Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Das Grauen ist nebenan
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
kennen Sie das? Man kommt aus dem Kino und bringt keinen Ton heraus. Bleibt auch auf dem Heimweg stumm, starrt nur geradeaus. So erging es mir gestern Abend, als ich aus dem Delphi-Palast nahe dem Ku'damm in Berlin trat. Premiere des Films "The Zone of Interest". Viele Schauspieler und andere wichtige Leute waren da, Medienmenschen natürlich auch. Es wird seit Wochen viel geredet über diesen Film, der in drei Wochen bundesweit in den Kinos anläuft. Geredet wurde auch vor Filmbeginn gestern Abend viel: Roter Teppich, Blitzlichtgewitter, Sekt, gelöste Stimmung. Als der Film zu Ende war, redete niemand mehr. Der ganze Saal war mucksmäuschenstill.
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Was sollte man auch noch sagen? Man war fassungslos. Wenige Filme haben eine Wirkung wie dieser. Wie ein Sog zieht er die Zuschauer in die Vergangenheit und konfrontiert sie mit der Unmenschlichkeit, die in jedem Menschen stecken kann. Christian Friedel und Sandra Hüller spielen Rudolf und Hedwig Höß. Er leitete von Mai 1940 bis November 1943 das Konzentrationslager Auschwitz, sie genoss als Familienmatrone an seiner Seite das Leben.
Die Kommandantenvilla stand direkt neben der Lagermauer: großer Garten mit Pool und Rutsche für die Kinder, Gemüsebeete, Dienstmädchen, die wissen, dass sie spuren müssen, wenn sie nicht enden wollen wie ihre Verwandten auf der anderen Seite der Mauer. Von drüben dringt Tag und Nacht Lärm herüber: Befehle, Hundegebell, Schreie, Peitschenhiebe, Schüsse. Die Asche aus den Schornsteinen rieselt auf die Wäsche auf der Leine, das ist misslich, aber lösbar: noch mal waschen, dann zurück zum Angenehmen: Der Papa hat Geburtstag, Party im Garten. "Wir haben alles, was wir wollen, direkt vor unserer Haustür!", schwärmt die Hüller-Hedwig und führt ihre Mutter stolz durch die Blumenpracht. Hundert Meter weiter stehen die Öfen.
Keine einzige Leiche und keine Gewalttat zeigt Filmregisseur Jonathan Glazer in den 100 Minuten. Trotzdem ist der Massenmord die ganze Zeit präsent. Beklemmung ist ein zu kleines Wort für das, was man als Betrachter dieses spießigen Familienporträts an der Pforte zur Hölle empfindet. Man schaut und hört, will verstehen, wie das geht: dass man als Mensch sein kleines Glück sucht, während man Zigtausende in den Tod schickt.
Wer sich nur oberflächlich für Geschichte interessiert, könnte die Story für übertrieben halten. Ist sie nicht. Das Ehepaar Höß war so. Viele SS-Leute waren so. Und noch viel mehr Mitläufer des "Dritten Reichs" waren ebenfalls so. Ganz normale Leute. Sie nahmen die Pelzmäntel und den Schmuck vergaster Frauen, bezogen die Häuser enteigneter Juden, bereicherten sich am millionenfachen Mord. Machten mit, schauten weg oder hielten die Hand auf. Manche auch mal so, mal so.
Vor seiner Hinrichtung hat Rudolph Höß im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ausgesagt. Hat seine Taten genau geschildert. Historiker und Psychologen haben seine Biografie erforscht, weil er als ein Prototyp des nationalsozialistischen Staates galt: kleinbürgerliche Herkunft, Kriegs- und Krisenerlebnisse, autoritärer Charakter, fleißig, aber empathielos, eigentlich ein armseliges Würstchen. Aber in einem brutalen System das perfekte Rädchen, weil er tickte, wie so viele Menschen ticken: Er gehorchte. Der Führer befahl, also machte man. Delegierte die Verantwortung nach oben und wütete nach unten ohne schlechtes Gewissen. Ein anderer Film aus dem Jahr 1977, in dem Götz George den NS-Verbrecher Höß spielte, zeigt, wie der "Reichsführer" Heinrich Himmler seinem Untergebenen den Auftrag zum Massenmord an den Juden erteilt: ein Büro, zwei Uniformierte, bürokratische Sprache, Menschen sind "Einheiten", die "durchgeschleust" werden.
Und der Beauftragte gehorcht, bereut auch später nicht. "Ob diese Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht, darüber konnte ich mir kein Urteil erlauben. Wenn der Führer selbst die Endlösung der Judenfrage befohlen hatte, gab es für einen alten Nationalsozialisten keine Überlegungen, noch weniger für einen SS-Führer", notierte Höß nach dem Krieg in Untersuchungshaft.
Nicht allein Fanatismus und Hass, sondern auch kollektiver Gehorsam war eine Voraussetzung für die nationalsozialistischen Verbrechen. Diese waren singulär, aber das zugrunde liegende Muster hat Deutschland nicht exklusiv. Quer durch die Weltgeschichte ist zu sehen, was Menschen zu Bestien macht: Wenn Extremisten an die Macht gelangen, schalten sie zuerst ihre Gegner aus und erlassen eigene Gesetze. Dann machen sie viele andere Menschen zu Komplizen, indem sie die strikte Befolgung ihrer Gesetze verlangen: Wer mitmacht, wird belohnt; wer sich weigert, bekommt Probleme.
Warum ist das heute wichtig? Weil in einer Zeit, in der Rechtsextremisten in mehreren deutschen Bundesländern zur stärksten politischen Kraft aufsteigen, der Film "The Zone of Interest" gar nicht aktueller sein könnte. Für fünf Oscars ist er nominiert. Egal, wie viele er bekommt: Jeder sollte ihn sehen.
Zitat des Tages
"Niemand hat das Recht zu gehorchen."
Waffenbrüder in Washington
Weil sich in Amerika Demokraten und Republikaner gegenseitig blockieren, ist Deutschland derzeit der größte Waffenlieferant der Ukraine. Um Putins Mörderbanden Einhalt zu gebieten, müssen andere Länder dringend mehr tun, findet man im Kanzleramt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fällt vor allem die Unterstützung Frankreichs, Italiens und Spaniens dürftig aus. Leider wird sich das wohl so schnell nicht ändern. Die Regierungen in Rom und Madrid sind notorisch klamm, und in Paris legt Präsident Emmanuel Macron keinen Wert darauf, sich von Olaf Scholz öffentlich ermahnen zu lassen. Der französische Präsident hält den deutschen Bundeskanzler angeblich für einen Besserwisser – und das will was heißen beim auch nicht gerade bescheidenen Monsieur Macron. Der deutsch-französische Motor in der EU-Außenpolitik stottert nicht nur. Er ist abgewürgt worden.
Statt den Schulterschluss mit Frankreich zu suchen, klammert sich Olaf Scholz an US-Präsident Joe Biden. Ihn allein sieht er in der Lage, deutsche Sicherheitsinteressen zu schützen. Eine riskante Taktik, wenn man bedenkt, dass Donald Trump drauf und dran ist, das Weiße Haus zurückzuerobern. Was der vom Nato-Beistandspakt hält, hat er angeblich schon während seiner ersten Amtszeit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel verraten: Wenn ihr angegriffen werdet, werden wir euch nicht helfen, soll er der Angie zugeraunt haben. Und damals galt Putin noch gar nicht als größte Bedrohung des Friedens in Europa.
So gesehen passt es ins Bild, dass Olaf Scholz heute schon zum dritten Mal seit Amtsantritt nach Washington fliegt. Er will herausfinden, ob Mister Biden verschlungene Wege findet, die Ukrainer doch noch rasch mit Waffen und vor allem Munition zu beliefern – obwohl der US-Kongress das jüngste Hilfspaket auf Trumps Druck gestern abgeschmettert hat. Unser US-Korrespondent Bastian Brauns ist vor Ort und wird auf t-online berichten.
Helau! Alaaf!
Wenn Sie ein Jeck oder Narr sind, gibt es für Sie heute nur eines: rein ins Kostüm, raus ins Getümmel! Mit der Weiberfastnacht beginnt der Straßenkarneval, unsere Regio-Reporter berichten. In Köln empfängt Oberbürgermeisterin Henriette Reker das Dreigestirn, Mainz bleibt Mainz wie es singt und lacht, in Stockach tagt das Narrengericht. Vor dem muss sich Bundesnarr Karl Lauterbach verantworten. Kein Grund, sich um seine Gesundheit zu sorgen.
Ohrenschmaus
Sie können mit Karneval nix anfangen? Vielleicht gefällt Ihnen dann dieser Auftritt: pure Energie.
Leichter abschieben
Viele Migranten gelangen übers Mittelmeer nach Italien. Regierungschefin Giorgia Meloni will das Problem lösen, indem sie die Ankömmlinge nicht mehr aufnimmt, sondern gleich in Aufnahmezentren in Albanien weiterschickt. Dort sollen Asylanträge geprüft und abgelehnte Bewerber schneller abgeschoben werden. Heute stimmt das albanische Parlament darüber ab.
Lesetipps
Wie wurde Naziverbrecher Rudolph Höß nach dem Krieg gefasst? Die Geschichte ähnelt einem Thriller.
Die Junge Alternative ist für die Radikalisierung innerhalb der AfD mitverantwortlich. Innenministerin Faeser sollte die gefährlichen Umtriebe beenden, meint unsere Reporterin Annika Leister.
Wegen der Blockade des US-Kongresses fehlen der Ukraine dringend benötigte Waffen. Nun wächst der Druck auf Deutschland, schreibt mein Kollege Alexander Schreiber.
Ist die deutsche Gasversorgung doch wieder gefährdet? Meine Kollegin Frederike Holewik erklärt Ihnen eine prekäre Entwicklung.
Zum Schluss
Deutsche Protestkultur anno 2024:
Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Daniel Mützel, von mir hören Sie am Samstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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