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Kühnert, Lang, Nouripour: Warum die Rücktritte bei SPD und Grüne?


Tagesanbruch
Brutal bis zum Umfallen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.10.2024 - 08:36 UhrLesedauer: 6 Min.
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Kevin Kühnert und Ricarda Lang im Bundestag (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Kevin Kühnert und Ricarda Lang im Bundestag (Archivbild). (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

harte Jobs gibt es viele. Bauarbeiter ist ein kräftezehrender Beruf, Krankenschwester auch. Koch und Kellner, Notfallärztin, Lehrerin und viele andere sind es ebenfalls. Einer der anstrengendsten Berufe ist Politiker, selbst wenn manche Leute das nicht glauben. Wer ein Amt oder Mandat erringt, wird in der Regel nicht schlecht bezahlt, stimmt schon. Aber was man dafür leisten muss, ist oft brutal. Der gewöhnliche Alltag eines Berufspolitikers liest sich zum Beispiel so:

5 Uhr aufstehen, Medienlektüre, dann das erste Radio-Interview, anschließend Telefonkonferenz mit Parteifreunden.

Vormittags Ausschusssitzungen, Gespräche mit Firmen, Verbänden oder Kabinettsmitgliedern. Aktenstudium und zwischendurch Telefonate. SMS, WhatsApp-Nachrichten und Eilmeldungen kommen im Minutentakt.

Mittagessen? Ein Brötchen auf die Hand muss reichen.

Nachmittags weitere Meetings und dazwischen schnelle Interviews für Fernsehen, Onlinemedien oder Zeitungen. Postings für Facebook, TikTok, X nicht vergessen. Mehr Telefonate, mehr Akten, mehr SMS.

Abends Grußwort bei einem Verein im eigenen Wahlkreis, dann über die Autobahn brettern, um rechtzeitig im Fernsehstudio zu sitzen. Nach der Aufzeichnung Dutzende E-Mails beantworten, weil man tagsüber nicht dazu gekommen ist. Dann noch mehr Akten.

Bettruhe meistens erst weit nach Mitternacht. Und am nächsten Morgen klingelt der Wecker wieder um 5 Uhr.

Wer diesen Knochenjob lange durchhält, verfügt entweder über eine robuste Konstitution oder ist ein begnadeter Multitasker (oder beides). Und braucht obendrein eine dicke Haut. Denn zu all den Aufgaben kommen auch noch die permanente Kritik politischer Gegner und vor allem die Hass-Attacken, die ununterbrochen in den vermeintlich sozialen, in Wahrheit aber asozialen Medien aufbranden.

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Was man da über sich liest, kann den stärksten Kerl mental umhauen. Auch als Journalist muss man allerhand ertragen, aber was Politiker abbekommen, wünscht man seinem ärgsten Feind nicht – erst recht, wenn sie unkonventionelle Ansichten vertreten oder ein auffälliges Aussehen besitzen. Kein Wunder, dass dann manche an Körper oder Seele (oder beidem) erkranken. Kein Wunder auch, wenn mancher Politiker nach jahrelanger Rosskur die Entscheidung fällt, sich das nicht länger anzutun. Erst recht, wenn der erhoffte Erfolg ausbleibt.

Gleich zwei aufstrebende Jungpolitiker haben in den vergangenen Tagen ihren Rücktritt erklärt. Die 30-jährige Ricarda Lang kündigte vor zwei Wochen an, ihr Amt als Parteivorsitzende der Grünen aufzugeben, gemeinsam mit Co-Chef Omid Nouripour. Sie begründete ihren Rückzug mit den schlechten Wahlergebnissen für die Partei bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen. Immer wieder sprach sie in den vergangenen Wochen aber auch darüber, dass die ständigen Anfeindungen ihr zusetzten. Mehrfach wurde sie bei Veranstaltungen beschimpft, bedroht, sogar an der Abreise gehindert.

Gestern hat der 35-jährige Kevin Kühnert angekündigt, sein Amt als SPD-Generalsekretär niederzulegen. Auch für den Bundestag will er im kommenden Jahr nicht mehr kandidieren. "Ich selbst kann im Moment nicht über mich hinauswachsen, weil ich leider nicht gesund bin", schrieb er in einer Stellungnahme. Ein Paukenschlag im politischen Berlin. "Der Rücktritt des SPD-Generals trifft die Genossen ins Mark", schreibt unser Reporter Daniel Mützel. Er berichtet von erschütterten Sozialdemokraten, die keine Ahnung von Kühnerts mentaler Erkrankung hatten. Dass dieser ein Leben im Ausnahmezustand führen musste, lag auch, aber nicht nur an der Spitzenpolitik. Vor wenigen Wochen erzählte er in einem Interview, dass er seinen Lebenspartner geheim hält. Aus Sorge vor gewalttätigen Übergriffen würden sie nur ungern Hand in Hand durch die Stadt gehen: "Wir selber haben immer noch diesen Hintergedanken, uns lieber zweimal umzugucken, lieber die Situation noch mal zu checken." Als prominenter Politiker und Homosexueller ist man im öffentlichen Raum nicht überall sicher: Auch das ist Deutschland. Erschreckend.

Die beiden Rücktritte sind nicht nur menschlich tragisch, sondern auch ein Verlust für die deutsche Politik. Man mag von den politischen Positionen Langs und Kühnerts halten, was man will, man mag sie sympathisch finden oder nicht. Aber dass zwei der talentiertesten und eloquentesten Jungpolitiker ihre Ämter aufgeben (müssen), hat negative Folgen. Die Demokratie lebt davon, dass möglichst viele Bürger sich engagieren, politische Verantwortung übernehmen, um die besten Lösungen für das Gemeinwohl ringen. Leute, die nur rumschimpfen, aber nichts Konstruktives beitragen, gibt es schon genug. Deutschland braucht mehr Anpacker.

Politische Anpacker waren Lang und Kühnert gewiss. Ihren Rückzug könnten junge Menschen nun als Warnung auffassen, lieber nicht in die Politik zu gehen, weil man dort zerrieben wird. Das wäre nicht nur tragisch, sondern auch schädlich. In jedem Fall wirft es einen Schatten auf den Dauererregungsbetrieb, der sich Politik nennt. "Immerzu ist man aufgeregt, es gibt wenig Zeit zum Ausruhen. Wenn Sie ein Politiker sind, dürfen Sie sich keinen Tag und zu keiner Zeit wirklich entspannen", kritisiert der Historiker Yuval Noah Harari heute im Interview mit unserer Redaktion die Mechanismen moderner Gesellschaften. "Aber wenn Sie ständig aktiv sein müssen, führt das in den Zusammenbruch."

Eine Hoffnung allerdings gibt es, und sie wird ausgerechnet von einem Politiker verkörpert, der das glatte Gegenteil von Lang und Kühnert darzustellen scheint: Der CDU-Mann Friedrich Merz stieg im Jahr 2004 mit Ende vierzig aus der Politik aus, weil er im parteiinternen Machtkampf gegen Angela Merkel unterlag. Jahrelang arbeitete er erfolgreich in der Privatwirtschaft, aber dann entschied er sich, zurückzukehren und noch einmal politisch anzupacken. Heute gilt er, von guten Umfragewerten beflügelt, noch vor dem Amtsinhaber Olaf Scholz als aussichtsreichster Kandidat für das Bundeskanzleramt im Herbst kommenden Jahres. Auch für Merz gilt: Seine politischen Ansichten und Pläne mag man goutieren oder nicht, aber sein Engagement ist eine Leistung im Dienst der Demokratie. Zumal er mit seinem ungewöhnlichen Werdegang ein Vorbild abgibt.

So gesehen: Wer weiß, vielleicht treten ja in ein paar Jahren auch Ricarda Lang und Kevin Kühnert den Rückzug vom Rückzug an? Der Demokratie wäre es zu wünschen.


Zitat des Tages

"Der politische Betrieb kann ein hässlicher Raubbau sein. Egal, was einen politisch trennt – wenn es um die Gesundheit geht, wird fast alles zweitrangig."

Die FDP-Politikerin Maries-Agnes Strack-Zimmermann zeigt Mitgefühl mit Kevin Kühnert.


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Volkszählung für Bäume

Wie geht es dem deutschen Wald? Zur Klärung dieser Frage vermessen Inventurtrupps des staatlichen Thünen-Instituts alle zehn Jahre exemplarische Bäume und erheben viele weitere Merkmale. Aus den gesammelten Daten berechnen die Experten statistische Angaben über die Waldfläche, die Vielfalt der Baumarten, den Altersaufbau der Wälder, den Holzvorrat und die Holznutzung. Die Ergebnisse sind vor allem deswegen bedeutsam, weil der Wald als riesiger Kohlenstoffspeicher eine wichtige Rolle beim Klimaschutz spielt – und sein Beitrag auf dem von der Ampelkoalition vorgezeichneten Weg zur Treibhausgasneutralität eingepreist ist.

Wenn Landwirtschaftsminister Cem Özdemir heute die Ergebnisse dieser Volkszählung für Bäume vorstellt, besteht allerdings wenig Grund zum Optimismus: Einem Vorabbericht zufolge kann der Wald zum ersten Mal seit Beginn der Erhebungen keinen Klimaschutzbeitrag als Kohlenstoffsenker mehr leisten. Im Gegenteil: Er ist selbst zu einer Quelle für Treibhausgasemissionen geworden. Ein Grund dafür ist das massive Sterben von Fichten- und Kiefernmonokulturen in den vergangenen Dürre- und Sturmjahren, das bislang nicht ausreichend kompensiert werden konnte. Bevor der Wald uns wieder beim Klimaschutz helfen kann, müssen wir also erst mal dem Wald helfen.


Brisantes Urteil

Die Verteidigung moniert fehlende Beweise und plädiert auf Freispruch, die Staatsanwaltschaft fordert 15 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung: Nach mehr als 30 Verhandlungstagen wird heute am Landgericht Braunschweig das Urteil gegen Christian B. erwartet, der wegen drei Vergewaltigungen und sexuellen Kindesmissbrauchs in zwei Fällen angeklagt ist. Die Taten soll der 47-jährige Deutsche, der derzeit eine Gefängnisstrafe wegen Vergewaltigung einer 72-jährigen Amerikanerin verbüßt, zwischen 2000 und 2017 in Portugal begangen haben.

Internationale Aufmerksamkeit erregt der Prozess aus einem anderen Grund: Christian B. steht auch im Fall der 2007 aus einer portugiesischen Ferienanlage verschwundenen dreijährigen Madeleine "Maddie" McCann unter Mordverdacht. Der bis heute nicht aufgeklärte Fall ist allerdings offiziell nicht Gegenstand des aktuellen Verfahrens. Der Angeklagte selbst äußert sich bisher nicht.


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Durch Künstliche Intelligenz verändert sich die Welt rasant – aber am Ende könnte die Vernichtung der Menschheit stehen, warnt Yuval Noah Harari. Was nun dringend zu tun ist, erklärt der Star-Historiker im Interview mit Marc von Lüpke und mir.


Als Nachfolger von Kevin Kühnert soll Matthias Miersch den Bundestagswahlkampf der SPD leiten. Unser Reporter Daniel Mützel beschreibt, warum das ein kluger Schachzug ist.


Filmpool ist eine der großen deutschen TV-Produktionsfirmen, hat Sendungen wie "Barbara Salesch", "Goodbye Deutschland" und "Auf Streife" herausgebracht. Nun berichten meine Kollegen Steven Sowa und Ricarda Heil von schweren Vorwürfen gegen das Unternehmen.


1.000 Euro Prämie für Langzeitarbeitslose, die endlich wieder arbeiten gehen? Die Idee der Ampelregierung regt viele Menschen auf. Im Interview mit meinem Kollegen Florian Schmidt erklärt der Ökonom Jens Südekum, warum sie trotzdem gut ist – und allen Bürgern Geld spart.


Ohrenschmaus

Heute was Entspanntes gefällig? Bitte sehr!


Zum Schluss

Deutschland im Jahr 2024: Die Bahn ist marode, Autobahnen und Brücken sind kaputt – gehen nun auch noch Versicherungen in die Knie?

Bleiben Sie trotzdem zuversichtlich. Ich wünsche Ihnen einen beschwingten Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Schafbuch.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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