze gegeben als die, die ich durchgesetzt habe!"), manchmal formulierte er sogar flapsig ("warum soll man so doof sein?"). Da wirkte er tatsächlich wie ein Politiker von nebenan, mit dem man ein Bier trinken kann.
Herausforderer Friedrich Merz brauchte etwas länger, um sich warmzulaufen, stieg dann aber angriffslustig in den Wortkampf ein. Auch er zitierte prägnante Zahlen aus dem Gedächtnis, plädierte vehement für einen Politikwechsel und rechnete schonungslos die Wirtschaftsschwäche, den Kapitalabfluss und die Abwanderung von Unternehmen nach drei Jahren Ampelregierung vor. In seinen stärksten Sätzen warf er seinem Gegner Realitätsverweigerung vor: "Herr Scholz, also bitte, Sie leben nicht in dieser Welt!" war so eine gepfefferte Formulierung, eine andere "Ihre Beschreibung der Wirtschaft hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun!" Merz wirkte scharf, manchmal eine Spur überheblich, aber nicht abgehoben, gelegentlich stieg er auf eine Frotzelei ein. Dann konnten beide sogar schmunzeln. Doch bevor sich der Anflug von Großer Koalition verfestigen konnte, kabbelten sie sich wieder.
Der Schlagabtausch lohnte sich. Bei den zentralen Themen, die das Land beschäftigen, wurden die Unterschiede deutlich: Merz will die deutschen Landesgrenzen abriegeln, Scholz setzt auf eine europäische Lösung. Scholz will höhere Steuern für Gutverdiener, Merz will genau die entlasten, um die Investitionslaune zu heben. Merz will die Schuldenbremse einhalten, Scholz will sie einmalig lockern, um neue Kredite für die Bundeswehr und die Ukraine-Hilfe zu ermöglichen. Scholz will die Mietpreisbremse verlängern, Merz ist skeptisch. Scholz setzt weiter auf Windkraft, Merz will den Bau neuer Kernkraftwerke prüfen. So ging es hin und her: pro und kontra Klimageld, Industrieförderung, Pflegedeckel, Mindestlohn, Bürgergeld, Mehrwertsteuersenkung. Es lohnt sich, die Positionen zu kennen, bevor man seine Wahlentscheidung trifft.
Mein Kollege Julian Alexander Fischer hat die Debatte mitgeschrieben: Sie finden das Protokoll hier.
Unser Reporter Daniel Mützel hat die wichtigsten Momente des Duells analysiert: Seinen Text lesen Sie hier.
Unser Politikchef Christoph Schwennicke hat sich die Frage gestellt, wer denn nun von dem Aufeinandertreffen profitiert: Seinen Kommentar lesen Sie hier.
Und ich? Wieso habe ich oben in der Überschrift über diesem Text behauptet, dass nun völlig klar sei, wer Kanzler kann? Weil genau dies das wichtigste Ergebnis dieses Fernsehduells ist: Sie können es beide, sowohl Olaf Scholz als auch Friedrich Merz. Jeder hat Stärken und Schwächen, aber beide haben das Format, das Land durch die kommenden Herausforderungen zu lotsen. Deshalb kann man als Bürger bei der Wahlentscheidung tatsächlich Sachfragen in den Vordergrund stellen. In einer Zeit, in der in Amerika ein unberechenbarer Narzisst regiert und vielerorts in Europa Extremisten nach der Macht greifen, ist das ein beruhigendes Gefühl. So gesehen war diese Debatte wirklich erfreulich.
Zahlen des Tages
Das Ergebnis der Blitzumfrage durch die Forschungsgruppe Wahlen: 37 Prozent der wahlberechtigten Zuschauer sahen Olaf Scholz als Sieger, 34 Prozent sahen Friedrich Merz vorn, 29 Prozent sahen keinen Unterschied. Scholz kam demnach auch glaubwürdiger rüber (42 Prozent zu 31 Prozent) sowie sympathischer (46 Prozent zu 27 Prozent). Beim Sachverstand unterschieden sich die beiden Kontrahenten aus Sicht der Zuschauer dagegen nicht, beide erhielten 36 Prozent der Stimmen.
Und so sehen es die Leserinnen und Leser von t-online:
Was steht an?
Im Hinblick auf Künstliche Intelligenz schläft die deutsche Politik den Schlaf der Ahnungslosen. In Frankreich ist man weiter: In Paris beginnt heute ein hochkarätig besetztes Gipfeltreffen zu den Chancen und Risiken der KI. Es kommen Staats- und Regierungschefs, Unternehmer, Personen aus der Zivilgesellschaft und Vertreter internationaler Organisationen. Sie loten aus, wie die spannendste und zugleich gefährlichste Technologie aller Zeiten das menschliche Leben verändern wird – von der Arbeit über die Gesundheit bis zu Kriegen.
Ebenfalls in Paris beginnt der Prozess gegen einen tunesischen Terroristen: Er erstach im Jahr 2020 in der Basilika von Nizza drei Menschen und verletzte weitere schwer. Als mögliches Motiv wird die erneute Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen durch das Satiremagazin "Charlie Hebdo" gesehen. Dem Mann droht lebenslange Haft.
Seit Tagen demonstrieren in vielen deutschen Städten Hunderttausende gegen rechte Demokratiefeinde und gegen eine Annäherung zwischen CDU/CSU und AfD. Heute starten 68 zivilgesellschaftliche Organisationen in Berlin die Aktion "Zusammen für Demokratie" im Namen von Vielfalt, sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt.
Mark Zuckerberg besitzt mit Facebook das größte Medium der Welt, behauptet jedoch, die Plattform sei gar kein Medium. Dank dieses Tricks kann er Abermillionen Menschen mit Schund, Lügen und Ablenkungsfirlefanz überschwemmen, was er sich von Werbekonzernen teuer bezahlen lässt. Zugleich macht er journalistischen Medien das Leben schwer, indem er ihre Inhalte flöht. Vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg beginnt heute ein Prozess, der diese Praxis erschweren könnte: Der Facebook-Mutterkonzern Meta klagt in Italien gegen eine Regelung, wonach er einen Ausgleich für die Online-Nutzung von redaktionellen Texten zahlen muss. Die italienischen Richter haben an den EuGH verwiesen. Dieser entscheidet hoffentlich im Interesse der Journalisten.
Zwischen Wirtschaftsflaute, Migrationsstreit, Ukraine-Krieg und Trump-Erschütterung ist der Klimaschutz aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Dabei ist er dringender denn je: Das vergangene Jahr war das wärmste seit Aufzeichnung der Temperaturen, die Brände in Kalifornien und die Dürren in Afrika verdeutlichen den Handlungsdruck. Heute läuft die Frist zur Einreichung von Klimaplänen bei den Vereinten Nationen aus: Gemäß dem Pariser Abkommen müssen alle Staaten erklären, welche konkreten Schritte sie bis 2035 planen. Die meisten Länder reißen die Frist jedoch, darunter auch die EU-Staaten. Sie bummeln weiter vor sich hin. Sind die nationalen Pläne nicht bis November festgezurrt, steht die Weltklimakonferenz in Brasilien auf der Kippe.
Ohrenschmaus
Beim Umgang mit der Klimakrise fällt mir eigentlich nur eines ein. Das aber deutlich.
Lesetipps
Überall in Deutschland prangt das Gesicht von Maral Koohestanian. Im Interview mit meinen Kollegen Tobias Schibilla und Julian Alexander Fischer erklärt die Spitzenkandidatin der Partei Volt, was sie in Deutschland verändern möchte.
CDU und CSU hingegen hoffen, dass es keine der kleinen Parteien ins Parlament schafft. Sonst käme Friedrich Merz als Bundeskanzler nämlich nicht um ein Dreierbündnis herum. Unser Kolumnist Gerhard Spörl erklärt Ihnen, was das bedeuten würde.
Heute findet im Bundestag die Expertenanhörung zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen statt. Die Befürworter fürchten, dass ihr Gesetz an einer Blockade scheitert. Zwei Chancen sehen sie aber noch, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.
Als demokratische Führungsmacht fallen die USA unter Donald Trump aus. Der Politikexperte Timo Lochocki hat einen Ersatz im Sinn: Deutschland. Wie er sich das vorstellt, erklärt er im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.
Die Philadelphia Eagles haben zum zweiten Mal den Super Bowl gewonnen und Titelverteidiger Kansas City Chiefs gedemütigt. Statt als erstes Team zum dritten Mal in Serie das wichtigste Football-Spiel der Welt zu gewinnen, kassierten die Chiefs in New Orleans unter den Augen von US-Präsident Donald Trump ein krachendes 22:40. Meine Kollegen David Digili und Nils Kögler haben das Spektakel in der Nacht begleitet.
Noch spektakulärer als das Spiel fiel nur die Halbzeit-Show aus. Die war dieses Mal hochpolitisch. Mehr darüber lesen Sie hier.
Zum Schluss
Was Markus Söder wohl gestern Abend gemacht hat?
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Wochenstart. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch, von mir lesen Sie am Mittwoch wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.