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Angst als Wahlentscheidung für die AfD: "Demokratie ist nie sicher"


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Angst als Wahlentscheidung
"Großartig, wenn Katastrophen auftreten"

InterviewVon Simone Rafael

Aktualisiert am 12.06.2024Lesedauer: 6 Min.
EU-Wahl-Gewinner ohne Antworten. Alice Weidel, AfD-Parteivorsitzende und Tino Chrupalla, AfD-Bundesvorsitzender.Vergrößern des Bildes
EU-Wahl-Gewinner ohne Antworten. Alice Weidel, AfD-Parteivorsitzende, und Tino Chrupalla, AfD-Bundesvorsitzender. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)
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Viele Menschen geben in Nachwahlbefragungen an, aus Angst für die AfD gestimmt zu haben. Die hat aber gar keine Lösungen. Warum sie trotzdem gewählt wird, erklärt Konfliktforscher Professor Andreas Zick.

Die Europawahl hat gezeigt: Die Menschen in Deutschland haben mehrheitlich für konservative bis rechtsextreme Positionen gestimmt. Viele Wähler geben in Nachwahlbefragungen an, dass Angst sie dazu motiviert habe. Sie haben Angst vor steigender Kriminalität, Migration, Muslimen oder Veränderungen, aber auch vor der Klimakrise und um den Frieden in Europa. Politische Polarisierung gefährdet allerdings Frieden mehr, als dass sie ihn sichert, sagt Andreas Zick. Der Soziologieprofessor vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld forscht seit Jahren zu der Frage, welche Dynamiken die Gesellschaft verändern, vereinen und trennen.

t-online: Viele wählten bei der Europawahl in Deutschland konservative oder sogar rechtsextreme Parteien. Liegt das wirklich an der viel beschworenen Angst?

Andreas Zick: In Krisenzeiten gibt es bei Wahlen oft einen Hang zum Konservativen. Das ist aber keine zwangsläufige Entwicklung. In Finnland etwa, das an der Konfliktlinie zu Russland viel näher dran ist als wir und dort große Sorgen hervorruft, haben die Menschen nicht konservativ gewählt. In Polen ist die rechtspopulistische Politik sogar abgewählt worden, obwohl auch dort die Krisen wirken. Und in Teilen von Deutschland wie Westeuropas wurde nicht nur konservativ gewählt, sondern rechtspopulistisch bis rechtsextrem.

Konfliktforscher Andreas Zick
Konfliktforscher Andreas Zick (Quelle: Thomas Imo/photothek.net/imago-images-bilder)

Zur Person

Professor Andreas Zick ist Sozialpsychologe und leitet als Professor für Sozialisation und Konfliktforschung seit April 2013 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld.

Welche Ängste führen zu Wahlentscheidungen für rechtspopulistische Politik?

Die Politik mit der Angst ist eine zentrale Taktik des Rechtspopulismus. Die Angstkampagnen von Donald Trump ist voll darauf ausgerichtet. In Deutschland ist es immer das Thema Migration und Migrationspolitik, das kurz vor den Wahlen wieder aufgebracht wird, mit Bildern, die Angst machen sollen. Vorher sorgen sich Menschen um ganz andere Dinge wie die Klimakrise, Gerechtigkeit oder Inflation. Langzeitstudien wie das Eurobarometer zeigen. Vor Wahlen setzen populistische Parteien Migration als Angst-Thema auf die Agenda. Aber sie bieten keine Lösungen an, sondern sie verstärken die gefühlten Probleme. Sie verstärken bei den Wählerinnen und Wählern das Gefühl der Verunsicherung, der Ohnmacht, des Kontrollverlustes. Dann wenden sich Menschen autoritären Ideen zu, wünschen sich eine Partei oder eine Person, die die Führung übernimmt und die Ordnung erhält.

Ist es für die Wahlentscheidung wichtig, dass die Ängste real sind?

Das fragen wir regelmäßig in Studien ab. Persönlich fühlen sich die meisten Menschen in Deutschland sicher, persönlich haben sie wenig Angst. Wenn wir fragen, ob sie glauben, dass "Menschen wie sie" von Krisen betroffen sind, ist die Zustimmung höher. Fragen wir dann, ob Deutschland von Krisen betroffen ist, dann stimmt dem fast jede zweite Person zu laut unserer Mitte-Studie aus dem letzten Jahr. Das subjektive Gefühl gewinnt gegenüber den objektiven Fakten. Besonders bei den Menschen ab dem Mittelstand, denen es praktisch gut geht, greift die Angst. Ein Problem entsteht dann, wenn die traditionellen Parteien die Angst-Rhetorik nicht bremsen, sondern selbst in das gleiche Horn stoßen. Wenn die Ängste lang genug geschürt werden, können sich die Ängste in Zorn verwandeln, der sich dann politisch organisiert. Der Populismus bietet Wut und Zorn an. Darauf sind die Demokratien, wie wir gerade sehen, nicht gut vorbereitet. Sachargumente greifen nicht mehr.

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Aber populistische Parteien bieten für die Ängste doch gar keine funktionierenden Lösungen an – warum werden sie trotzdem gewählt?

Das ist eine Spezialität des Populismus: Diese Parteien hantieren mit Scheinfakten und Scheinlösungen: `Grenzen zu!`, der Dexit, die Forderung, dass Deutschland aus der EU austrete, das Setzen auf irgendwelche Dialoge mit Russland, oder die Bevorzugung der nationalen Wirtschaft. Dies zu benennen, reicht, damit Menschen das Kreuz auf dem Stimmzettel machen. Niemand fragt, ob das rechtlich und praktisch umzusetzen wäre. Das einfache Angebot klingt zu verlockend. Das Versprechen dahinter ist ja: Wenn es diese eine Sache nicht mehr gibt, wird für Dich persönlich alles besser. Das glauben Menschen gern. Außerdem haben es die populistischen Parteien geschafft, ihre Wahl als einen Akt des Widerstandes darzustellen, als Rebellion im eigenen Land. Wie viele Menschen das anspricht, ist von den etablierten Parteien unterschätzt worden.

Ist Deutschland besonders anfällig für Entscheidungen, in denen die Realität gar keine Rolle mehr zu spielen scheint?

Wir leben in ungewissen Zeiten. Beim Thema Migration gelingt es Rechtspopulisten, diese Ungewissheit in Angst zu transformieren. Und in Deutschland lautet die Antwort auf Angst immer: Kontrolle. Deshalb wählen Menschen Parteien, die ihnen Kontrolle versprechen – auch wenn das schon seit Jahrzehnten nicht funktioniert. Sie sehen als Antwort auf ihre Unsicherheiten geschlossene Grenzen, autoritäre Führung, unumstößliche Ordnung. In anderen Ländern, aktuell etwa in Polen, ist die Antwort auf unsichere Situationen Solidarität und Gerechtigkeit oder die Konzentration auf gemeinsame Grundwerte. Das passiert in Deutschland nicht. Selbst die demokratischen Parteien fangen an, über harte Führung zu debattieren, statt konstruktive Lösungen dagegenzusetzen.

Warum ist das in Deutschland so?

Wir sind bis heute keine lupenreinen Demokraten. Viele bevorzugen autoritäre Prinzipien. Dazu gehört auch eine Angst vor Veränderung. In Deutschland ist Veränderung etwas Negatives. Den meisten Menschen ist es am liebsten, wenn sich nichts verändert. Sie wollen ihren Besitzstand wahren, ihre Traditionen behalten. Es fehlen positive Zukunftsmodelle, Ideen davon, was besser wird, mit ausgleichender Gerechtigkeit, flachen Hierarchien oder gleichen Rechten für alle. Der Wunsch nach Sicherheit trägt zum Problem bei, denn Demokratie ist nie sicher, sie lebt auch von der Offenheit für Auseinandersetzung und für Veränderung.

Aber es ist nicht so, dass Deutschland das nicht kann. Die deutsche Gesellschaft funktioniert immer großartig, wenn Katastrophen auftreten: Dann sind alle solidarisch, helfen sich, überwinden Unterschiede. Es wäre aber gut, wenn wir dazu nicht immer Katastrophen bräuchten. Wir haben es bisher nicht geschafft, Wege für konstruktive Lösungen von Konflikten zu finden. Stattdessen werden viele Entscheidungen auf der Grundlage von Vorurteilen gegenüber Gruppen getroffen. Wir sehen das in der hochgepeitschten Gender-Debatte, in den Debatten über Migration, um Muslime. Wir führen diese Debatten seit Jahren, aber wir kommen nie voran, weil wir mit jeder neuen Generation immer wieder die gleichen Vorurteile abbauen müssen.

Viele Menschen geben an, Angst vor der Klimakrise zu haben, aber bei der Wahl strafen sie Parteien ab, die sich darum kümmern wollen. Wie ist das zu erklären?

Bei uns hat sich die Erzählung etabliert, dass Maßnahmen gegen die Klimakrise gleichbedeutend sind mit Freiheitseinschränkungen. Und es ist psychologisch logisch, dass Menschen darauf rebellisch reagieren und sagen: Wir wollen unsere Freiheit behalten! Es fehlt an politischen Angeboten, die einen Übergang möglich machen, die einen Konsens möglich machen, die Situation schrittweise zu verbessern. Die Grünen haben versucht, zu erklären, warum Klimamaßnahmen nötig sind, aber Menschen haben darauf mit Abwehr reagiert, weil es ihnen zu viel erschien.

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Was wären gute, demokratische Antworten auf den Rechtsruck in Europa?

Wir müssen die neuen Verhältnisse im Europäischen Parlament genau beobachten: Verschieben sie sich so weit, dass sie menschenfeindliche und antidemokratische Veränderungen möglich machen? Werden Gruppen ausgeschlossen und diskriminiert? In der europäischen Verfassung ist festgeschrieben, dass das nicht passieren darf, dass alle Menschen in der EU gleich sind und die gleiche Gerechtigkeit erfahren müssen und können. Wenn wir das aufgeben, wird es gefährlich. Die lange Zeit ungeklärte Migrationspolitik hat die europäische Identität beschädigt – nach innen und nach außen. Das gefährdet die Stabilität und befördert einen weiteren Rechtsruck.

Welche Rolle spielte die Herabsetzung des Wahlalters für das Wahlergebnis in Deutschland?

Ich finde es grundfalsch, jungen Wählern und Wählerinnen jetzt zu sagen, sie hätten falsch gewählt. Wir müssen uns in der politischen Bildungsarbeit, in der Schule und in den Medien mehr mit der Frage auseinandersetzen: Welche Konsequenzen haben meine Entscheidungen? Menschen neigen dazu, nur auf sich selbst zu schauen. Aber was bedeuten meine Entscheidungen für andere? Möchte ich das wirklich? Ist die schnelle Lösung, die mir angeboten wird, auch eine langfristig sinnvolle Lösung? Diese Fragen müssen wir jetzt bearbeiten. Und es ist wichtiger denn je, darüber nachzudenken, wie wir Politik an junge Menschen vermitteln. Wenn populistische Stimmungsmache so gut funktioniert, zeigt es auch, dass das Kommunikationsmodell demokratischer Parteien offenbar nicht mehr gut funktioniert.

Und schließlich: Wenn antidemokratische Tendenzen in Parlamenten zunehmen, müssen wir umso mehr darauf achten, dass wir außerhalb der Parlamente für demokratische Verhältnisse sorgen. Das können wir alle tun.

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