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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.1.000 Tage Krieg in der Ukraine Fatale Signale an Putin
Nach 1.000 Tagen Krieg existiert die Ukraine dank Joe Bidens Entschlossenheit immer noch. Doch zur gleichen Zeit zögerte er, und das hat Konsequenzen: Geopolitische Spannungen eskalieren, autoritäre Regime erstarken, und die Strategie des Westens gerät ins Wanken.
Bastian Brauns berichtet aus Washington
Als Wladimir Putin seine groß angelegte Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 begann, befürchteten viele im Westen das Schlimmste: Kiew würde innerhalb weniger Tage fallen, eine Moskau loyale Marionettenregierung würde eingesetzt und Europa in das wohl dunkelste Kapitel seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt.
1.000 Tage später haben sich diese düsteren Vorhersagen nicht bewahrheitet. Die Ukraine bleibt, entgegen aller pessimistischen Erwartungen, ein souveräner Staat. Ihre Armee, unterstützt durch den von den USA angeführten Westen, hat von der ersten Stunde an außergewöhnlichen Widerstand geleistet, große Gebiete zurückerobert und die einst gefürchtete russische Armee geradezu gedemütigt.
Und auch die Nato ist Ende 2024 weit davon entfernt, geschwächt zu sein. In Anbetracht der russischen Aggression hat sie sich unter Joe Bidens Führung mit der historischen Aufnahme Finnlands und Schwedens sogar erweitert. Immer mehr Mitgliedsstaaten kommen dem gemeinsam vereinbarten Ziel, 2 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung auszugeben, näher oder erfüllen es bereits. Hinzu kommt, dass der weit überwiegende Teil der Weltgemeinschaft den russischen Angriffskrieg verurteilt. Auch das ist eine Leistung amerikanischer und westlicher Diplomatie.
Doch diese Erfolge verdecken einen der größten Mängel von Präsident Joe Bidens Strategie in der Ukraine. Es ist eine Strategie im Gleichschritt mit den europäischen Alliierten, die zwar stets unumstößlich, pragmatisch und zugleich vorsichtig zu sein schien, die letztlich jedoch darin versagt hat, die demokratische Weltordnung wirklich zu sichern.
Nach 1.000 Tagen Krieg, am Vorabend einer neuen US-Präsidentschaft, scheint die Zukunft der Ukraine und Europas ungewisser denn je zu sein. Seit Jahren wurde vor einem "Pulverfass im Pazifik" gewarnt. Dort, so hieß es, könnte ein Dritter Weltkrieg ausbrechen, wenn China eines nahen Tages womöglich Taiwan angreifen würde. Doch Ende 2024 klopft der Indopazifik in Europa an. Nordkorea kämpft mit rund 10.000 Soldaten an Putins Seite gegen die Ukraine, unsere Werte und das Völkerrecht.
Frühe Erfolge inmitten der Stagnation
Eines ist unbestritten: Joe Bidens frühe Entscheidungen, die Nato zu vereinen, europäische und weitere Verbündete zu mobilisieren und Milliarden an Militärhilfen bereitzustellen, gewährleistete, dass die Ukraine nicht überrannt wurde. Der Westen und insbesondere Deutschland lieferten nach anfänglichem Zögern schließlich fortschrittliche Waffen, Geheimdienstinformationen und verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland.
Diese Bemühungen halten die Ukraine bis zum heutigen Tag im Kampf und haben auch die Glaubwürdigkeit der Nato gestärkt, die in den vergangenen Jahren während der ersten Trump-Präsidentschaft durch interne Konflikte untergraben worden war.
Doch all diese Einheit und Entschlossenheit haben den Krieg bis heute nicht beenden können. Trotz der militärischen Erfolge der Ukraine hat sich der Krieg zu einer breiteren, fast weltweiten geopolitischen Krise ausgeweitet. Das mit Russland und China eng verbündete Nordkorea hat in einer alarmierenden Demonstration autoritärer Solidarität 10.000 Soldaten entsandt, um Russland in seiner Kampagne zu unterstützen. Der Diktator Kim Jong Un soll bereit sein, Putin so viele Truppen zu liefern, wie er für einen Sieg benötigt.
Dazu liefern China und der Iran Drohnen und andere militärische Technologien an Russland. Und große Länder wie Indien, Südafrika und Brasilien – aufstrebende Mächte eines Globalen Südens – weigern sich bis heute, sich klar an die Seite des Westens zu stellen, und üben stattdessen Neutralität, die allerdings vor allem dem Aggressor aus Moskau zugutekommt.
Die Kosten der Zögerlichkeit
Joe Biden war nicht zu allem entschlossen. Von Anfang an waren der US-Präsident und auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz extrem vorsichtig. Das Argument war stets, man wolle eine Eskalation vermeiden. Warnungen vor einem direkten Konflikt mit Russland – einer Nuklearmacht – haben zentrale Entscheidungen von Beginn an stark beeinflusst. Das war bei der frühen Ablehnung einer Flugverbotszone über der Ukraine so oder bei der Zurückhaltung, Panzer zu liefern oder Raketen mit langen Reichweiten bereitzustellen, um Nachschubwege auf russischem Territorium zu treffen.
Himars-Raketen, Leopard- und Abrams-Panzer und schließlich die F-16-Kampfjets – obwohl es für die Lieferung dieser Waffen auch begründete Einwände gab, signalisierten das Zögern Angst und ermutigte Putin, die Grenzen des westlichen Durchhaltevermögens immer wieder auszutesten. Mit dem Ergebnis, dass Joe Biden sich offenkundig wegen der weiteren russisch-nordkoreanischen Eskalation jetzt doch dazu genötigt sieht, die Fesseln der Ukraine zu lösen und den Einsatz von ATACMS-Raketen zu erlauben.
Fast drei Jahre lang bekamen die Menschen in der Ukraine zum Sterben zu viel, aber zum Überleben zu wenig. Das Ergebnis war und ist ein zermürbender Stellungskrieg. Ein früheres und entschlosseneres Eingreifen hätte Moskau möglicherweise zu einem frühen Zeitpunkt an den Verhandlungstisch gezwungen, bevor Putin seine Allianzen mit anderen autoritären Regimen hätte immer weiter vertiefen können. Ende 2024 sehen sich die vermeintlich so geeinten westlichen Staaten aufstrebenden neuen Allianzen gegenüber. Zwar sind sich Länder wie China, Indien, Russland, der Iran oder Südafrika längst nicht in allem einig. Aber die Verbindungen wachsen. Das globale Machtgefüge verschiebt sich.
Der schleichende und scheibchenweise Ansatz zur Unterstützung hat nicht nur die Ukraine den wirtschaftlichen und menschlichen Kosten eines langwierigen Krieges ausgesetzt. Millionen Ukrainer wurden vertrieben, und die Infrastruktur des Landes liegt in Trümmern. Gleichzeitig kämpft insbesondere Europa mit Energieknappheit. Hohe Lebensmittelpreise, Inflation und soziale Unruhe wurden nach der Covid-19-Pandemie durch die Folgen des russischen Krieges weiter angeheizt und verlängert. Es ist möglich, dass diese Gemengelage einen zweiten Sieg Donald Trumps überhaupt erst möglich machte.
Hätte Biden von Anfang an alles riskieren sollen?
Im Nachhinein ist man immer schlauer, aber es lohnt sich zu fragen: Hätte Biden von Anfang an mehr riskieren sollen? Stellen wir uns ein Szenario vor, in dem der Westen eine Flugverbotszone über der Ukraine verhängt, Langstreckenraketen von Beginn an geliefert und sich ohne Zögern zu einer überwältigenden militärischen Unterstützung verpflichtet hätte. Ähnlich wie im Falle flächendeckender iranischer Drohnenangriffe auf Israel hätte der Westen zumindest russische Raketen vom ukrainischen Himmel schießen können.
Dieser Ansatz hätte Risiken mit sich gebracht – die Eskalation mit Russland ist das offensichtlichste Risiko –, aber alleine die glaubhafte Drohung vor dem Einmarsch der Russen hätte den Krieg womöglich verhindern oder zumindest schnell beenden können. Das hätte nicht nur Leben gerettet, sondern auch die massiven geopolitischen Auswirkungen begrenzt. Wladimir Putin hätte an einem Verhandlungstisch Platz nehmen können und man hätte mit ihm über Zugeständnisse bezüglich einer Neutralität der Ukraine beraten können, ohne Territorien hergeben zu müssen.
Aber auch das gehört zur Wahrheit dazu: Europa war vollkommen überrumpelt und alles andere als bereit, zu handeln. Dass Joe Biden mit den USA im Alleingang die Ukraine vor Russland rettet, das hätte er politisch nicht verkaufen können. Bidens Zögern liegt auch in europäischer Unfähigkeit begründet. Wir alle erinnern uns an die Diskussion um die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht und die 5.000 Helme.
Eine Eskalation mit Russland wurde mit dieser vorgeschobenen Vorsicht aber nicht verhindert. Sie findet nur sehr viel schleichender statt. Die geopolitische Weltlage scheint immer unübersichtlicher zu werden. Auch darum wird es wohl zu Verhandlungen kommen, die auch zuungunsten der Ukraine ausfallen können. Denn während dieser Krieg ins vierte Jahr geht, steht für alle noch viel mehr auf dem Spiel als zu seinem Beginn.
Der Westen steht am Scheideweg
Die aktuelle Übergangsphase von einem scheidenden Joe Biden und einem kommenden US-Präsidenten Donald Trump stellt für den Westen damit eine Schicksalsfrage dar. Die weitere Unterstützung der Ukraine ist unerlässlich, ebenso wie eine umfassendere Strategie, um die autoritäre Achse zu bekämpfen, die sich um Russland gebildet hat. Welche Rolle Europa und die USA dabei spielen werden, ist zur Stunde unklar.
Bidens Fähigkeit, eine darüber hinausgehende Strategie zu gestalten, schwindet. Seine Präsidentschaft ist in ihrer Endphase. Donald Trump hat bisher kaum Hinweise darauf gegeben, wie seine Friedenspläne für die Ukraine aussehen könnten. Sein Slogan "Frieden durch Stärke" bleibt jedoch in Bezug auf praktische Implikationen für die Ukraine und Europa undefiniert.
Würde Trump Kiew zu Zugeständnissen drängen und damit seine Souveränität untergraben? Oder wird er doch zu einer harten Haltung gegenüber Russland umschwenken? Klar scheint nur zu sein, dass Europa jetzt noch mehr zur Kasse gebeten wird.
Für den Moment hängt Bidens Vermächtnis, was die Ukraine angeht, in der Schwebe. Seine Bemühungen haben viel erreicht, aber ein entscheidender Sieg oder ein diplomatischer Durchbruch sind ihm nicht gelungen. Nach 1.000 Tagen Krieg in Europa, am Ende der Biden-Ära, steht die globale Ordnung also nach wie vor auf der Kippe.
- Eigene Überlegungen