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Europawahl: Demokratie verteidigen – und aus der Geschichte lernen


Tagesanbruch
Der Krieg kehrt zurück

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 07.06.2024Lesedauer: 6 Min.
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Spitzenpolitiker David Cameron, Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Joe Biden am Omaha Beach in der Normandie.Vergrößern des Bildes
Spitzenpolitiker David Cameron, Olaf Scholz, Emmanuel Macron, Joe Biden am Omaha Beach in der Normandie. (Quelle: Guido Bergmann/Bundespresseamt/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

kann man aus der Geschichte lernen? Das kann eine profunde Frage sein oder der Auftakt zu salbungsvollen Allgemeinplätzen. Selbstverständlich kann man aus der Geschichte lernen. Zugleich ist Zurückhaltung angebracht, wenn sich Parallelen zwischen vergangenen Tagen und der Welt von heute aufzudrängen scheinen. Die Zeiten ändern sich.

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Es gibt Gründe, über das Verhältnis zur Vergangenheit nachzudenken, denn diese meldet sich mit Macht zurück. Gestern versammelten sich Präsidenten und Regierungschefs der westlichen Welt, um an den Stränden der Normandie einer der entscheidenden Schlachten des Zweiten Weltkriegs und der größten amphibischen Landeoperation in der Geschichte der Menschheit zu gedenken: des D-Days. Nie zuvor und nie danach ist eine so gewaltige Armada zu einer Invasion von See aus aufgebrochen. 1944 standen auf den britischen Inseln zwei Millionen Soldaten aus zwölf Ländern für den Sturm auf Nazi-Deutschland bereit. Mehr als 150.000 von ihnen landeten am ersten Tag an der französischen Küste oder sprangen mit Fallschirmen hinter den Linien der Wehrmacht ab. Der Angriff konnte den Krieg gegen Hitler entscheiden oder in einer Katastrophe für die Alliierten enden. Das Risiko war immens.

Wie wir Nachgeborene wissen, gelang die Operation. Aber die Schlacht an den Stränden und im Hinterland verlief unfassbar brutal. 9.000 alliierte Soldaten fielen den Kämpfen allein am ersten Tag zum Opfer. Auf einem der vielen Friedhöfe nahe der Landezone sind mehr als 21.000 deutsche Soldaten begraben. Fast genauso viele französische Zivilisten starben während des Bombardements der Küste oder im Kugelhagel zwischen den Fronten. Die Gestapo in der Normandie verbrachte den D-Day damit, in ihrem Gefängnis die inhaftierten französischen Widerstandskämpfer zu ermorden. Die Opfer der Schlacht waren immens, doch auch die Folgen gewaltig: Die Invasion läutete die Befreiung Frankreichs und das Ende des Nazi-Regimes ein.

Der achtzigste Jahrestag der Landung in dieser Woche ist Anlass, den heroischen Einsatz für die Freiheit in vielen Reden zu beschwören. US-Präsident Joe Biden will heute in der Normandie eine Grundsatzrede zur Verteidigung der Demokratie halten. Dass auch der ukrainische Präsident Selenskyj bei den Feierlichkeiten anwesend ist, holt das Thema schnurstracks in die Gegenwart zurück. Um Menschen zu finden, die in mörderischen Kämpfen den Soldaten eines Aggressors die Stirn bieten, muss man in Europa kein Geschichtsbuch mehr aufschlagen. Der Krieg gegen einen Tyrannen ist auf unseren Kontinent zurückgekehrt. Die Parallelen zwischen damals und heute sind alles andere als subtil, jedenfalls erscheint es so.

Aber manchmal ist die Geschichte der Menschheit kein Kontinuum. Es gibt Momente darin, die ein Davor und ein Danach markieren: eine Schwelle, die überschritten wird. Einen Punkt ohne Wiederkehr. Ein solcher Moment ereignete sich am 29. August 1949: An diesem Tag zündeten Wissenschaftler und Militärs in der Sowjetunion ihre erste eigene Atombombe. Die Amerikaner hatten sie schon, nun zog der Diktator Stalin mit ihnen gleich. Amerikaner und Sowjets erschufen, was nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist: das Gleichgewicht des Schreckens. Die Atombombe hat das Verhältnis der Mächte, die damit bewaffnet sind, für immer verändert. Auch daran erinnert uns diese Woche der D-Day.

Die Invasion in der Normandie hätte es nicht gegeben, wenn als erster Diktator Adolf Hitler über die Bombe verfügt hätte und nicht erst Stalin einige Jahre später. Das Szenario ist nicht so fiktiv, wie es erscheint. Es waren deutsche Wissenschaftler, die 1938 die Kernspaltung entdeckten. Nur Forscherpech und Sabotage verhinderten den Durchbruch bei der Entwicklung der ultimativen Waffe. Sonst wäre eine militärische Großoperation der Alliierten, die das Zeug dazu hatte, Hitlers Herrschaft ein Ende zu setzen, in einer Pilzwolke zum Stillstand gekommen. Den D-Day hätten die Kommandeure der Verbündeten wahrscheinlich schon im frühen Planungsstadium verworfen. An der Ostfront hätte es nicht anders ausgesehen. Nie wären sowjetische Panzer durch die Straßen Berlins gerollt.

Was stattdessen geschehen wäre, kann niemand wissen. Vielleicht hätte Europa noch lange den Terror der Naziherrschaft erdulden müssen. Oder es gäbe Berlin, Moskau und London gar nicht mehr und unser Kontinent wäre einer verstrahlten Todeslandschaft gewichen. Klar ist: Der Massenmörder, der alle Menschen mit jüdischen Wurzeln auslöschen wollte und seinen Soldaten den Kampf bis zum Untergang befahl, hätte nicht gezögert, vor seinem eigenen Ende das nukleare Feuer zu entfesseln.

Seit die Welt Bekanntschaft mit dem Gleichgewicht des Schreckens gemacht hat, gelten andere Regeln als am D-Day. Parallelen zum Krieg in der Ukraine gibt es schon deshalb nicht. Eine nukleare Macht wie Russland wird mit militärischen Mitteln nicht zum Zusammenbruch gebracht. Sie mag begrenzte Niederlagen erleben, wie die USA in Vietnam. Sie mag an sich selbst scheitern wie die Sowjetunion. Der Kollaps kommt von innen, oder er kommt nicht.

Während der Invasion der Normandie zogen Hunderttausende alliierte Soldaten mit der Bereitschaft in den Krieg, für den Sieg über die Tyrannei ihr Leben zu lassen. Die Werte sind ein Vorbild – aber das Vorgehen ist vorbei. In der Ukraine wird gekämpft und gestorben, um den Aggressor aufzuhalten und ihn vielleicht wieder aus dem Land zu vertreiben. Aber nicht, um ihn zu stürzen. Die D-Days von heute sind defensiv.

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In den Nato-Staaten findet die Verteidigung der Demokratie nicht mehr auf dem Schlachtfeld statt, sondern an der Wahlurne. Desinformation, Sabotage, Finanzierung rechtsextremer Parteien: Das alles gehört zu Putins Repertoire, um Europa zu destabilisieren und die Demokratien zu schwächen – nicht erst seit der Invasion vor zwei Jahren, sondern bereits ein Jahrzehnt lang. Der Kontinent befindet sich nicht im Frieden mit Putins Regime. Er wird im Stillen attackiert. Denn dass der Kollaps nur von innen kommt, zumal bei einer nuklear bewaffneten Allianz, das hat Putin sehr gut verstanden.

Die Verteidiger der Demokratie brauchen hierzulande nicht im Kugelhagel über einen Strand zu stürmen und dem Tod ins Auge zu sehen. Zu einem gemächlichen Spaziergang müssen sie allerdings aufbrechen: Am Sonntag wird in Europa gewählt, und diejenigen, auf die der Kreml-Diktator setzt, sind in der ganzen EU auf dem Vormarsch. Diese Demokratiefeinde müssen aufgehalten werden. Deshalb wird jetzt eine leise Schlacht geschlagen: Mit einem Kreuzchen in der Wahlkabine, ganz komfortabel. Diesen kleinen Einsatz sind wir denjenigen schuldig, die alles aufs Spiel setzen mussten – damals, am D-Day.


Gedenken in Mannheim

Genau eine Woche ist der Messermord von Mannheim nun her, noch immer schickt die Gewalttat Schockwellen durchs Land. Kanzler Olaf Scholz hat seinen Kurs revidiert: Er fordert nun ebenfalls die Abschiebung von Schwerstkriminellen und terroristischen Gefährdern nach Syrien und Afghanistan, was mit Blick auf die Sicherheitslage bislang ein Tabu war. "Scholz legt den Schalter um", berichtet mein Kollege Daniel Mützel. Innenministerin Nancy Faeser kommt dabei die schwierige Aufgabe zu, die praktische Umsetzung mit den Nachbarländern der Terrorstaaten zu organisieren.

In Mannheim wird heute auf mehreren Veranstaltungen des getöteten Beamten gedacht. Für eine landesweite Schweigeminute um 11.34 Uhr wollen neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Innenminister Thomas Strobl auf den Marktplatz kommen. Um 16.30 Uhr folgt eine Kundgebung unter dem Motto "Mannheim steht zusammen – für Demokratie und Vielfalt" unter anderem vom Deutschen Gewerkschaftsbund, Vertretern demokratischer Parteien und Religionsgemeinschaften. Nach einer Eilentscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe darf schließlich um 18 Uhr auch die AfD demonstrieren. Im Gespräch mit unserem Reporter Johannes Bebermeier fordert der grüne Finanzminister von Baden-Württemberg eine schonungslose Debatte über den Islamismus.


Sportliche Generalproben

Letzter Test vor der Heim-EM: Beim Fußball-Länderspiel in Mönchengladbach gegen Griechenland (20.45 Uhr bei RTL) kann Bundestrainer Julian Nagelsmann noch einmal am Feinschliff für sein Personalkonzept arbeiten. Bis Mitternacht muss er dann seinen finalen 26-Mann-Kader bei der Uefa einreichen.

Auch für viele Leichtathleten beginnt heute die Generalprobe: Bei den Europameisterschaften in Rom geht es um eine Standortbestimmung vor den Olympischen Spielen im August in Paris.


Ohrenschmaus

Am Ende einer wilden Woche tut ein wenig Sanftmut not. Auch schon 20 Jahre alt, aber immer noch herrlich entspannend.


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Damit der Staat nicht an der Inflation verdient, will Finanzminister Lindner den Freibetrag bei der Einkommenssteuer anheben. Zahlen aus dem Ministerium, die meinem Kollegen Florian Schmidt vorliegen, zeigen jetzt, wie viel Geld Sie dadurch mehr in der Tasche hätten.


Toni Kroos gilt als einer der weltbesten Fußballer – bekommt in Deutschland aber erstaunlich wenig Anerkennung. Die Kollegen von Watson.de gehen dem Phänomen in einem neuen Podcast nach: garantierte Hörempfehlung.


Zum Schluss

Wahlkampf in Deutschland anno 2024.

Ich wünsche Ihnen einen sicheren Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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