Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Sie nähren einen bitteren Verdacht
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
am Wochenende lauschte ich einer Rede von AfD-Chefin Alice Weidel vor ihrer Basis in Ulm. Sie war nicht besonders engagiert, vor allem angesichts der Tatsache, dass Weidel sich damit für die Spitzenkandidatur in ihrem Heimatverband bewarb. Für AfD-Verhältnisse eine Durchschnittsrede, wie die 45-Jährige sie landauf, landab hält.
Trotzdem riss Weidel ihre Zuhörer an einer Stelle wirklich mit: Als es um Corona ging. "Ihr wurdet angelogen!", rief die AfD-Chefin da und piekste mit ihrem Zeigefinger in die Luft. "Wenn wir in der Regierung sitzen, wird diese ganze Corona-Maßnahmen-Politik aufgearbeitet und die Leute zur Verantwortung gezogen!" Der Saal jubelte, klatschte, "Jawoll!"-Rufe aus vielen Kehlen. Ein kurzer Part nur, ein Einsprengsel – und doch der, der mit Abstand am lautesten gefeiert wurde.
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Warum ich das schreibe? Weil in Berlin gerade eine Art doppelte Verdrängung stattfindet. Viele Politiker wollen, so scheint es, am liebsten gar nicht mehr an die so einschneidende Corona-Zeit erinnert werden. Und ebenso gern verdrängen sie, welch offene Flanke sie damit destruktiven Kräften lassen, Stimmen zu fangen.
Denn nicht nur bei Weidel, sondern bei allen AfD-Politikern gehört Corona seit drei Jahren zum Standardrepertoire so gut wie jeder Rede – weil es hervorragend funktioniert, weil es in vielen Menschen eine Saite zum Klingen bringt. Die anderen Parteien aber reagieren mit einem schwer erträglichen doppelten "Ups": Ach, war da was?
Gerade führt die Ampelregierung dieses "Ups" in Berlin als Tanz auf, der nach diesem Muster funktioniert: Zwei Schritte vor, drei zurück, Ausfallschritt. FDP, SPD wie Grüne beteuern zwar seit einer Weile, dass man die Corona-Politik parlamentarisch aufarbeiten wolle. Eine sich selbst gesetzte Frist aber hat man im September bereits verstreichen lassen. Aus Besprechungen dringen nur spärliche Informationen, die sich unter dem Strich so zusammenfassen lassen: Die Dreierkoalition kommt mal wieder nicht überein, wie sie ihr Vorhaben genau umsetzen soll. Enquete-Kommission? Bürgerrat? Vielleicht beides zusammen? Fragen der Presse dazu, ob die Öffentlichkeit in dieser nur noch kurzen Legislatur überhaupt mit irgendeiner Maßnahme rechnen darf, weicht man am liebsten ganz aus.
Diese Choreografie steht in einem fatalen Missverhältnis zu dem Geist, den die Parteien in der Corona-Zeit beschworen haben. Da sollten alle Bürger an einem Strang ziehen, die eigenen Freiheiten und Rechte hinten anstellen – für das große Ganze, für das Gemeinwohl. Jetzt aber ist das egal, jetzt heißt es simpel egoistisch: So wie wir es wollen – oder eben gar nicht.
Auf diese Weise nähren sie einen bitteren Verdacht: Dass die Parteien nämlich gar nicht wollen, was sie vorgeben zu wollen. Wer gar nicht erst anfängt aufzuklären, muss sich schließlich nie den eigenen Fehlern stellen.
Den tiefen Riss, den die Corona-Politik durch die Gesellschaft gezogen hat, verbreitert die Bundesregierung so derzeit noch, statt ihn zu heilen. Bleibt nur der Hoffnungsschimmer, dass sich das Bündnis auf den letzten Metern noch zusammenreißt: In den nächsten Tagen wollen die drei Parteien erneut zu dem Thema zusammenkommen. Es dürfte die letzte Chance für Aufklärung sein.
Ein Tipp an die Verhandler, um sich vor dem Treffen mit den Partnern in die richtige Stimmung zu schwingen: Vielleicht noch mal die eigenen Reden aus den Jahren 2020 bis 2022 anhören.
Termine des Tages
Trauer und Gedenken: Ein Jahr nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober wird in Veranstaltungen bundesweit der Opfer gedacht. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) besucht in Berlin gemeinsam mit dem Regierendem Bürgermeister Kai Wegner (CDU) einen interreligiösen Gottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Auch in anderen Städten wie Hamburg, München, Stuttgart, Kiel und Lübeck wird es Gedenkzeremonien, Mahnwachen und Demonstrationen geben.
Ein gutes Leben für alle? Die UN-Mitgliedsstaaten hatten sich 2015 auf 17 Ziele geeinigt, die allen Menschen weltweit bis 2030 ein würdevolles Leben ermöglichen und die natürlichen Lebensgrundlagen sichern sollen. Erreicht sind diese Ziele noch lange nicht. Heute eröffnet Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Hamburg eine Nachhaltigkeitskonferenz, auf der 800 Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft darüber diskutieren, wie sich das ändern lässt.
Kriegsherr feiert: Wladimir Putin wird 72 Jahre alt. Wie bereits in der Vergangenheit dürfte der russische Präsident seinen Geburtstag mit Vertretern anderer autoritärer Regime feiern und so zeigen wollen, wie wenig isoliert Russland zumindest in Teilen der Welt ist. Am Dienstag dann startet der Gipfel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in Moskau, zu denen unter anderem Tadschikistan, Belarus, Kasachstan und Kirgistan gehören.
Die DDR feiert Jahrestag
Eine Diktatur feiert den 75. Jahrestag: Die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, wurde am 7. Oktober 1949 gegründet. Zuvor hatten sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs überworfen und sich die Besatzungszonen auseinanderentwickelt. Heute erinnern sich viele mit Milde an sie, einige wünschen sie sich gar zurück.
Bei allen nostalgischen Gefühlen und Erinnerungen an eine vermeintlich heilere Welt sollten aber folgende Fakten nicht vergessen werden: Die DDR mauerte ihre Bürger ein, 3,8 Millionen Menschen flüchteten dennoch. Demonstrationen wurden mit Panzern gestoppt. Mehr als 600.000 Menschen setzte das Regime im Dienste der Staatssicherheit zur Bespitzelung der eigenen Bevölkerung ein. Bis zu 250.000 Menschen saßen Schätzungen zufolge aus politischen Gründen in Haft.
Deswegen gibt es keine offiziellen Feiern zum Gedenken an die DDR am heutigen Tag. Gefeiert wird stattdessen einer der zentralen Tage der friedlichen Revolution, als am 9. Oktober 1989 Zehntausende gegen das Regime auf die Straße gingen. Zum 35. Jahrestag dieses großen Moments wird Kanzler Scholz am Mittwoch in Leipzig sprechen.
Das historische Bild
Kritischer Journalismus ist dem Kremlregime verhasst, Anna Politkowskaja bezahlte ihren Mut 2006 mit dem Leben. Hier lesen Sie mehr.
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Zum Schluss
Koalitions(alb)träume:
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche. Morgen begleitet Florian Harms Sie in den Tag.
Herzlichst
Ihre Annika Leister
Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online
X: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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