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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Schlinge zieht sich zu
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Es kann immer mal vorkommen, dass man den falschen Eingang nimmt. Vielleicht auf dem Weg zu einem Schachturnier schnell in die Halle huschen, im Kopf hat man schon Varianten für den Eröffnungszug und einige Endspielstrategien, jetzt an den Tisch und… nanu? Die spielen ja Poker hier!
Von einem falschen Turnier kann man sich elegant verabschieden, aber aus dem, was in der Ukraine zurzeit geschieht, kommt man so leichtfüßig nicht wieder heraus. Denn der Meisterstratege an der Spitze der ukrainischen Streitkräfte, General Syrskyj, mag mit einer Serie geschickter Schachzüge in die Offensive in Kursk gestartet sein und damit auf einen Streich mehr Territorium für sein Land erobert haben, als es Russland im gesamten laufenden Jahr bisher vermocht hätte. Während Putins Handlanger Meter um Meter vorrücken und dabei eine Ortschaft nach der anderen in Asche versinkt, haben Syrskyjs Truppen die Quadratkilometer im Expresstempo eingesammelt. Und das auch noch auf der russischen Seite der Grenze – ein Novum in diesem Krieg. Ein unfassbarer Erfolg für sein attackiertes Land könnte das sein, wenn Großmeister Syrskyj bei einem Schachturnier wäre.
Doch im blutigen Spiel des Krieges ändern sich die Regeln laufend. Oberbefehlshaber Syrskyj findet sich nun beim Poker wieder. Und beim Spiegelfechten: So rege wird über die Absichten der Ukraine spekuliert, dass Kiew die Debatte in seinem Sinne lenken kann. Präsident Selenskyj ließ wissen, die eroberten Gebiete seien ein Faustpfand, das die Ukraine als Verhandlungsmasse bei Friedensverhandlungen einzusetzen gedenke. Daraus kann man vor allem eines schließen: Er möchte, dass wir das glauben. Dass seine wohlgewählten Worte die ukrainischen Absichten zutreffend beschreiben, heißt das noch lange nicht.
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Die neu eroberten Gebiete dauerhaft zu halten und sich dort einzugraben, bis eines Tages Verhandlungen beginnen: Das würde dem ausgedünnten ukrainischen Militär einen Kraftakt abverlangen, der Folgen hat – anderswo. Im Osten der Ukraine sind die Klagen der Soldaten nicht zu überhören. Damit die Offensive in Kursk so erfolgreich verlaufen konnte, hat General Syrskyj besonders kampferfahrene Truppen dorthin verlegt, die jetzt bei der Verteidigung des Donbass' an allen Ecken und Enden fehlen. Schlecht lief es dort schon vorher, doch der russische Dauerangriff hätte sich irgendwann totlaufen können – buchstäblich. Putins vorrückende Truppen gingen über Leichen. Die Verluste der Angreifer waren immens. Das ist noch immer so, aber im Donbass kommen die ukrainischen Verteidiger aus dem Rückwärtsgang nicht mehr heraus. Es fehlt die Munition, es fehlen Leute. Die ukrainischen Soldaten haben keine Atempause, sind erschöpft, und die Schlinge zieht sich zu.
Dem Städtchen Pokrowsk blüht nun dasselbe Schicksal wie Bachmut und Awdijiwka. Die Zivilbevölkerung soll die Stadt eiligst verlassen, in unmittelbarer Nähe wird schon gekämpft. Bald wird auch dort eine Höllenlandschaft zu sehen sein: leere Hüllen ausgebrannter Häuser entlang verwüsteter, menschenleerer Straßen. Wenn die russischen "Befreier" anrücken, sind die Folgen bekannt.
Pokrowsk ist ein Verkehrs- und Logistik-Knotenpunkt, dessen Einnahme durch Russland die ukrainischen Soldaten in eine schwierige Lage bringt. Bis zur Grenze des Donbass haben es die Invasoren dann nicht mehr weit, was Putin einen Propagandaerfolg in Aussicht stellt. Wenn seine Militärs sich etwas wünschen dürften, dann wäre es, dass Präsident Selenskyjs Worte wahr werden und die ukrainischen Truppen möglichst lange in Kursk verweilen, um auf Verhandlungen zu warten. Denn im Donbass kommen die Russen währenddessen kräftig voran.
Jenseits der öffentlichen Bekundungen steht auch eine zweite Interpretation der ukrainischen Ziele im Raum: Der Vormarsch in Kursk, so diese Theorie, hätte die Russen zur Verlegung schlagkräftiger Einheiten zwingen sollen, damit ihrer Offensive im Donbass die Luft ausgeht. Eine Falle also, mit Kursk als Köder – doch Moskaus Militärs beißen nicht an. Es ist für Putin zwar politisch unangenehm, Wehrpflichtige ins Kampfgebiet zu schicken, um die Front zu verstärken, anstatt wie bisher auf Freiwillige zurückzugreifen, die mit üppigem Sold an die Front gelockt werden. Aber zögern tut er deshalb nicht. In Kursk stellt er nun eben mit Wehrpflichtigen verstärkte Einheiten den Ukrainern entgegen sowie Soldaten aus jedem Winkel seines Reichs. Unterm Strich machen Putins Todesschwadronen einfach weiter wie bisher. So bringt der Vormarsch der Russen im Süden die Ukrainer in Bedrängnis.
Auf der anderen Seite wächst das Risiko allerdings ebenfalls: Je großflächiger die ukrainischen Truppen ihre Präsenz in Kursk ausbauen können, desto größer wird der Druck auf Putin, ihn zu stoppen.
So ist der Krieg zu einem Wettlauf geworden. Wer muss zuerst die Notbremse ziehen und seine Offensive abbrechen, um am anderen Ende der Front die Lage zu stabilisieren? General Syrskyj hatte sich seinen Plan gut zurechtgelegt. Er wähnte sich beim Schach. Nun sitzt er beim Poker. Und da kann man alles verlieren.
Sicherheitspaket nach Solingen
Die Aufarbeitung der islamistischen Messermorde von Solingen geht weiter. Sowohl der Landtag von Nordrhein-Westfalen als auch der Innenausschuss des Bundestages kommen heute zu Sondersitzungen zusammen. Die Ampelkoalition hat sich unterdessen auf Pläne zur Verschärfung der Sicherheits- und Asylpolitik geeinigt: Auf Volksfesten, Großveranstaltungen und im Fernverkehr der Bahn soll es ein Messerverbot geben. Auch an "kriminalitätsbelasteten Orten" wie Bahnhöfen sollen die Bundesländer Messer verbieten dürfen. Die Kontrollbefugnisse der Bundespolizei werden ausgeweitet, außerdem sollen Polizeibeamte Taser einsetzen dürfen. Beim Kampf gegen den militanten Islamismus sollen Ermittler Geldströme besser nachverfolgen können. Migranten, für die laut Dublin-Regelung ein anderer europäischer Staat zuständig ist, sollen keine Sozialleistungen mehr erhalten (was gerichtlich umstritten ist). Eine Arbeitsgruppe zwischen Bund und Ländern soll sich Gedanken darüber machen, wie sich Abschiebungen beschleunigen lassen.
Genügt das, um die akute Gefahr islamistischer und psychisch labiler Messertäter zu bannen? Unwahrscheinlich. Das Risiko ist groß, dass die Pläne in den Mühlen des Gesetzgebungsprozesses zerrieben werden. "Die Ampelregierung wandelt auf einem schmalen Grat. Medien und Öffentlichkeit werden wachsam bleiben müssen", kommentiert meine Kollegin Annika Leister.
Eskalation im Westjordanland
Es ist der größte Militäreinsatz im besetzten Westjordanland seit 22 Jahren: Seit Mittwoch geht die israelische Armee in den Städten Dschenin und Tulkarem massiv gegen bewaffnete Palästinenser vor. Medienberichten zufolge setzt sie neben Infanterie auch Drohnen und Scharfschützen ein, zerstört Infrastruktur mit Bulldozern und sperrt Zufahrtswege. Die Zahl der Toten und Verletzten wächst täglich. Während Israel den Einsatz als "Antiterror-Maßnahme" bezeichnet und mit einer gestiegenen Zahl von Anschlägen begründet, wächst international die Kritik: UN-Generalsekretär António Guterres fordert die "sofortige Einstellung dieser Operationen", der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bringt Sanktionen gegen israelische Regierungsmitglieder ins Gespräch. Heute wollen sich auch die EU-Verteidigungsminister in Brüssel mit der Eskalation befassen.
Die Sommerbilanz
Bei den aktuellen Temperaturen mag man es kaum glauben, aber aus meteorologischer Sicht beginnt am Sonntag bereits der Herbst. Dementsprechend veröffentlicht der Deutsche Wetterdienst heute seine Bilanz des Sommers 2024. Eine erste Einschätzung liegt bereits vor: "Trotz des abwechslungsreichen Wetters wird er am Ende wohl in den Top 10 der wärmsten Sommer seit Aufzeichnungsbeginn landen", sagt ein Meteorologe. Über ein paar heiße Spätsommertage mag man sich freuen, aber der rasante Anstieg der Durchschnittstemperatur ist eine Katastrophe.
Ohrenschmaus
Gestern lang gefeiert. War toll. Der liebe Mensch, dem ich es zu verdanken habe, mag diese Band sehr gern.
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Freitag.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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