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Anpacken statt aussitzen: Leistung sollte in Deutschland wieder mehr gelten


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MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.01.2024Lesedauer: 4 Min.
Deutschlands Wohlstand basiert auch auf der Leistungsbereitschaft der Bürger. Viele beklagen, dass diese schwinde.Vergrößern des Bildes
Deutschlands Wohlstand basiert auch auf der Leistungsbereitschaft der Bürger. Viele beklagen, dass diese schwinde. (Quelle: Imago / Montage t-online/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die Wochen der Corona-Lockdowns ausgenommen, ist die kollektive Stimmung zum Jahresausklang selten so getrübt gewesen wie in diesem Jahr. Zwischen Kriegen, Krisen und Verlustängsten verlieren viele Menschen die Zuversicht. Mutlosigkeit raubt ihnen die Schaffenskraft; das sinkende Vertrauen in die Lösungskompetenz von Politikern verstärkt den Eindruck, unaufhaltsam dem Niedergang entgegenzuschlittern.

In dieser pessimistischen Grundstimmung verstärkt sich jede Misserfolgsmeldung zur Hiobsbotschaft. Politischer Streit, sinkende Unternehmensumsätze und vermehrte Insolvenzen liefern dem Chor der Weltuntergangspropheten eine düstere Partitur. Der deutsche Sound im Dezember 2023 ist ein Requiem. Die Trauerkloßeritis wird zur Volkskrankheit.

Grundsätzliche Sorgen kommen hinzu: Hört man Verantwortlichen zu, die viele Menschen anleiten – Unternehmenslenker, Handwerksmeister, Lehrer –, vernimmt man eine wiederkehrende Klage: Insbesondere junge Leute, aber auch viele andere seien nicht mehr bereit, ordentliche Leistung zu erbringen oder gar die geforderte Extrameile zu gehen. Ob im Job oder in der Schule: Allzu viele Menschen ließen sich hängen, ruhten sich auf den Errungenschaften ihrer Vorgänger und Eltern aus, meckerten bei jeder Belastung oder ließen sich kurzerhand krankschreiben. Mit so einem Staat von larmoyanten Weichlingen aber habe Deutschland bald keine Chance mehr gegen die gedrillten Superhirne aus China, Südkorea und den anderen Tigerstaaten. Unser Wohlstand sei deshalb akut gefährdet.

Wer den Blick über den Tag hinaus weitet und in Geschichtsbüchern blättert, dem wird diese Klage bekannt vorkommen. Schon die alten Griechen beschwerten sich über die nichtsnutzige Jugend; in den folgenden zweitausend Jahren ist vielen wohlstandsgesättigten Gesellschaften ihre eigene Trägheit zum Verhängnis geworden. Krösusstaaten wie die Schweiz, Luxemburg und Norwegen ausgenommen, hat man wohl in keinem Land der Welt in den vergangenen Jahrzehnten so gut leben können wie in Deutschland. Profitiert hat man hierzulande nicht nur von der günstigen geografischen Lage im Herzen der Europäischen Union, dem militärischen Schutz der Amerikaner und dem chinesischen Absatzmarkt, sondern auch von der traditionellen Leistungsbereitschaft: Die Nachkriegsgeneration baute das Land wieder auf, in den Sechziger- und Siebzigerjahren galten ein Bergmann, ein Industriefacharbeiter oder eine Berufsschullehrerin beiderseits der innerdeutschen Grenze als Garanten des Aufschwungs – und genossen entsprechende gesellschaftliche Anerkennung.

Die Wiedervereinigung bescherte Deutschland nicht nur die territoriale Einheit, sondern auch eine beispiellose politische Bedeutungszunahme. In der erstarkenden EU ging bald nichts mehr ohne die Bundesregierung, seien es Handelsregeln oder der Kampf gegen Krisen – von den Banken bis zur Staatsverschuldung, von den Flüchtlingen bis zur Corona-Pandemie. Berlin mischte sich ein, löste Probleme, gab Milliardensummen aus und oft auch den Ton an.

Doch über all dem Engagement zur Bewältigung europäischer Krisen blieben innenpolitische Reformen auf der Strecke. Das Chaos der Ampelregierung wurzelt zu einem erheblichen Teil in den vielen Baustellen, die Merkels Dauerkanzlerschaft ihr hinterlassen hat. Schon in normalen Zeiten wäre die Bewältigung der Infrastrukturschäden, der mangelnden Digitalisierung, des lähmenden Verwaltungsdickichts, der heruntergewirtschafteten Bundeswehr, des Fehlens bezahlbarer Wohnungen und erst recht der Transformation in eine klimaneutrale Produktion, Bauwirtschaft und den Verkehr eine Mammutaufgabe. In Zeiten der Bedrohung durch einen aggressiven Kreml-Diktator ist die Herausforderung kaum zu packen – jedenfalls nicht in dem Tempo, in dem es ungeduldige Bürger verlangen.

Vielleicht ist es weniger die Wohlstandsübersättigung als eher dieser Grund, der viele Menschen dazu verleitet, sich ins private Schneckenhaus zurückzuziehen und statt 100 lieber nur 80 Prozent zu geben: die Überforderung durch permanente Krisenerlebnisse, die Ahnung, dass die Welt von morgen noch viel fragiler sein wird als die gegenwärtige. Wer als junger Mensch sieht, wie wenig Verantwortungsbereitschaft heutige Lenker in Politik und Wirtschaft für die Zukunft aufbringen, kann tatsächlich in Agonie verfallen. Wer als Berufsanfänger zusehen muss, wie die Älteren an den Schalthebeln der Macht in Kauf nehmen, dass das Rentensystem absehbar implodiert, dass die Erderhitzung, das Artensterben und die Überbevölkerung das Leben vielerorts auf dem Planeten in ein Russisches Roulette verwandeln, der wird sich zweimal überlegen, ob es sich noch lohnt, vollen Einsatz zu geben. Da mögen die Älteren noch so sehr über die Trägheit der Jungen lästern.

Doch mit gegenseitigen Schuldzuweisungen ist niemandem geholfen, weder dem Einzelnen noch der Gesellschaft als Ganzes. Deutschland braucht einen Aufbruch, und der kann nicht allein aus der Politik kommen. Verantwortung für das Heute und das Morgen muss jeder Bürger tragen, ob er eine Firma lenkt oder von Sozialhilfe lebt. Eine Demokratie lebt vom Mitmachen, eine erfolgreiche Industrie- und Dienstleistungswirtschaft erst recht.

Deshalb ist es so wichtig, jenen zuzuhören, die täglich Höchstleistung erbringen. Ihren Stimmen geben wir auf t-online Raum: Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion hat unsere Textchefin Heike Vowinkel eine Artikelserie produziert, in der wir ganz unterschiedliche Menschen zu Wort kommen lassen: Vom Polizisten bis zur Bäckerin, vom Abiturienten bis zur Rentnerin, von der Alleinerzieherin bis zum Millionär erzählen sie uns, was Leistung in ihren Augen bedeutet. Wir sprechen zudem mit Firmenchefs, einem Verbandspräsidenten und einer Historikerin – und natürlich können auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, Ihre Meinung einbringen. So wollen wir die Frage beantworten, was heute wirklich unter Leistung zu verstehen ist und welchen Stellenwert sie haben sollte.

Als ich in der Vorbereitung für Heiligabend die Bibel aus dem Bücherregal zog, fiel mein Blick auf einen Vers im Paulus-Brief an die Galater. "Jeder prüfe sein eigenes Tun. Dann wird er sich nur im Blick auf sich selbst rühmen können, nicht aber im Vergleich mit anderen", heißt es dort. Wie schön, wenn ein Jahrtausende altes Buch uns auch heute noch den Weg weisen kann.

Nun wünsche ich Ihnen besinnliche Weihnachtstage und einen beherzten Start ins neue Jahr. Und bedanke mich sehr herzlich für die vielen netten Zuschriften. Der Tagesanbruch pausiert bis zum 7. Januar. Am Montag, den 8. Januar, sind wir wieder für Sie da.

Herzliche Grüße

Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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