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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Dieser Montag ist historisch
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Ein frohes und friedliches neues Jahr wünsche ich Ihnen! Womit wir schon beim Thema sind: Dieser 6. Januar 2025 markiert in dreifacher Hinsicht eine historische Zäsur – international, national und technologisch. Der Reihe nach.
ERSTENS: In der internationalen Politik beginnt eine neue Phase. In Washington zählen Senat und Repräsentantenhaus heute die Stimmen der Wahlleute aus und küren Donald Trump offiziell zum Wahlsieger. Auf den Tag genau vor vier Jahren hetzte er als abgewählter Präsident seine Schlägertrupps zum Sturm aufs Kapitol, weil er nicht weichen wollte – heute liegt ihm Amerikas Mehrheit zu Füßen: Trump, sein Schattenpräsident Elon Musk und ihre Handlanger übernehmen nicht nur in zwei Wochen das Weiße Haus, sondern haben auch die Mehrheit in beiden Kongresskammern in der Tasche. Sie können durchregieren, Amerikas Innenpolitik und die westliche Sicherheitsarchitektur nach ihren Wünschen umbauen.
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Angekündigt haben Trumps Ideologen nichts weniger als eine "Revolution": Zuckerbrot für Weiße, Peitsche für "Illegale", zu denen sie alle zählen, die ihre Ansichten nicht teilen. Ausweisung von Einwanderern ohne Aufenthaltserlaubnis. Weniger Geld für Soziales, Gesundheitsversorgung und Militärmissionen. Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzvertrag und verstärkte Erdölförderung. Transaktionale Deals statt Bündnispolitik: Nur wer bezahlt, bekommt Amerikas Schutz. Es ist ein Programm wie aus dem frühen 19. Jahrhundert. Kein Wunder, dass rechtsnationale Nacheiferer wie Viktor Orbán und Giorgia Meloni zum Bückling in Trumps Palast in Florida eilen. Sie erhoffen sich Schützenhilfe vom mächtigsten Populisten der Welt. Die kommenden vier Jahre werden stürmisch.
DIE ZWEITE ZÄSUR: Innenpolitisch beginnt eine heiße Phase. Heute startet einer der kürzesten Bundestagswahlkämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik. Nur sieben kalte Winterwochen bleiben den Parteien, um die Bürger von ihren Programmen und ihrem Personal zu überzeugen.
Die Positionen sind teils grundverschieden, doch viele Wähler eint eine Hoffnung: Nach dem Scheitern der Ampelkoalition wünschen sie sich eine starke Regierung, die in der Lage ist, die großen Herausforderungen dieser Krisenzeit zu bewältigen. Ob das gelingt, ist offen, doch die Wahrscheinlichkeit ist größer, als es im apokalyptischen Getöse der Vorweihnachtszeit erschien. Wer in den vergangenen Wochen manche wilden Politikersprüche und düsteren Leitartikel, das Wutgeheul auf der Plattform X und die Logorrhö von X-Obermacker Elon Musk verfolgte, konnte den Eindruck bekommen, Deutschland stehe kurz vor dem Zusammenbruch.
Das ist ein absurdes Zerrbild. Zweifellos bieten viele Entwicklungen Grund zur Sorge, vom lähmenden Bürokratismus über die schwächelnde Industriewirtschaft bis zur vernachlässigten Sicherheit. Diese Mängel und die Großbaustellen in der öffentlichen Infrastruktur, in Kitas, Schulen und dem Gesundheitssystem erfordern tiefgreifende Reformen, und zwar schnell. Aber daraus zu schließen, hierzulande funktioniere nichts mehr und daran seien allein "die Politiker da oben" schuld, ist Humbug. Deutschland fällt im globalen Wettbewerbs-Ranking zurück, steht aber immer noch besser da als die meisten Staaten Europas.
Doch zu lange hat das ganze Land von der Substanz gezehrt, hat den Wohlstand vervespert, statt in die Zukunft zu investieren. Umso größer ist der Schock beim Erwachen aus dem süßen Traum. Auf die Pandemie folgten Krieg, Inflation und Energiepreisschub, nun erstarken Populisten links und rechts, die ihr kalter Egoismus verbindet: Was schert mich das Leid der Ukrainer, wenn mein Supermarkteinkauf 15 Euro mehr kostet?
Gefährlich wird die Kaltherzigkeit der Ichlinge, wo sie durch die Algorithmen der (a)sozialen Medien verstärkt wird. Wegen X, TikTok, YouTube, Facebook, Truth Social und wie sie alle heißen, konnte der verurteilte Straftäter Donald Trump Amerikas Republikanische Partei unterjochen. Nationalisten vielerorts in Europa erstarken, friedliebende Menschen ziehen sich aus gesellschaftlichen Debatten zurück, weil sie das Geschrei nicht mehr ertragen.
Die Folgen sind gravierend: Milieus radikalisieren sich, das Vertrauen in demokratische Institutionen erodiert. Dass die Staatsführungen der EU die digitalen Zerstörungsmaschinen so lange nahezu unreglementiert gelassen und tiefe Wunden in den Gesellschaften in Kauf genommen haben, werden Historiker künftiger Generationen als schwerwiegendes Versagen brandmarken. Statt den inneren Frieden zu verteidigen, schauen die politischen Entscheider zu, wie Digitaloligarchen vom Schlage Musk (X), Zuckerberg (Facebook/Instagram), Pichai (Google/YouTube) und Chew (TikTok) Abermillionen Menschen mit Zerstreuungskram überfluten, mit Gerüchten verunsichern, gegeneinander aufhetzen – und damit enorme Summen verdienen. Bislang hat kein Politiker den Mumm, den Milliardären mit der Sperrung ihrer Plattformen in Europa zu drohen, wenn sie nicht wenigstens rudimentäre presserechtliche Regeln befolgen, wie sie Zeitungen, Fernsehsender, Radio und News-Websites selbstverständlich einhalten müssen. Diese Hasenfüßigkeit ist erbärmlich.
Einzugreifen wird von Tag zu Tag dringlicher, denn die technologische Revolution schreitet ungebremst voran. Während Firmenlenker hierzulande noch ChatGPT für den neuesten Clou halten, ist das Silicon Valley längst weiter. Das ist die DRITTE ZÄSUR, die an diesem 6. Januar zu denken gibt: Der Software-Riese Google hat kurz vor Jahresende einen Computerchip präsentiert, der alles sprengt, was auf dem Halbleitermarkt bislang möglich schien. Das Ding namens "Willow" soll mithilfe von Quantencomputing in fünf Minuten eine Rechenaufgabe gelöst haben, für die der bislang schnellste Computer zehn Quadrillionen Jahre benötigen würde. Es ist ein Vergleich wie zwischen einer Mondrakete und einer Weinbergschnecke. Zudem kann der Chip angeblich die bei komplexen Berechnungen häufig auftretenden Fehler korrigieren, sodass er stets verlässliche Ergebnisse liefert. Das ist im wahrsten Sinne ein Quantensprung.
Vollkommen neue digitale und kommunikative Prozesse sind nun denkbar. Bisher war von "künstlicher Intelligenz" die Rede – "Willow" könnte der Beginn von gottgleicher Intelligenz sein. Die technologische Revolution vollzieht sich nicht mehr in Jahren, sondern in Wochen. Abgesehen von den Superhirnen in amerikanischen und chinesischen Digitalfirmen versteht kaum noch jemand, was da gerade vor sich geht – und ob es der Menschheit zum Vor- oder Nachteil gereicht. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur verlieren ihre Deutungshoheit.
Dabei liegt zumindest ein gravierender Nachteil der Superchips auf der Hand: Ihr Energieverbrauch ist exorbitant. Schon Alltagsanwendungen von Amazon oder Microsoft verbrauchen mehr Strom als manche Staaten. KI-Chatbots wie ChatGPT katapultieren den Stromverbrauch in die Höhe; die Firmen bauen gigantische Server-Parks. Superchips wie "Willow" werden nun ganz neue Maßstäbe setzen. Während Politiker hierzulande noch über die Energiebilanz von Wärmepumpen und E-Tankstellen fachsimpeln, basteln Digitalfirmen nimmersatte Energiefresser, deren Anwendungen bald zum Alltagsgebrauch auf Millionen Smartphones landen könnten.
Wie soll, wie kann, wie will die deutsche Gesellschaft damit umgehen? Eine Antwort darauf steht noch aus. Zwischen all den politischen Turbulenzen muss sie in diesem Jahr 2025 gegeben werden – und die Politik allein kann dies nicht leisten. Alle Bürger sind gefordert, mitzudenken. Ja, es wird ein spannendes Jahr!
Was steht noch an?
Österreich hat schon gewählt, doch die Parteien kriegen keine Regierungsmehrheit zustande. Nachdem die Neos ausgeschert sind, haben ÖVP und SPÖ ihre Gespräche abgebrochen. Nun will die konservative ÖVP trotz früherer Abstinenzschwüre doch mit der rechtsextremistischen FPÖ verhandeln. Bundespräsident Van der Bellen hat FPÖ-Einpeitscher Herbert Kickl heute zum Gespräch in die Wiener Hofburg eingeladen. Ist der Fremdenhasser bald Kanzler?
Mehr als eine Million Deutsche haben sich einer Unterschriftensammlung der Polizeigewerkschaft für ein Böllerverbot angeschlossen. Heute übergeben Polizisten die Petition dem Innenministerium. Angesichts der kriegsähnlichen Szenen in vielen Großstädten und mehrerer Toten an Silvester ein ernstzunehmender Vorstoß.
Wie steht es um die Preise? Das Statistische Bundesamt gibt die Inflationsrate für das Jahr 2024 bekannt. Sie dürfte belegen, was die meisten Bürger spüren: Alles wird immer teurer.
Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy steht ab heute vor Gericht. Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2007 soll er illegal Millionensummen des damaligen libyschen Diktators Gaddafi eingeheimst haben. Er weist die Vorwürfe zurück.
Amerikas Noch-Präsident Joe Biden will in New Orleans der Terroropfer von Neujahr gedenken. 14 Menschen kamen ums Leben, als der islamistische Attentäter mit einem Pick-up-Truck in die Menge raste.
Die Spanier lieben Lotterien. Zwei Wochen nach der Weihnachtslotterie beschert heute die Auslosung "El Niño" Tausenden Menschen einen Geldsegen: im Lostopf liegen 770 Millionen Euro, das halbe Land schaut via TV bei der Ziehung zu.
Hierzulande geht es spiritueller zu, jedenfalls in Köln: Im Dom wird der Schrein der Heiligen Drei Könige geöffnet. Im Berliner Schloss Bellevue bemüht sich Bundespräsident Steinmeier ebenfalls um besinnliche Stimmung und empfängt Sternsinger aus Augsburg.
Ohrenschmaus
Auch bei mir hält die Weihnachtsstimmung noch an. Nicht schwer, wenn man die richtige Musik auflegt.
Lesetipps
Die FDP kämpft um den Wiedereinzug in den Bundestag. Parteichef Christian Lindner gibt sich beim Dreikönigstreffen optimistisch – doch viele Liberale fürchten den Absturz, berichtet mein Kollege Florian Schmidt.
Seit dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt häufen sich in der Stadt rassistische Angriffe. Die Kollegen von Tagesschau.de haben die Übersicht.
In seiner zweiten Präsidentschaft stützt sich Donald Trump auf die rechte Tech-Elite. Das kann gefährliche Folgen haben, meint unser Kolumnist Gerhard Spörl.
Zum Schluss
Elon Musk verpasst dem Bundestagswahlkampf neue Regeln.
Ich wünsche Ihnen einen gut informierten Wochenbeginn.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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