Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Trumps Nato-Demontage hat schon Folgen
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal kommt die Zukunft schneller als gedacht. Der Amtsantritt von Donald Trump rückt näher, und wir werden uns während der nächsten vier Jahre auf drastische Veränderungen einstellen müssen – so lautete die Prognose bisher. Aber nach dieser wilden Woche liegen die Dinge anders. Trump sitzt zwar noch nicht im Weißen Haus, aber der erste tiefe Einschnitt in unser Leben ist schon da.
Lassen wir kurz den Blick über die rauchenden Trümmer schweifen, die Trumps Trommelfeuer übriggelassen hat: Den Nato-Partner Kanada hat er auf einer Karte schon mal eingemeindet und zu einem Teil der USA degradiert. Als US-Bürger seien die nördlichen Nachbarn doch viel besser dran. Was bei Kanada noch Wunsch und Aufforderung ist, mutiert im Falle Grönlands zur Drohung. Bisher hatte Trump den Dänen die arktische Rieseninsel bloß abkaufen wollen. Auf seiner wilden Pressekonferenz am Dienstag schloss er den Einsatz militärischer Mittel jedoch nicht mehr aus. Man muss sich kurz kneifen: Invasion in Dänemark, einem militärischen Verbündeten der USA? Vielleicht.
Apropos, da wir gerade beim Nato-Bündnis sind: Für die Zeitenwende hatten wir Deutsche uns ja auf die Schulter geklopft. Die massive Steigerung der Verteidigungsausgaben wird uns bald aber nicht mehr als heroischer Kraftakt, sondern eher als attraktives Sparpaket erscheinen. Nicht mehr bloß zwei, sondern gesalzene fünf Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung eines Landes sollten in Militärausgaben fließen, diktiert der Lautsprecher in Washington den Bündnispartnern. Mit Klotzen statt Kleckern hat das nichts mehr zu tun. Sogar die USA mit ihrem gigantischen Verteidigungshaushalt kommen diesem Ziel nicht einmal nahe.
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Einen Teil all dieser haarsträubenden Äußerungen können wir daher als Theaterdonner verbuchen. Dass die Kanadier ihre Nation über Bord werfen und sich freudig unter Trumps Fittiche begeben, glaubt der mächtigste Troll der Welt wohl selbst nicht. So ist er halt. Wir kennen ihn mittlerweile lange genug und wissen, dass wilde Behauptungen und skandalöse Aussagen bei Trump keine Entgleisungen sind, sondern zum Markenkern gehören. Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Das heißt aber nicht, dass die Suppe nicht trotzdem ausgelöffelt werden muss. Denn allem Spektakel zum Trotz bezieht Trump mit seinen Sprüchen Position. Und das hat Folgen.
Für die Bündnispartner der USA schält sich aus der Kakofonie nämlich ein Leitmotiv heraus: Trumps überzogene Forderungen verbindet, dass außer den amerikanischen Eigeninteressen (und dem Ego ihres Präsidenten) nichts anderes mehr in das Kalkül einfließt. Eigentlich dachte man, dass die Trumpisten mit ihrem Slogan "America First" schwer auf den Putz hauen. Tatsächlich haben sie damit aber tiefgestapelt. Denn was ihr Heilsbringer jetzt der Außenpolitik verordnet hat, ist eine verschärfte Variante, die treffender "America Only" hieße.
Was den USA oder Trump nicht zu unmittelbarem Nutzen gereicht, geht kompromisslos über Bord. Im nationalen Interesse ist alles erlaubt. Einziges Kriterium ist, dass man damit durchkommt. Militärische Drohungen gegen Verbündete gehören genauso zum Repertoire wie wirtschaftliche Attacken auf Handelspartner. Wir werden das am eigenen Leib, genauer: im Portemonnaie und auf dem Arbeitsmarkt zu spüren bekommen, sobald Trump den transatlantischen Handel mit Strafzöllen überzieht.
Wer in einem Land am Ostrand der Nato lebt, wird diese Liste noch ergänzen müssen. In den ehemaligen Sowjetrepubliken des Baltikums müssen die Leute schon länger damit leben, dass Putin sie ins Fadenkreuz genommen hat. Auch die Polen machen sich keine Illusionen, dass über die Grenze mit Belarus Friedenstauben angeflattert kämen. Stattdessen bereiten sie sich auf Kampfjets und Panzer vor. Nicht ohne Grund belegen Polen und Estland die unangefochtenen Spitzenplätze beim Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, während sich die Amerikaner mit der Bronzemedaille begnügen. Das kleine Lettland ist ihnen hart auf den Fersen. Nachbar Litauen liegt nur wenig dahinter. Kein Wunder: Falls Russland die Nato angreift, geschieht es hier.
Der Großteil der Amerikaner hat von Estland, Lettland und Litauen noch nie etwas gehört. Auch die amerikanischen Wirtschaftsinteressen an den drei Zwergen fallen nicht weiter ins Gewicht. Warum also zu Hilfe eilen? Trumps neue Tonlage, die noch gnadenloser auf das Eigeninteresse fixiert ist als in seiner ersten Amtszeit, trifft die Nato an ihrer empfindlichsten Stelle. "America Only" untergräbt das Beistandsversprechen, das die Bündnispartner sich gegeben haben – und zwar nicht in ferner Zukunft, sondern jetzt, hier, heute. Die Bündnistreue der USA hat ein fettes Fragezeichen bekommen.
Wer weiß, vielleicht geschieht im Krisenfall ein kleines Wunder und US-Soldaten ziehen selbst unter einem Präsidenten Trump an der Seite ihrer Alliierten in die Schlacht. Aber dann ist es zu spät. Das Bündnisversprechen der Nato hätte zu diesem Zeitpunkt bereits versagt. Die Hauptaufgabe der Nato ist nicht, nach einem Angriff auf ein Mitglied den Krieg zu gewinnen. Die Allianz hat den Zweck, diesen Krieg zu verhindern. Dazu muss ein Angreifer vorher wissen, was ihm blüht – ohne Rätselraten, ohne Wahrscheinlichkeitskalkül, ohne Pokern in der Hoffnung, dass der hohe Einsatz eines Angriffs sich am Ende vielleicht doch lohnt.
Trump hat diese Berechenbarkeit binnen Minuten abgeräumt. Die Nato reagiert auf einen offenen Angriff mit geballter militärischer Macht – vielleicht gibt es aber auch nur ein Kommuniqué: Davon muss man ausgehen, wenn auf den amerikanischen Präsidenten kein Verlass mehr ist. Wir treten in eine Welt ein, in der alles möglich ist und die Loyalität zu den Bündnispartnern von Fall zu Fall ausgewürfelt wird. Deshalb hat der Beistandsartikel des Nato-Vertrages einen erheblichen Teil seiner abschreckenden Wirkung eingebüßt, noch bevor Trump das Weiße Haus betreten hat. Putin wird sich seine Optionen für die nächsten vier Jahre zurechtlegen, abwägen und die Weichen stellen.
Die europäischen Nato-Länder müssen sich bereit machen, einen Angriff nicht nur abzuwehren, sondern abzuschrecken – und zwar allein. Das wird schmerzhaft, teuer und bleibt selbst bei großen Anstrengungen ein knappes Rennen. Wenn alles gutgeht, werden wir Trumps Forderung nach massiv steigenden Verteidigungsausgaben erfüllen. Nur leider aus dem falschen Grund. Denn die Nato von letzter Woche ist heute schon Geschichte.
Maschinen werden menschlich
Der heilige Gral in der künstlichen Intelligenz ist die Artificial General Intelligence, kurz AGI: ein Computerprogramm, das jede intellektuelle Aufgabe zu bewältigen vermag, die ein Mensch ausführen kann. Bisher galt dieses Ziel als weit entfernt. Nun hat der weltweit führende KI-Unternehmer Sam Altman mit einer Ankündigung Aufregung ausgelöst: "Wir sind jetzt überzeugt, dass wir wissen, wie wir AGI nach unserem traditionellen Verständnis bauen können", schrieb Altman in einem Blogbeitrag. "2025 werden erste KI-Agenten 'in die Arbeitswelt eintreten' und den Ertrag von Unternehmen wesentlich verändern." Ist die nächste technologische Revolution nur noch Wochen oder Monate entfernt? Ich habe Christian Stöcker, Kognitionspsychologe und Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, um eine Einschätzung gebeten. Hier sind seine Antworten auf meine Fragen:
Sam Altman, Chef der KI-Firma OpenAI, hat einen entscheidenden Entwicklungsschritt auf dem Weg zu einer künstlichen Superintelligenz angekündigt. Was kommt da auf die Welt zu?
Christian Stöcker: Altmans Text reflektiert vor allem eine gewisse Hybris und eine ordentliche Portion Marketing. Aber ich bin sehr gespannt, was OpenAI dieses Jahr tatsächlich an Neuerungen präsentieren kann. Er spricht ja von "KI-Agenten", die noch dieses Jahr die Belegschaft von Unternehmen erweitern sollen. Bislang sind die meisten Firmen beim Einsatz von Sprachmodellen meiner Wahrnehmung nach noch vorsichtig, und zwar aus gutem Grund: Das Problem, dass die KI gelegentlich halluziniert, also einfach Unsinn vorträgt, scheint mir weiterhin nicht gelöst. Vor diesem Hintergrund finde ich das Versprechen, demnächst komme die "Superintelligenz", etwas weit hergeholt. Ich kann mich selbstverständlich irren, denn die Entwicklung verläuft ja in der Tat sehr schnell.
Wie könnte so eine Superintelligenz die Gesellschaft denn verändern?
Bei einer echten Allgemeinen Künstlichen Intelligenz wäre die Frage, was ihre Wissens- und Faktenbasis ist, was sie tatsächlich kann. Um sie wirklich mächtig zu machen, müsste man ihr Zugang zu jedwedem verfügbaren Wissen geben, sie müsste aber auch in der Lage sein, wahr von falsch und verlässlich von fragwürdig zu unterscheiden. Im Moment haben wir dieses Problem nicht einmal für Menschen gelöst, wie der enorme Erfolg von Desinformation zeigt. Mir ist weiterhin unklar, woher die perfekten Trainingsdaten für diese perfekte KI kommen sollen. Gefährlich wird eine mächtige, womöglich eben nicht fehlerfreie KI dann, wenn sie eigene Handlungsmöglichkeiten bekommt, sogenannte Effektoren. Wenn sie selbstständig in die reale Welt eingreifen und nicht nur Fragen beantworten oder Aufgaben erledigen kann. Da sollte staatliche Regulierung ansetzen – denn das wäre ein gewaltiges Risiko.
Sind wir in Deutschland für das gerüstet, was aus den amerikanischen Digitallaboren kommt?
Niemand ist wirklich für das Tempo gerüstet, mit dem sich die Technologie gerade entwickelt. Europa hat zu lange geschlafen, auch wenn wir ein paar durchaus vielversprechende Unternehmen haben. Es wäre dringend geboten, vor allem die akademische, also nichtkommerzielle Auseinandersetzung mit dem Thema KI deutlich zu stärken. Wir brauchen Fachwissen, eigene Expertise, eigene Entwicklung, wir brauchen kompetente Beratung auch für Regierungen, Verwaltungen, Unternehmen, Militär und so weiter. Wir müssen viel stärker danach fragen, was KI für das Gemeinwohl tun könnte – das ist zweifellos einiges. Es gibt jede Menge nichtkommerzielle, akademische, hochinteressante KI-Projekte. Diese Projekte und damit das Know-how jenseits von Unternehmenslogiken zu fördern, könnte Europa enorm weiterhelfen.
TikTok-Verbot in den USA?
Apropos Algorithmen: Bis zum 19. Januar muss der chinesische Konzern ByteDance seine US-Tochter von TikTok verkaufen, sonst wird die Video-App in den Vereinigten Staaten verboten. Abgeordnete der Demokraten und Republikaner betrachteten sie als Risiko für die nationale Sicherheit, weil die Regierung in Peking das Unternehmen zwingen kann, sensible Daten amerikanischer Nutzer herauszugeben. ByteDance macht bis heute keine Anstalten, dem Ultimatum Folge zu leisten, beruft sich auf die Meinungsfreiheit und hat das Oberste Gericht der USA angerufen: Heute befasst sich der Supreme Court mit dem Fall. Kommt er zu dem Schluss, dass das Gesetz das Verfassungsrecht auf Redefreiheit verletzt, könnte das Verbot noch kippen.
Rückenwind erhält die süchtig machende, speziell unter Jugendlichen verbreitete Bilderschleuder allerdings von ihrem einstigen Gegner Donald Trump: Der designierte US-Präsident, in seiner ersten Amtszeit selbst an der Durchsetzung eines TikTok-Verbots gescheitert, hat seine Meinung geändert – wohl auch, weil er auf der Plattform eine beträchtliche Reichweite hat, die ihm im Wahlkampf zugutekam. In einem Brief an das Oberste Gericht rief er dazu auf, das Gesetz auszusetzen, um ihm Zeit für eine Verhandlungslösung zu geben. Sollte er tatsächlich in letzter Minute einen US-Investor aus dem Hut zaubern, könnte das Tauziehen eine unerwartete Wendung nehmen.
Ohrenschmaus
Heute feiert einer der größten Frauenschwärme seinen 80. Geburtstag. Diese Stimme ist und bleibt unvergleichlich.
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Im Jahr 1812 versuchten die Amerikaner tatsächlich, Kanada zu erobern. Am Ende erlebten sie eine ungeheure Demütigung, weiß mein Kollege Marc von Lüpke.
Zum Schluss
Elon Musk besorgt für seine Plattform X neue Inhalte.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.