Tagesanbruch Was der Kanzler vom Bundestrainer lernen kann
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ich bin ein grundfideler Mensch, aber langsam beginne ich mir Sorgen zu machen: Immer mehr Menschen, denen ich begegne, laufen mit schattigem Gemüt umher, von Sorgen und düsteren Vorahnungen geplagt, bedrückt, frustriert oder gar verzweifelt. Mal sind es individuelle Schwierigkeiten, mal Schicksalsschläge, aber hinzukommt die wachsende Wahrnehmung, Staat und Gesellschaft gerieten aus den Fugen: Wohin man auch schaut, überall Probleme und Krisen, und niemand da, der uns aus dem Schlamassel zieht. "Nichts hält mehr", dichtete einst das Komiker-Duo "Badesalz", und weil die beiden Hessen stets den Nagel auf den Kopf treffen und hessisch so ein wunderbarer Dialekt ist, genügten ihnen 25 Sekunden, um dieses verbreitete Lebensgefühl zu parodieren: Alles geht den Bach runter, sogar der Staubsauger.
Nun hat Deutschland heute sicher größere Probleme als kaputte Staubsauger. Aber ein wenig übertrieben klingt er schon, dieser Chor, der einem aus Kneipengesprächen, Talkshows und den Medien entgegen dröhnt: Alles Mist hier, und im Zweifel ist die Ampel schuld!
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Ganz falsch ist diese Diagnose wohl nicht, aber sicherlich auch nicht ganz richtig. Trotz der schärfsten Sicherheitskrise in Europa seit 80 Jahren, trotz Wirtschaftsflaute und gesellschaftlicher Polarisierung kann man hierzulande doch immer noch sehr angenehm leben. All die superdringenden Reformen mögen nicht schnell genug vorankommen, aber Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.
Nur das mit der Ampel, das ist tatsächlich ein wachsendes Problem. Jedenfalls kenne ich zwischen Duisburg und Dresden niemanden, der dieses Regierungsbündnis immer noch für eine dufte Truppe hält. Das mag zu einem großen Teil daran liegen, dass liberale, grüne und sozialdemokratische Vorstellungen partout nicht zueinanderpassen (und zum Teil sicher auch an handwerklichen Fehlern). Doch als größtes Manko entpuppt sich immer stärker der Kanzler. Der Eindruck drängt sich auf, dass Olaf Scholz nur noch einen echten Fan hat: den Mann, den er morgens im Spiegel sieht. Die Liste der Vorwürfe an den Regierungschef ist lang, jedenfalls wenn man den notorisch Bescheid wissenden Leitartiklern der Hauptstadtmedien glaubt. Demzufolge erklärt der Kanzler seine Entscheidungen nicht verständlich und weigert sich überdies, von anderen Leuten zu lernen. Überhaupt wirkt er überheblich, während er sich von Lindner, Mützenich und all den anderen Plagegeistern auf der Nase herumtanzen lässt. Er hat wegen der Cum-Ex-Sache möglicherweise Dreck am Stecken, und bei Emotionen weiß er gar nicht, was das ist. Nein, es ist kein schönes Bild, das da gezeichnet wird. Ich will in dieser Angelegenheit von nationaler Tragweite kein abschließendes Urteil fällen, aber einen Gedanken, eine Beobachtung und eine Ermutigung möchte ich loswerden.
Der Gedanke ist am einfachsten, weil kurz: Wenn so viele Leute denselben Eindruck von der öffentlichen Figur Olaf Scholz haben, muss da wohl etwas dran sein. Dann genügt es eben nicht, wenn der Kanzler sich selbst für einen bärenstarken Macher hält, dann muss er sich vielmehr darum bemühen, mehr Bürger von seinem Kurs zu überzeugen. Andernfalls setzt es Wahlklatschen, und zwar verdient. Siehe die mickrigen 13,9 Prozentchen bei der Europawahl – und bei den ostdeutschen Landtagswahlen in zweieinhalb Monaten könnte es noch viel schlimmer kommen. In Sachsen steht die SPD aktuell bei 6 Prozent.
Der nächste Punkt, die Beobachtung, ist ebenfalls schnell erzählt, aber diese spricht eher für den Kanzler: Im vertraulichen Gespräch kann man nämlich einen ganz anderen Olaf Scholz erleben. Muss er nicht fürchten, dass seine Sätze auf TikTok, Facebook und den anderen Dumpfbackenplattformen durch den Kakao gezogen werden, kann dieser Mann tatsächlich Klartext reden. Dann ist es sogar ein Vergnügen, ihm zuzuhören, wenn er seine Sicht auf Deutschland, die Welt und sogar die Krisen-Ampel darlegt. Leider sind solche Momente seltene Lichtblicke, die wenigen Spitzenpolitikern und noch weniger Journalisten vorbehalten sind. Definitiv zu wenig für Millionen Bürger mit krisengeplagtem Gemüt.
Womit wir drittens bei dem Vergleich sind und damit endlich beim Fußball, der sich von allen Weltanschauungen bekanntlich am besten für Vergleiche eignet. Da bekommt die Nation nämlich gegenwärtig vorgeführt, wie ein wirklich starker Anführer auftritt, ein echter "Leader". Die Rede ist natürlich von Julian Nagelsmann, dem Bundestrainer, der heute Abend im zweiten Gruppenspiel der Europameisterschaft mit seinem Team gegen die Ungarn antreten muss. Dieser Typ ist ein hervorragender Kommunikator – sowohl in der Spielerkabine als auch auf Pressekonferenzen, wie gestern Nachmittag wieder zu vernehmen war: Er redet so klar, dass ihn sogar Zeitgenossen verstehen, die vom Fußball nur mitbekommen, dass da zwei Rudel Jungmillionäre zwischen zwei Kästchen hin und her wuseln. Nagelsmann kann aber noch viel mehr: Komplexe Situationen vermag er blitzschnell zu analysieren und darauf zu reagieren; wenn nötig, ändert er seine Taktik in einem Spiel gleich mehrfach. Er hat die Nationalmannschaft aus ihrer tiefen Depression gerettet und motiviert das Team wie vor ihm nur Jürgen Klinsmann, dessen Hypnosekünste noch heute in Management-Seminaren gepriesen werden. Er setzt auf Emotionen – mal aufrüttelnde Gardinenpredigten, mal beruhigende Zwiegespräche.
Auch Julian Nagelsmann war kein geborener Anführer, im Gegenteil: In Interviews hat er erzählt, wie er sich die Führungsqualifikationen nach und nach aneignete, indem er seine Schwächen erkannte und daran arbeitete, sie auszugleichen. Seine Arroganz ließ er sich von einem Pferde-Coach abtrainieren. Kurz gesagt: Er weiß, dass man in Spitzenpositionen nur dann Erfolg hat, wenn man ein Teamplayer ist, wenn man den Kontakt mit Menschen mag und wenn man beständig an sich arbeitet. Welten liegen zwischen diesem Führungsstil und dem des maulfaulen Eigenbrötlers im Kanzleramt.
Nun wird man von Olaf Scholz schwerlich verlangen können, dass er sich in den Pferdestall begibt, um seine kommunikativen Defizite zu beheben. Aber irgendetwas muss er sich schleunigst einfallen lassen, wenn er tatsächlich länger als nur eine Legislaturperiode regieren will. Sonst hält seine Koalition bald wirklich nichts mehr zusammen.
Klare Kante zeigen
Der ewige Ampelstreit lähmt die Regierungspolitik, die Haushaltsverhandlungen arten zur offenen Feldschlacht aus. Was kann Olaf Scholz tun? In der "Süddeutschen Zeitung" las ich diese Empfehlung:
"Eigentlich müsste der Kanzler sagen: Vergesst den Koalitionsvertrag. Denn diese Koalition ist nur durch eine Art Reset zu retten, eine Konzentration auf ein paar Kernprojekte. Sonst droht gerade der SPD ein fortgesetztes Siechtum, und das könnte die AfD noch stärker machen. Dazu müssten freilich alle drei Parteien über jeweils eigene Schatten springen. Die SPD müsste einsehen, dass auch beim Sozialen durchaus eingespart und mehr von den Bürgern gefordert werden kann. Die FDP sollte sich von ihrem Dogma in Sachen Schulden lösen. Eine Haushaltsnotlage könnte sich durch die enormen Herausforderungen bei der äußeren und inneren Sicherheit begründen lassen. So könnte Spielraum für notwendige Milliardeninvestitionen entstehen, auch für mehr Wachstum, für mehr Wohnungen, bessere Bildung – alles auch SPD-Versprechen. Und die Grünen müssten sich beim Thema Migration bewegen."
Klingt eigentlich gar nicht so schwer.
Auf nach Asien
Nicht nur der Kanzler, auch sein Vize hat viel zu tun: Wirtschaftsminister Robert Habeck bricht zu einer Ostasien-Reise auf. Erstes Ziel ist Südkorea, wo es um die Wirtschaftsbeziehungen geht. Deutschland exportiert vor allem Autos und Autoteile dorthin, Südkorea liefert Kommunikationstechnologie. Auch über Klimaschutz und Energiepolitik will Habeck reden, bevor er nach China weiterreist.
Im Namen der Opfer
Bis heute werfen die Verbrechen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" ihre Schatten auf deutsche Städte. In Erfurt wird heute ein Erinnerungsort für die Opfer der Terrorgruppe eröffnet, die zwischen 2000 und 2007 neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordete. Die drei Täter stammten aus Thüringen und hatten sich in der Neonazi-Szene radikalisiert. Das Mahnmal heißt "Schattenwurf" und besteht aus sechs Torbögen, die mehrere Stahlstreifen tragen. Aus zehn dieser Streifen sind die Namen der NSU-Opfer herausgeschnitten worden.
Ohrenschmaus
In den vergangenen Wochen machte Mannheim keine guten Schlagzeilen. Heute schon: 6.000 Kinder aus Süddeutschland singen gemeinsam in einem riesigen Chor. Das Projekt "6K United!" soll Schüler fürs gemeinsame Singen begeistern. Klingt richtig stark.
Die zweite EM-Runde
Und das sind die heutigen Spiele bei der Fußball-Europameisterschaft: Um 15 Uhr kickt in Hamburg Kroatien gegen Albanien, um 18 Uhr in Stuttgart Deutschland gegen Ungarn, um 21 Uhr in Köln Schottland gegen die Schweiz. Unsere EM-Reporter Noah Platschko und William Laing werden vor und nach den Spielen über alles Wissenswerte berichten.
Lesetipps
Wie kann es eigentlich sein, dass der Kanzler nach dem brutalen Islamistenmord in Mannheim einfach zur Tagesordnung übergeht? Unser Kolumnist Uwe Vorkötter entlarvt die Apathie der Regierung.
Spionage, Terror, Gewalt: Die Gefahren im Inland steigen. Die Bundesregierung aber blockiert sich selbst, meint meine Kollegin Annika Leister.
Immer offensichtlicher unterstützt China den russischen Kriegsfürsten Putin. Wie weit wird Xi Jinping noch gehen? Unser Außenpolitikredakteur Patrick Diekmann gibt Ihnen Einblicke.
Zum Schluss
Alles klar im Kanzleramt.
Ich wünsche Ihnen einen gut orientierten Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von unserer Reporterin Annika Leister.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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