Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Es geht schnell, rasend schnell
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
lassen Sie uns zu Beginn gleich klare Verhältnisse schaffen: Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Alles scheint in Bewegung, vieles ist beängstigend. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Verführer, Verschwörungsschwurbler und Hetzer sind weltweit auf dem Vormarsch. Auch die Erben der Nationalsozialisten sind auf der politischen Bühne zurück. Auf unseren Handys hat der größte Stammtisch der Geschichte Einzug gehalten: In den (a)sozialen Medien verdrängt Propaganda die Information. All das vollzieht sich in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint. Handelskonflikte kündigen sich an, die Wirtschaft schwächelt, der Wohlstand wackelt, das Klima wird zur Krise. Schlimm, das alles? Durchaus.
Heute allerdings werden wir uns mit Geschehnissen auseinandersetzen, bei denen einem das Klagen über unsere Zeit schnell vergeht. "Schlimm" kann etwas ganz anderes bedeuten als das, was uns gegenwärtig besorgt. Diese Erkenntnis wird uns die Perspektive zurechtrücken und den Blick vielleicht auch schärfen. Zuerst jedoch müssen wir die Patina abkratzen, denn die Dinge, um die es heute geht, sind schon etwas länger her.
An einem Tag im Januar ist es gewesen, als Soldaten einen unheimlichen Ort erreichten. Es war ein abgeschottetes Areal, verborgen vor neugierigen Augen. Die Dörfer der Umgebung lagen menschenleer, ihre Bewohner hatten sie verlassen müssen. Noch bis kurz vor Ankunft der fremden Soldaten hatten Patrouillen ungebetene Gäste aus dem "Interessengebiet" ferngehalten, einer Zone, die sich auf 40 Quadratkilometern um das Zentrum erstreckte. Dort, von Stacheldraht umzäunt, befand sich eine Art Industrielandschaft: Lagerhäuser, Quartiere, Verwaltungstrakte, Produktionsstätten, Gleisanlagen, Hallen. Der ursprüngliche Komplex kasernenartiger Gebäude war mit der Zeit zu einer gewaltigen Anlage mit mehreren Standorten angewachsen.
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Die chemische Industrie war dort vertreten, auch militärische Produkte wurden gefertigt. Andernorts sammelte man gebrauchte Güter zur Weiterverwertung – von Schuhen über Mäntel bis zu Reisegepäck. Manches darunter erscheint befremdlich, zum Beispiel die Anhäufung großer Mengen Haar und Zahngold. Besonderes Augenmerk legte man auf die Optimierung der Abläufe. Das galt vor allem für den eigentlichen Schwerpunkt der Industriezone: die Produktion von Tausenden, Hunderttausenden, am Ende über einer Million toter menschlicher Körper.
Für diesen Ort gibt es andere Bezeichnungen. Sie kennen sie. Ich habe die gewohnten Begriffe bisher vermieden, denn sie schaffen Distanz. Nennt man die Namen Auschwitz und Birkenau oder spricht von Konzentrations- und Vernichtungslagern, kommen einem sofort die bekannten Bilder in den Sinn: ausgemergelte Leichen vor Verbrennungskammern, lebende Skelette in Häftlingskleidung, Wachtürme und Stacheldraht. Eines haben diese Bilder gemein: Sie sind schwarz-weiß. Lange her, weit weg, ihrer Unmittelbarkeit beraubt. Die Gewöhnung stumpft ab. Man kann darüber vergessen, dass das, was bis vor 80 Jahren in Auschwitz geschah, in Farbe stattfand – so plastisch und real, wie Sie sich jetzt gerade vielleicht an einem Tisch oder auf einem Flur, an der Bushaltestelle, im Zug oder in einem Café befinden.
Damals standen Menschen, die das Geschehen genauso direkt erlebten wie wir Heutigen, übermüdet und erschöpft auf einer Rampe. Meist war es dunkel, als die Transporte eintrafen. Grelle Scheinwerfer blendeten, die Leute wussten nicht, wo sie waren und was mit ihnen geschehen würde. Scharfe Kommandos brachten Tempo.
Stellen Sie sich das vor: Nach der langen Fahrt, dicht gedrängt in einem stickigen Güterwaggon, wurde sofort sortiert. Nach Zustand und Geschlecht wären Sie von ihren Lieben getrennt worden. Hätten Sie einen kranken oder schwächlichen Eindruck gemacht, wären sie nicht zu den Baracken geschickt worden. In Auschwitz-Birkenau war es von der Rampe am Zug zum Eingang in die Kammern nur ein kurzer Weg.
Wären Sie in dieser Kolonne gelandet, hätten Sie sich nun vollständig entkleiden müssen. Aufseher hätten Sie Peitschen schwingend mit den anderen Nackten in die Gaskammer getrieben. Zyklon B, das Gas, das in Kanistern von oben hineingeworfen wurde, braucht eine Weile, bis es tötet. Aus den mit Menschen vollgestopften Kammern sei ein summendes Geräusch gedrungen, wie in einem Bienenstock, hat der KZ-Arzt Hans Münch berichtet. Er erzählt auch von dem süßlichen Gestank, der Tag und Nacht über der Gegend lag.
Auf dem Weg zum Untergang der Menschlichkeit hat es eine Reihe von Schlüsselmomenten gegeben, die vor allem eines auszeichnet: dass es schnell ging. Vom Tag, an dem Deutschland noch als eine normale Nation gelten konnte, bis zum Beginn der massenhaften, planmäßigen Auslöschung von Millionen Menschen vergingen gerade einmal acht Jahre. In unserer heutigen Zeitrechnung entspricht das zwei Legislaturperioden. Gleich drei Jahrestage in dieser und der kommenden Woche sind Eckpunkte dieses rasenden Abstiegs.
Als Hitler am 30. Januar 1933 ohne eigene Mehrheit seiner NSDAP an der Spitze einer Koalition zum Reichskanzler ernannt wurde, atmeten Beobachter noch erleichtert auf. Die "New York Times" titelte: "Hitler nimmt Abstand vom Ziel, Diktator zu werden". So ist das also: Die Anfänge kann man sich schönreden. Acht Jahre später – der Krieg war längst angezettelt und der Überfall auf die Sowjetunion hatte begonnen – machten Einsatzgruppen der SS im Osten Jagd auf Menschen jüdischen Glaubens und töteten binnen weniger Monate eine halbe Million von ihnen.
Das System der Massenerschießungen missfiel den Auftraggebern jedoch bald. Vorgesetzte sorgten sich um die seelische Gesundheit ihrer Soldaten, denn manchen setzte das massenhafte, persönliche Töten doch zu. Auch gingen die Erschießungen nach Meinung der Obernazis zu langsam vonstatten. Bürokratisches Gerangel um Zuständigkeiten und unklar geregelte Abläufe bremsten den Massenmord. Ein Jahrestag am vergangenen Montag erinnerte an die Besprechung, die das änderte: Auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 koordinierten sich Vertreter von SS, Ministerien und Ämtern zum Zweck der Vernichtung der europäischen Juden. Aller europäischen Juden.
Das Protokoll der Besprechung schockiert auf unerwartete Weise: nämlich durch seine bürokratische Akribie. Dort geht es um "die organisatorischen, sachlichen und materiellen Belange" des Massenmords und um alle "an diesen Fragen unmittelbar beteiligten Zentralinstanzen im Hinblick auf die Parallelisierung der Linienführung". Feinstes Behördendeutsch und bestialische Barbarei, auch das lernen wir aus der Geschichte, sind kein Widerspruch. Ordnung muss in Deutschland sein.
Nicht nur die bürokratische Sprache ist uns heute noch vertraut. Auch die Botschaft, die vom letzten der Jahrestage ausgeht, gilt für die Gegenwart. Am Montag jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum achtzigsten Mal. Es hatte bis dahin nichts gegeben, was den Horror der Vernichtungsmaschinerie aufgehalten hätte. Kein Widerstand, kein Funke Menschlichkeit konnte sich gegen die Entschlossenheit der nationalsozialistischen Mörder und ihrer vielen, vielen Anhänger durchsetzen. Die Verhaftungen und Deportationen vollzogen sich vor aller Augen. Die nächtlichen Besuche der Gestapo, bei denen die Bewohner verschwanden, waren gefürchtet und bekannt. Doch das Wissen bewirkte nichts. Die Alliierten mussten dem deutschen Terrorregime militärisch ein Ende setzen – erst das stoppte das Morden.
Das heißt etwas für uns Heutige. Der Abstieg von der Normalität zur Entmenschlichung war steil und kurz. Und aus eigener Kraft ging es nicht mehr zurück. Die Formel, die sich daraus ergibt, ist so abgegriffen, wie die Fotos verblichen sind, dennoch ist sie wahr: Wehret den Anfängen! Das gilt noch immer. Nein, wenn man hört, was manche Leute dieser Tage von sich geben, gilt es sogar mehr denn je.
So geht's nicht
Es musste ja so kommen: Die grausame Bluttat von Aschaffenburg, der Doppelmord eines psychisch kranken afghanischen Geflüchteten an einem Kleinkind und einem 41-jährigen Mann, wird zum Wahlkampfthema. Statt endlich gemeinsam eine stringente Zusammenarbeit von Bundes- und Landesbehörden zu schaffen – wie der Messermörder von Solingen hätte auch der Attentäter von Aschaffenburg längst außer Landes sein sollen –, überbieten sich Politiker mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und Forderungen nach Asylrechtsverschärfungen. Klang schon Kanzler Olaf Scholz, der in seiner ersten Reaktion von einer "Terrortat" sprach, ungewohnt schrill, so legen die Parteichefs der Union noch eine Schippe drauf.
Kanzlerkandidat Friedrich Merz fordert "ein faktisches Einreiseverbot" auch für Menschen mit Schutzanspruch, sofern sie nicht über gültige Einreisedokumente verfügen – was wohl Europarecht bräche. Und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder erhebt "null Toleranz, null Kompromiss" zur neuen Leitlinie der Migrationspolitik. Von Humanität ist keine Rede mehr, Asylbewerber werden mit Gewalttätern gleichgesetzt. Die Kollegen der "Süddeutschen Zeitung" haben gerade herausgearbeitet, dass die aktuelle Bayern-Agenda der CSU genauso klingt wie das AfD-Programm zur Bundestagswahl 2021.
Der deutsche Staat muss dringend sein Sicherheits- und Behördenproblem in den Griff bekommen. Abgelehnte Asylbewerber müssen sofort abgeschoben werden. Wer aber aus opportunistischen Gründen die Menschlichkeit preisgibt, sollte besser einen Termin beim Orthopäden machen. Der findet schnell heraus, ob jemandem das Rückgrat fehlt.
U-Haft für den Wunderwuzzi?
Besser spät als nie: Mehr als ein Jahr nach dem Zusammenbruch seines Firmenimperiums ist René Benko in seiner Innsbrucker Villa festgenommen worden. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien wirft dem 47-jährigen Gründer der insolventen Signa-Gruppe vor, Vermögenswerte gegenüber Gläubigern und Behörden verheimlicht zu haben. Weil außerdem Verdunkelungsgefahr und das Risiko neuer Straftaten bestand, erfolgte der Zugriff.
Nach österreichischem Recht muss nun ein Richter innerhalb von 48 Stunden über eine mögliche Untersuchungshaft entscheiden. Gegen den Milliarden-Pleitier, zu dessen Immobilien- und Handelsimperium auch die Kaufhauskette Galeria und die Luxuskaufhäuser der KaDeWe-Gruppe gehörten, laufen zudem Ermittlungen in Italien, Deutschland und Liechtenstein. Die Forderungen der Gläubiger summieren sich auf 2,4 Milliarden Euro.
Ohrenschmaus
Als das Publikum vor 50 Jahren die Kölner Oper betrat, ahnte es nichts von der bevorstehenden Weltsensation. Heute ist die Aufnahme des Konzerts das bisher meistverkaufte Jazz-Soloalbum. Einfach wundervoll.
Zum Schluss
Dieser Tagesanbruch war lang genug, also erspare ich Ihnen die Lesetipps. Das letzte Wort hat unser Mario.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.