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Saudi-Arabien: Die Revolution beginnt in der Wüste


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.

Tagesanbruch
Eine neue Macht tritt auf

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 01.10.2024Lesedauer: 7 Min.
Saudische Jugendliche bei einem Techno-Festival in der Wüste.Vergrößern des Bildes
Saudische Jugendliche bei einem Techno-Festival in der Wüste. (Quelle: Lutz Jäkel)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn Sie so ticken wie viele Medienkonsumenten, dann wünschen Sie sich an einem ganz normalen Dienstagmorgen vermutlich vieles, nur eines nicht: noch mehr schlechte Nachrichten. Der Verdruss über die allerorten erhältlichen Bad News ist mittlerweile schier mit Händen zu greifen, sogar die Wissenschaft beschäftigt sich schon mit dem Phänomen. Zahlreiche Studien haben die "News fatigue", die Nachrichtenmüdigkeit, zum Thema, und immer ist der Befund derselbe: Viele Menschen können das tägliche Stakkato an negativen Neuigkeiten – Krieg hier, Krise da – nicht mehr ertragen und gehen dazu über, gar keine Nachrichten mehr zu konsumieren.

Aus der Sicht eines Chefredakteurs ist das ein alarmierender Befund, weshalb auch wir in der Redaktion von t-online uns Gedanken über unser Programm machen. Angeregt von kritischen Leserzuschriften diskutieren wir darüber, ob manche unserer Artikelüberschriften zu schrill sind, ob die Schlagzeilen auf der Startseite zu viel Tod und Teufel enthalten und ob zwischen Analysen, Interviews und Meinungsbeiträgen zu viele Banalitäten aufblitzen, "24-Jähriger fährt gegen Baum" und dergleichen.

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Der Journalismus im Internet ist nicht nur ein facettenreiches Metier, sondern unterliegt auch eigenen Gesetzmäßigkeiten. Dazu gehört der ständige Versuch, die Aufmerksamkeit der Leser zu erhaschen, die umso flüchtiger ist, mit je mehr Geräten, Bildschirmen und Apps das Publikum hantiert. Relevantes von Überflüssigem zu unterscheiden, den Kern einer Nachricht herauszuschälen und dann auch noch spannend, aber nicht überdreht in Worte zu gießen, das gelingt uns Journalisten mal besser, mal schlechter. Deshalb sind Ihre Rückmeldungen als Leser so wichtig. Und damit endlich zum Kern des heutigen Tagesanbruchs, der 5.000 Kilometer südöstlich von uns liegt. Dort sollten wir nämlich alle miteinander genauer hinschauen.

Saudi-Arabien: Wenn Sie das hören, woran denken Sie dann? Ich tippe mal: bärtige Islamisten, vollverschleierte Frauen, Todesstrafe, Ölreichtum, Mekka und Medina, ganz viel Wüste und dazwischen ein paar kitschige Wolkenkratzer. Vielleicht erinnern Sie sich auch noch an den Journalisten Jamal Khashoggi, den der Kronprinz Mohammed bin Salman zersägen und in Säure auflösen ließ.

Und wissen Sie was? Sie haben recht! All das gab und gibt es in diesem düsteren Königreich. Saudi-Arabien ist einerseits eine mittelalterlich anmutende Diktatur, in der wenige Superreiche sich am Erdölreichtum laben, Männer die Frauen unterdrücken, Regimekritiker eingekerkert, ausgepeitscht oder ermordet werden und überhaupt vieles zum Schlechten bestellt ist. Daran ändert auch nichts, dass die Scheichs in jüngster Zeit versuchen, ihr Image mit astronomischen Gehältern für alternde Fußballer, geschmierten Weltmeisterschaften und überambitionierten Bauprojekten aufzubessern. In der internationalen Politik galt deshalb lange die einfache Regel: Nimm das Öl der Saudis und gib ihnen dafür ein paar Waffen, ansonsten halt dich fern von diesen Hinterwäldlern.

Doch die Dinge entwickeln sich, seit fünf Jahren sogar rasant, deshalb sollte man heute genauer hinschauen. Wenn Sie das getan und ganz genau hingeschaut haben, werden Sie bemerkt haben, dass ich oben "einerseits" geschrieben habe – ein Wort, das zwingend ein zweites nach sich zieht.

Ein Andererseits gibt es in Saudi-Arabien nämlich in jüngster Zeit auch. Und das sieht vollkommen anders aus als das vorgefertigte Bild, das wir uns hierzulande von dem Riesenwüstenland zu machen pflegen. In diesem anderen Saudi-Arabien ist die Religionspolizei ebenso entmachtet worden wie die erzkonservativen Islam-Prediger. In diesem Land dürfen Frauen endlich Auto fahren und gehen immer selbstbewusster ihrer eigenen Wege. In diesem Land setzt der Herrscher Abermilliarden Petrodollars in den Sand, um die klimafreundlichen Städte von morgen zu erschaffen – und es ist durchaus möglich, dass die Sand-Metapher dadurch eine positive Neuprägung erfährt.

Weitgehend unbeachtet von Europa vollzieht Saudi-Arabien eine Wandlung, die man guten Gewissens mit dem abgegriffenen Adjektiv atemberaubend benennen darf. Und wie das so ist bei Entwicklungen, die wir in unserer eurozentrischen Perspektive außer Acht lassen: Wir verpassen da etwas richtig Großes. Wir drohen zu übersehen, dass im Herzen Arabiens eine hochdynamische Gesellschaft und eine neue politische Macht heranwachsen, die in der Welt von morgen nicht nur ein Wörtchen mitreden möchten, sondern diese auch entscheidend prägen können.

Ein paar Zahlen gefällig? Die Erwerbsquote saudischer Frauen ist binnen Kurzem von 19 auf 33 Prozent gestiegen und wächst schneller als in jedem anderen Land der Welt. Der skandalumwitterte, aber bei den meisten Saudis beliebte Herrscher Salman hat erkannt, dass sein Reich in Zeiten schwindender Ölvorkommen und nachhaltiger Energiewende keine Zukunft hat, wenn nicht auch die Frauen zum Bruttoinlandsprodukt beitragen. Allein durch die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen soll das BIP in den kommenden sechs Jahren um 90 Milliarden Dollar wachsen. Das Verschleierungsgebot ist aufgehoben (wird aber von vielen Frauen trotzdem praktiziert), sexuelle Belästigung steht unter harter Strafe. Mittlerweile studieren mehr Frauen als Männer, mehr als 40 Prozent von ihnen machen ihren Abschluss in Naturwissenschaften, Ingenieurswesen und technischen Professionen.

Nicht alles ist gut in diesem außergewöhnlichen Land, vielerorts ringt die Moderne noch mit verknöcherten Traditionen. Aber ziemlich klar ist, in welche Richtung sich Saudi-Arabien bewegt: Der Wüstenstaat will zum neuen Kraftzentrum der südlichen Hemisphäre aufsteigen und nimmt es dabei mit Indien, Brasilien und anderen Übermorgenländern auf.

Das Buch zu diesem tiefgreifenden Wandel und damit das Werk der Stunde hat Nadine Pungs geschrieben: "Frühling in Saudi-Arabien" ist soeben erschienen und porträtiert den überraschend vielschichtigen Staat fernab der Klischees. Monatelang ist die Autorin allein als Frau durchs Land gereist und hat ihre Begegnungen in einen dichten Text mit literarischem Anspruch gegossen. Sie beschreibt die Revolution von oben, die auf den Aufbruch von unten trifft: Der Herrscher will sein Land mit der Brechstange reformieren, die zukunftsbegeisterte Jugend ist ihm trotzdem schon voraus. Man liest und staunt und lernt.

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Warum ich Ihnen heute Morgen so viel über Saudi-Arabien erzähle? Zum einen, weil es in krisengeschüttelten Zeiten guttut, die Klischees im eigenen Kopf zu hinterfragen. Zum anderen, weil die Saudis nicht erst übermorgen, sondern schon heute eine konstruktive Rolle in einem der schlimmsten Konflikte der Gegenwart spielen können. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der palästinensischen Hamas, der libanesischen Hisbollah und dem Iran haben den Nahen Osten an den Abgrund getrieben. Abertausende Tote und Verletzte, zerrüttete Familien, zerstörte Hoffnungen, Hass auch auf den Straßen Europas und über allem das Damoklesschwert eines womöglich bald atomar bewaffneten Iran: Setzt sich diese Entwicklung ungebremst fort, droht nicht nur im östlichen Mittelmeerraum, sondern auch hierzulande Böses. In der vergangenen Nacht hat die israelische Armee eine Bodenoffensive im Südlibanon begonnen. Es handele sich um eine "begrenzte Operation", die sich auf "die Infrastruktur der Hisbollah in der Nähe der Grenze" konzentriere, hieß es – aber der Einmarsch dreht die Gewaltspirale weiter.

Die Europäer haben im Nahen Osten nichts zu melden, die Amerikaner beißen auf Granit – aber eine aufstrebende Macht könnte die Lage womöglich beruhigen: Vor dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 waren die Saudis drauf und dran, einen historischen Pakt mit Israel zu schließen. Trotz des Gaza-Feldzugs und trotz der täglichen Bomben auf den Libanon haben sich die Scheichs bisher nicht von ihrem Ausgleichskurs abbringen lassen – im Gegenteil: Auf diplomatischen Kanälen loten sie weiter die Chancen für einen Waffenstillstand aus. Eine Einheitsfront der Araber gegen Israel gibt es nicht mehr, stattdessen sind viele Araber bereit, den Israelis die Hand zu reichen. Es scheint so, als wäre die Vernunft in diesen Tagen eher in Riad als in Jerusalem zu Hause. Wirklich überraschend, das alles.


Stabwechsel bei der Nato

Jens Stoltenberg hat Großes vollbracht: Er führte die transatlantische Verteidigungsallianz durch die Präsidentschaft des Nato-Verächters Donald Trump, steckte die "Hirntod"-Diagnose des französischen Staatschefs Emmanuel Macron weg und organisierte die Unterstützung der Ukraine gegen den russischen Aggressor Wladimir Putin. In seinen zehn Jahren als Nato-Generalsekretär hat Stoltenberg das Bündnis womöglich vor dem Aus gerettet – und durch den Beitritt Schwedens und Finnlands auch noch gestärkt. Nun endet die Amtszeit des stoischen Norwegers, der ab März 2025 mit der Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz einen bequemeren Job antritt.

Für seinen Nato-Nachfolger Mark Rutte, der heute in Brüssel den Stab übernimmt, bleibt die Lage hingegen herausfordernd: Es gilt weiterhin, die Kriegsdrohungen des Kreml-Diktators zu kontern, und dann ist da ja noch die Möglichkeit eines erneuten Trump-Wahlsiegs im November. Für diesen Fall scheint der ehemalige niederländische Regierungschef gut gerüstet zu sein. Rutte gilt als "Trump-Flüsterer", der den narzisstischen Republikaner zu nehmen weiß und sogar Widerworte wagt: Bei einem Besuch im Weißen Haus 2018 schreckte er nicht davor zurück, dem damaligen US-Präsidenten vor laufenden Kameras zu widersprechen. Ansonsten vertritt er die Ansicht, die Europäer müssten mit jedem US-Präsidenten zusammenarbeiten, "der auf dem Tanzparkett ist". Wahrscheinlich nicht die schlechteste Einstellung für die neue Aufgabe.


Die Hundert sind voll

Das Weiße Haus musste er 1981 nach nur einer Amtszeit für Ronald Reagan räumen: In vielerlei Hinsicht stand Jimmy Carters Präsidentschaft unter keinem guten Stern. In den darauffolgenden Jahrzehnten jedoch entwickelte sich der leidenschaftliche Demokrat zum weltweit geachteten Vermittler; 2002 bekam er den Friedensnobelpreis. Heute befindet sich Carter in häuslicher Palliativpflege, soll aber noch ein großes Ziel verfolgen: seine Stimme für Kamala Harris abzugeben, die Präsidentschaftskandidatin seiner Partei. Heute wird er 100 Jahre alt.


Lesetipps

Im Bundestag steht eine brisante Entscheidung an: Soll das Bundesverfassungsgericht ein Verbot der AfD prüfen? Die Bedenken sind groß – zu Recht, meint meine Kollegin Annika Leister.


Israels Militär ist kurz davor, die Kommandostruktur der Hisbollah zu zerschlagen. Die entscheidenden Hinweise liefern Spitzel, schreibt mein Kollege Julian Alexander Fischer.


Sowohl Olaf Scholz als auch Friedrich Merz glaubt, er könne die nächste Bundestagswahl gewinnen. Dabei haben beide ein Problem, berichtet unserer Chefreporterin Sara Sievert.


Zum Schluss ein Ohrenschmaus

Wie, gleich zwei Rubriken in einer, geht das? Ja, das geht – wenn man das Hörvergnügen weit auslegt.

Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag.

Herzliche Grüße und bis morgen

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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