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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
die Ukraine braucht Geld und Waffen – und zwar schnell. Das Land hat immer mehr Mühe, die russischen Truppen abzuwehren. Experten warnen seit Langem, dass Russland bald die Oberhand und wieder Gebiete gewinnen könnte – ein Szenario, das man im Westen unbedingt verhindern will.
Doch wohin man schaut, gibt es Probleme: Der US-Kongress blockiert noch immer das 60-Milliarden-Dollar-Paket, die europäischen Staaten kommen mit der Waffenproduktion nicht hinterher. Eigentlich hatte die EU der Ukraine im vergangenen Frühjahr versprochen, bis gestern eine Million Granaten zu liefern. Doch davon ist nur die Hälfte in dem Kriegsland eingetroffen.
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Der Plan war eigentlich kein schlechter: Die Mitgliedsstaaten sollten Geld aus einem Sonderfonds der EU erhalten, um Munition aus eigenen Beständen oder von europäischen Rüstungskonzernen an die Ukraine zu liefern. Das sollte den Nebeneffekt haben, dass gleichzeitig die europäische Rüstungsproduktion angekurbelt wird. Doch das ging schief.
Warum, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte gestern, die Rüstungsproduktion in Europa sei nicht schnell genug hochgefahren. Wie die Kollegen der "Welt" kürzlich recherchierten, ist das aber nur ein Teil der Wahrheit: Sowohl die EU als auch die Mitgliedsstaaten reagierten zu träge. Beispiel: Ein europäischer Waffenhersteller bot dem Bericht zufolge 400.000 Artilleriegranaten an, doch nur fünf Regierungen wollten Bruchteile davon bestellen – und am Ende ging die Munition an andere Staaten. Tschechien begann in der Zwischenzeit, auf eigene Faust Geld einzusammeln, um Munition nicht nur in Europa, sondern auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Ein Vorhaben, das Frankreich bis vergangene Woche blockierte, mittlerweile aber wie Deutschland auch unterstützt.
Dass das keine gute Bilanz für die EU ist, weiß man auch in Brüssel – und war bemüht, kurz vor dem heute beginnenden Gipfeltreffen der Mitgliedsstaaten zumindest noch einige Nägel mit Köpfen zu machen. So erhielt die Ukraine gestern erstmals 4,5 Milliarden Euro aus einem neuen Hilfsprogramm, das dem Land dabei helfen soll, das Funktionieren des Staates aufrechtzuerhalten, also etwa Beamte und Lehrer zu bezahlen. Auch das war nicht einfach, Ungarn stemmte sich lange dagegen.
Doch wie die EU die Ukraine mit Munition versorgen kann, ist weiter eine politisch hoch komplizierte Frage. In der Frage aber, wer die Lieferung finanzieren soll, trieb man in Brüssel zuletzt eine ungewöhnliche Idee voran: Warum kauft man nicht mit russischem Geld Waffen für die Ukraine?
Im ersten Moment mag diese Idee absurd klingen. Bei genauerer Betrachtung aber ist sie das nicht: Denn nachdem Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hatte, fror der Westen russische Vermögen ein. Darunter waren nicht nur die viel gezeigten Megajachten russischer Oligarchen, sondern auch Milliarden der russischen Notenbank. Allein bei dem belgischen Finanzhaus Euroclear liegen rund 190 Milliarden Euro, auf die Russland derzeit keinen Zugriff hat.
Die EU plant nun, die Zinsgewinne abzuschöpfen und das Geld zu einem großen Teil in den Sondertopf zur Waffenbeschaffung zu schieben. Von mindestens drei Milliarden Euro allein in diesem Jahr sprach Borrell, Kanzler Scholz sagte gestern im Bundestag, es könnten sogar bis zu fünf Milliarden sein. Er kündigte an, das Vorhaben heute in Brüssel unterstützen zu wollen.
Es ist ein Vorschlag, der eigentlich so einfach ist, dass man sich fragen muss: warum erst jetzt, mehr als zwei Jahre nach dem russischen Überfall? Dahinter steht allerdings ein größerer, heiklerer Streit: Wie umgehen mit dem gesamten russischen Vermögen, das eingefroren ist?
In den USA und Kanada ist man in dieser Frage bereits weiter. Vor allem die kanadische Regierung ist fest entschlossen, die dort eingefrorenen russischen Gelder einzusetzen, um der Ukraine zu helfen und trifft dazu bereits seit 2022 gesetzliche Vorbereitungen. Auch in den USA wird derzeit ein Gesetz vorbereitet, Großbritannien zeigt sich ebenfalls mehr und mehr dazu bereit. Die drei Staaten versuchen nun, die restlichen G7-Staaten auf ihre Seite zu ziehen. Doch Frankreich, Italien und Deutschland sind in dieser Frage mehr als skeptisch.
Dabei liegen die Vorteile auf der Hand. Nicht nur in Deutschland, auch in den anderen westlichen Unterstützerstaaten hat die Inflation die Preise in die Höhe getrieben und den Regierungen fällt es zunehmend schwerer, die Milliardenausgaben für die Ukraine vor ihren Wählern und der Opposition zu rechtfertigen. Das zeigt sich derzeit besonders drastisch in den USA. Die russischen Milliarden könnten dabei eine große Entlastung schaffen. Es würde auch den Druck auf Russland erhöhen, zeigen, dass der Westen schlagkräftige Antworten auf den eklatanten Völkerrechtsbruch des Kremls bereithält. Und es würde auf das Gerechtigkeitsgefühl einzahlen: Derjenige, der diese Katastrophe ausgelöst hat, bezahlt auch dafür.
Und doch ist es alles andere als einfach: Denn das Geld ist nur für die Dauer der Sanktionen eingefroren, gehört offiziell aber noch immer Russland. Eine Enteignung ist rechtlich umstritten, wirtschaftlich heikel und politisch ein heißes Eisen. Es stellen sich etwa die Fragen: Wie reagiert Russland? Würden andere Staaten den Westen als unsicheren Partner wahrnehmen und ihr Vermögen abziehen? Und ist es rechtlich überhaupt durchsetzbar?
Wie viel Bewegung mittlerweile in dieser Debatte ist, zeigt sich auch dadurch, dass mehr und mehr Experten sich nun mit eindringlichen Appellen dazu melden. So schrieb der frühere Chef der Weltbank und US-Politiker Robert Zoellick kürzlich in der "Financial Times", es sei der elegante Weg, nun russisches Vermögen zu enteignen. Er widersprach der Befürchtung, China und andere Staaten könnten daraufhin ihr Kapital nicht mehr in Dollar oder Euro anlegen. Zu den beiden Währungen gebe es derzeit keine ernstzunehmende Alternative, argumentiert Zoellick. Das zeige sich auch dadurch, dass nach dem Einfrieren russischer Vermögen nicht im nennenswerten Ausmaß Kapital abgezogen wurde. Auch zahlreiche Juristen melden sich zu Wort. Hier finden Sie eine skeptische Position und hier eine zuversichtliche. Und der Kreml reagiert nervös auf derartige Debatten, droht, dann ebenfalls westliches Vermögen in Russland zu konfiszieren.
Klar ist: Eine solche Enteignung russischen Vermögens ist eine höchst komplizierte Angelegenheit, die über Monate oder sogar Jahre vorbereitet werden muss. Kanada und die USA legen nun die gesetzlichen Grundsteine. Davon ist man auf dieser Seite des Atlantiks noch meilenweit entfernt. Vor dem heutigen Treffen ist nicht einmal klar, ob die Staaten sich überhaupt darauf einigen können, zumindest die Zinsgewinne zu nutzen. Dabei wäre es langsam an der Zeit.
Termine des Tages
Auf dem EU-Gipfel heute und morgen geht es neben der Hilfe für die Ukraine auch um die Lage in Gaza. Die EU-Staaten wollen eine geschlossene Position finden. Kanzler Scholz erwartet aber schwierige Diskussionen. "Es gibt da sehr unterschiedliche Auffassungen", sagte er gestern im Bundestag.
In Leipzig beginnt die Buchmesse, Schwerpunkte sind in diesem Jahr die Niederlande und Flandern. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht die Messe am Nachmittag.
Die Parfümeriekette Douglas kehrt an die Börse zurück. Gegen 9.15 Uhr soll in Frankfurt der erste Kurs der Aktie ausgerufen und anschließend die Börsenglocke geläutet werden. Mit dem Erlös will das Unternehmen vorrangig seinen Schuldenberg abbauen.
Das historische Bild
Adolf Hitler wollte seine Diktatur errichten, doch am sogenannten Tag von Potsdam gab sich der "Führer" 1933 zahm. Eine Täuschung. Mehr lesen Sie hier.
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Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Donnerstag. Morgen schreibt Ihnen mein Kollege David Schafbuch.
Camilla Kohrs
Ressortleiterin Politik und Wirtschaft
Twitter: @cckohrs
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Mit Material von dpa.
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