Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Harmlos ist das ganz und gar nicht
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
was ist echt und was ist Schein? Diese Frage stellt sich nicht nur beim Gebrauchtwagenkauf. Verbirgt sich unter der glänzenden Lackschicht eine böse Überraschung – oder entspricht der Glanz auf der Oberfläche ebenso famosen inneren Werten? Man würde das gerne wissen und nicht gutgläubig einer geschickten Verkaufsmasche auf den Leim gehen. Damit beschäftigen wir uns heute. Um Autos geht es allerdings nicht.
Die echten Ultrarechten und ihre weichgespülten Zwillinge sind in Europa auf dem Vormarsch. Das haben wir seit der Europawahl schriftlich. In großen Teilen der Europäischen Union haben sich die Gewichte nach rechts verschoben. Gefestigte Demokratien haben Schlagseite bekommen. Wie groß ist die Gefahr?
Erste Eindrücke können wir in Bella Italia sammeln, denn dort sind die Rechten schon länger am Ruder: Seit zwei Jahren regiert Giorgia Meloni. Sie stützt sich auf eine Koalition, die ihre eigene, als "postfaschistisch" bezeichnete Partei "Brüder Italiens" mit noch viel übleren Gesellen eingegangen ist – insbesondere mit dem Niemand-ist-rechtsextremer-als-wir-Wahlverein des Windbeutels, pardon, stellvertretenden Ministerpräsidenten Matteo Salvini.
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Die Dame an der Spitze kann mit einem Lebenslauf aufwarten, der zum Fürchten ist: In ihrem Werdegang ist viel faschistisch und nichts davon "post". Mussolini sei ein guter Politiker gewesen, plauderte sie als junge Aktivistin in eine Fernsehkamera. Die Symbole der Faschisten begleiteten sie, rechtsextreme Bezüge finden sich im Logo ihrer Partei. Italiens Mitgliedschaft in der EU wollte sie neu verhandeln, die Beteiligung am Euro auch. Mehr Sprengstoff an den Fundamenten des europäischen Projekts kann man kaum zusammentragen. Dann übernahm Meloni 2022 die Amtsgeschäfte und es geschah: nichts. Die Botschaft aus Rom sieht also eindeutig aus: Trifft das Parteigetöse auf die harte Realität des Regierens, ist es mit den markigen Sprüchen vorbei. Im Amt scheinen die rechten Schreckgespenster zumindest in Italien gar nicht so schlimm zu sein.
Auch nebenan in Frankreich greifen die Rechten nach der Macht. Sie haben bei der Europawahl triumphiert, nun stehen noch in diesem Monat Neuwahlen des Parlaments auf dem Programm. Aus dem Rennen könnte ein rechtspopulistischer Premierminister hervorgehen. Parteichefin Marine Le Pen will in der Mitte der Gesellschaft abräumen und gibt sich so Mainstream-tauglich wie möglich: Die ehemalige Radikale zähmt sich selbst. Den Großteil ihrer politischen Karriere hat Madame damit zugebracht, ihre Partei vom Image des vorigen Parteivorsitzenden zu befreien, nämlich ihres Vaters, der sich als strammer Nazi positionierte. Die Tochter räumte auf: Personal, Tonlage, sogar den Namen der Partei hat sie ausgetauscht. Bei Wählern kommt die Entnazifizierung gut an.
Stellen wir also die Gretchenfrage: Können die Rechten regieren, ohne dass gleich die Welt untergeht? Oder ist der geläuterte Kurs nur Schein und irgendwann fallen die Masken?
Der Übergang der Macht auf die Postfaschisten in Italien hat sich als Nicht-Ereignis erwiesen. Jedenfalls sind in Brüssel alle erleichtert, dass die Katastrophe ausgeblieben ist. Meloni gibt sich umgänglich, damit die Milliarden aus den EU-Töpfen pünktlich überwiesen werden und Brüssel kooperativ bleibt. Sie ist dabei, sich als Brückenbauerin zwischen den etablierten Konservativen und den gestärkten Ultrarechten in der EU unentbehrlich zu machen. Also nach außen hui.
Doch zu Hause in Italien ist ein großangelegter Umbau angelaufen: Die Premierministerin hat das Staatsfernsehen mit ihren eigenen Leuten durchsetzt und die Programmgestalter an die Leine gelegt, strikt nach dem Drehbuch einer populistischen Machtübernahme. Ebenfalls nach Lehrbuch läuft die Attacke auf die unabhängige Justiz: Um Richter und Staatsanwälte zu diskreditieren, sollen sie demnächst per Psycho-Test nachweisen müssen, dass sie im Oberstübchen noch alle beieinander haben. Zugleich ist das Mega-Projekt einer Verfassungsreform in Arbeit, die die Macht des Parlaments und des Präsidenten beschneidet und die Fäden stattdessen bei Premierministerin Meloni zusammenlaufen lässt. Harmlos ist das alles ganz und gar nicht.
Gefährlicheres verbirgt sich hinter dem zahmen Auftreten von Kollegin Le Pen in Frankreich: Schon immer wollte die Nationalistin, ebenso wie einst Meloni, die EU auf den Müllhaufen der Geschichte schicken. Doch an der Macht unterscheidet sich der Spielraum der beiden Power-Frauen. Meloni positioniert sich nun pro-EU, wie es sich für die Chefin eines Nehmerstaats massiver Finanzhilfe gehört. Sie will von den europäischen Institutionen profitieren.
Le Pen dagegen will die Institutionen aushöhlen. Die Idee des Ausstiegs aus der EU hat die Taktikerin zwar fallengelassen: Zum Frexit sagt die scheinbar geläuterte Madame nein. Ausstieg aus dem Euro: auch nein. All das kann sie ihren Fans seit dem Brexit-Desaster der Briten nicht mehr schmackhaft machen. Doch sollte Le Pen zum Zuge kommen, plant sie, das Rechtsgefüge der Gemeinschaft in seinem Kern zu attackieren. Die Verfassung Frankreichs solle über dem Regelwerk der EU stehen, verlangt sie. Dabei ist die EU exakt dieses Regelwerk. Le Pen will also die Union aushebeln. Ein "Europa der Nationalstaaten" statt einer Gemeinschaft: Das ist ihr Programm.
Als Premierminister in spe hat Le Pen den charismatischen Parteichef Jordan Bardella auserkoren, der ihr radikales Programm nach einem Wahlsieg durchsetzen soll. Le Pen ist, anders als Meloni, mit Putin eng verbandelt gewesen – persönlich wie finanziell – und nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nur gezwungenermaßen auf Abstand zu Moskau gegangen. So viel ist sicher: Ihre Abgeordneten würden der Unterstützung für die Ukraine nach Kräften Steine in den Weg legen. Auch ein gemeinsamer Mega-Geldtopf zur Verteidigung Europas hätte nach einem Wahlsieg Le Pens keine Chance mehr auf eine Ratifizierung im französischen Parlament.
Damit steht fest: Italien ist mitnichten eine Blaupause. Die beiden Damen an der Spitze der europäischen Rechten verfolgen nicht dieselben Ziele, oder besser gesagt: Zwischenziele. Meloni nützt es, sich nach außen zahm zu geben – nicht aus Überzeugung für das europäische Projekt, sondern als Taktik und wohl auf Zeit. Le Pen kann sich das freundliche Getue sparen und auf der Welle der EU-Kritik weitersurfen.
Ob die Rechten an der Regierung gar nicht so schlimm sind? Die Gretchenfrage lässt sich am Ende klar beantworten: Der Schein trügt. Meloni geht ohne harmlose Maske nicht aus dem Haus – aber nur, solange es notwendig ist. Le Pen hat sich den Schafspelz sowieso nur locker umgehängt. Das sollte jeder wissen, der ein geeintes Europa für die Grundlage von Frieden und Wohlstand hält.
Schöner Schein
Apropos Italien: Das ist und bleibt trotz der politischen Turbulenzen natürlich das schönste Land der Welt – zumindest dort, wo es echt ist. Das Luxus-Resort Borgo Egnazia in Apulien ist es eher nicht. Zwar könnte man es fast für eine italienische Kleinstadt halten: heller Tuffstein, verwinkelte Gassen, traditionelle Piazza. In Wahrheit handelt es sich jedoch um ein Potemkin'sches Dorf, das auf dem Gelände eines ehemaligen Militärflugplatzes aus dem Boden gestampft wurde und abgeschottet von der Außenwelt den Reichen und Schönen für Festivitäten dient. Ausgerechnet dieses Retortenidyll hat Frau Meloni als Gastgeberin zum Austragungsort des heute beginnenden G7-Gipfels der führenden Industrienationen USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und Japan erkoren. Schöner Schein: Das passt eben zu dieser Regierungschefin. Hier will sie sich im erlauchten Kreis der "Grande Sette" als starke Anführerin inszenieren. Als Gäste werden der Papst und der ukrainische Präsident Selenskyj erwartet.
Und damit zur Agenda der dreitägigen Zusammenkunft: Auch wenn sich die Gipfelstaaten bezüglich der Stationierung westlicher Militärausbilder und Berater in der Ukraine uneinig sind (Frankreich und Großbritannien plädieren dafür, Deutschland, die USA und Italien dagegen), wird es darum gehen, ein starkes Zeichen der ungebrochenen Unterstützung für Kiew in Richtung Moskau zu senden. So haben sich die G7 darauf geeinigt, der Ukraine weitere 50 Milliarden US-Dollar zu geben. Das Geld soll als gemeinsamer Kredit aufgenommen werden, der sich mit Zinserträgen aus eingefrorenem russischem Staatsvermögen finanzieren lässt. Außerdem will US-Präsident Joe Biden dem von Luftangriffen geschundenen Land offenbar ein weiteres Patriot-Flugabwehrsystem liefern. Gut so!
Zwei neue Ampelgesetze
Das deutsche Postgesetz stammt aus dem Jahr 1998 – einer Zeit, in der Online-Handel ein Fremdwort und Briefeschreiben eine gängige Kommunikationsform war. Beides hat sich geändert, weshalb sich die Ampelkoalition auf eine Reform verständigt hat: Die Arbeitsbedingungen von Paketboten sollen verbessert werden, und die Post bekommt mehr Zeit für die Briefzustellung. Musste sie bisher 80 Prozent der eingeworfenen Briefe am nächsten Werktag zustellen und 95 Prozent am übernächsten, soll letzterer Pflichtwert nun erst am dritten Tag nach dem Einwurf gelten. So kann das Unternehmen Kosten senken und durch Verzicht auf die inländische Briefbeförderung per Flugzeug zum Klimaschutz beitragen. Heute stimmt der Bundestag über die Änderungen ab.
Außerdem entscheidet das Parlament über die lange umstrittene Bafög-Novelle. Demnach soll der "Grundbedarf" für Studenten zum Wintersemester von 452 auf 475 Euro steigen, die Wohnpauschale für diejenigen, die nicht mehr bei ihren Eltern leben, von 360 auf 380 Euro. Studienanfänger aus ärmeren Haushalten werden künftig mit einer Starthilfe von 1.000 Euro unterstützt. Auch hier meine ich: Gut so! Ohne Bafög jedenfalls wäre aus einem wie mir vielleicht nie ein tagesanbrechender Redakteur geworden.
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Russland greift massiv die ukrainische Energieinfrastruktur an. Bald könnte das "Worst-Case-Szenario" eintreten, berichtet mein Kollege Simon Cleven.
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Bundestrainer Julian Nagelsmann hat sich unmissverständlich zur Debatte um Nationalelftorwart Manuel Neuer geäußert. Unser Kolumnist Christoph Schwennicke erhebt Einspruch.
Ohrenschmaus
Neues Lied entdeckt. Für gut befunden.
Zum Schluss
Die Bundeswehr bekommt ungeahnte Möglichkeiten.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von David Digili.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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