Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der Kipppunkt ist erreicht
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
ein paar Tage sind es noch, aber wir alle können es schon in der Ferne erkennen. Die Dominosteine, der Lebkuchen und die Adventskalender haben schon lange die Supermärkte erobert. Die ersten Geschenkideen spuken vielleicht schon in Ihrem Kopf herum – oder Sie sind schon ein paar Schritte weiter und haben bereits mit der Feiertagsplanung begonnen.
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So oder so: Weihnachten kommt mit riesigen Schritten auf uns zu. Und: Gehen Sie in diesem Jahr auch in die Kirche? Für viele ist der Besuch der Christmette an Heiligabend Tradition: Die Kirchen sind so stark gefüllt wie sonst an keinem anderen Tag – häufig mit "U-Boot-Christen", also Menschen, die sich sonst nicht mehr in ein Gotteshaus verirren. Den Rest des Jahres sind sie abgetaucht.
Gut möglich, dass viele dieser Menschen den Kirchen bereits endgültig den Rücken gekehrt haben. So lesen sich zumindest die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von Kirchenmitgliedern und Konfessionslosen, die die evangelische Kirche dieser Tage in Deutschland veröffentlicht hat. Es soll die umfassendste Erhebung zu Religion und Kirche sein, die es je in Deutschland gegeben hat.
- Für die Mehrheit der Deutschen spielt Religion mittlerweile keine Rolle mehr: 56 Prozent der Befragten haben kein Interesse daran. Sogar unter evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern trifft das auf mehr als ein Drittel der Befragten zu.
- Nur noch 13 Prozent gehen häufig in Gottesdienste oder sind in ihren Kirchengemeinden aktiv. Das Durchschnittsalter in dieser Gruppe liegt bei 54 Jahren.
- Sowohl Katholiken als auch Protestanten sehen einen enormen Reformbedarf. Bei der evangelischen Kirche haben 80 Prozent der Befragten den Wunsch nach Veränderungen, bei Katholiken liegt der Wert sogar bei 96 Prozent.
- Zwei Drittel der Protestanten und drei Viertel der Katholiken schließen in Deutschland einen Kirchenaustritt nicht mehr aus. Das sollte die Kirchen vor allem aufhorchen lassen, da bereits 2022 rund 900.000 Menschen aus ihnen ausgetreten sind.
Einige von Ihnen werden bei diesen Zahlen vermutlich mit den Achseln zucken. Und ganz ehrlich: Auch ich gehöre zu denjenigen, die Religion nicht sonderlich interessiert. Dabei hätte es auch anders kommen können. Ich bin in einem katholisch geprägten Bundesland aufgewachsen, war auf einer Schule, die von einem Missionarsorden getragen wurde, und Messdiener in meinem Heimatort. Und trotzdem hatte mich die Kirche sehr schnell verloren.
Ich respektiere jeden, der aus seinem Glauben Kraft zieht – solange sie oder er auch meinen Nichtglauben respektiert und anderen Menschen nicht vermeintlich im Namen seiner Religion Schaden zufügt. Aber mit einer katholischen Kirche, die Fälle von Kindesmissbrauch vertuscht und deren Täter deckt, Homosexualität nicht akzeptiert, am Zölibat festhält, weibliche Priester nicht erlaubt und autoritäre männliche Machtstrukturen fördert, konnte ich mich schnell nicht mehr identifizieren.
Trotzdem ist es auch für mich keine gute Nachricht, dass die Kirche langsam zu verschwinden droht. Denn ein Satz der Studie ließ mich aufhorchen: "Die Kirche scheint jetzt an einem Kipppunkt angelangt zu sein, der schon in den nächsten Jahren in erhebliche Instabilitäten und disruptive Abbrüche hineinführen kann."
Kipppunkt, den Begriff kennen wir mittlerweile aus der Klimaforschung. Übersetzt bedeutet er: Die Kirche könnte bald einen Punkt erreichen, an dem sie einen irreparablen Schaden erleidet. Möglicherweise verschwindet sie sogar irgendwann ganz.
Heißt das: Gotteshäuser bleiben künftig einfach leer und ansonsten ändert sich nichts? Natürlich nicht: Kirchliche Einrichtungen betreiben Krankenhäuser, Kindergärten, Flüchtlingsunterkünfte, Pflegeheime, Sportvereine oder Krabbelgruppen. Für Millionen von Menschen sind sie Arbeitgeber in Bereichen, in denen in Deutschland ohnehin eher ein Mangel herrscht.
Dafür werden kirchliche Verbände wie die Caritas oder die Diakonie aber auch ordentlich mit staatlichen Geldern unterstützt, dürfte der ein oder andere jetzt einwenden. Falsch ist das nicht: Neben der Kirchensteuer werden die beiden Einrichtungen auch noch kräftig aus anderen Mitteln der Staatskasse finanziert. Kein Geld erhalten allerdings jene Menschen, die sich ehrenamtlich in verschiedenen Vereinigungen einbringen. 41 Prozent aller Befragten gaben in der Untersuchung an, sich im vergangenen Jahr ehrenamtlich engagiert zu haben: Die Zahl der Katholiken und Protestanten war dabei deutlich höher als die der Konfessionslosen. Fiele ihr Einsatz weg, hätte das weitreichende gesellschaftliche Folgen.
Das darf natürlich kein Freibrief für die Kirchen sein, um so weiterzumachen wie bisher. Viele der Dinge, die mich stören, tauchen in der Studie ebenfalls auf. Egal ob katholisch, protestantisch oder konfessionslos: Eine deutliche Mehrheit spricht sich etwa dafür aus, dass alle Kirchen homosexuelle Partnerschaften segnen oder Führungskräfte in Kirchen demokratisch gewählt werden. Davor dürfen die Kirchen nicht länger die Augen verschließen. Doch wie bei der Klimakrise haben manche wohl noch nicht den Ernst der Lage begriffen, nicht verstanden, was ein Überschreiten des Kipppunktes für sie bedeutet. Die Reaktion der katholischen Seite war: Man will sich intensiver mit den Ergebnissen der Studie befassen – auf der Vollversammlung im kommenden Frühjahr.
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Das 60-Milliarden-Euro-Loch
Damit hatte die Bundesregierung wohl nicht so ganz gerechnet: Das Bundesverfassungsgericht kippte am Mittwoch die Entscheidung der Ampel, übrig gebliebene Corona-Gelder in Klimahilfen umzuwidmen – und plötzlich fehlen dem Bundeshaushalt 60 Milliarden Euro.
"Deutschland steht eine Regierungskrise ins Haus, wie sie die Ampel noch nicht erlebt hat", kommentiert mein Kollege Florian Schmidt – und das zu Recht: Denn das Gericht hatte gleich drei Einwände, von denen jeder für sich ausgereicht hätte, um den Haushaltstrick für verfassungswidrig zu erklären.
Schlimmer ist nur noch: Das Ampeldreigestirn Scholz, Habeck und Lindner vermittelte gestern deutlich den Eindruck, dass es keine schnelle Lösung parat hat. Das muss schon etwas heißen. Schließlich lässt der Bundeskanzler, der frühere Finanzminister, eigentlich immer durchscheinen, alles immer und zu jeder Zeit bereits vorhergesehen zu haben.
Den passendsten Satz des Tages lieferte dazu wohl Grünen-Politiker Anton Hofreiter: "Ach was, es gibt keinen Plan", rief er gestern, bevor er in die Krisensitzung der Ampelfraktionen eilte. Heute geht die Diskussion weiter: Zum einen tagt der Haushaltsausschuss, am Nachmittag wird das Thema dann in einer aktuellen Stunde im Bundestag behandelt.
Ohrenschmaus
Wenn ich an große Löcher denke und mir dabei vorstelle, wie die Ampelpolitiker heute melancholisch verunsichert in die Zukunft blicken, muss ich direkt an dieses Lied denken.
Die Großen unter sich
Rund ein Jahr haben sie sich nicht gesehen, dabei gibt es zwischen ihnen doch so viel zu besprechen. In San Francisco hat US-Präsident Joe Biden seinen chinesischen Gegenpart Xi Jinping empfangen. Große Verantwortung hätten beide Länder, sagte der US-Präsident zu Beginn des Gipfeltreffens. Xi setzte noch einen drauf und sprach gar von der "wichtigsten bilateralen Beziehung der Welt".
Angesichts der großen Spannungen zwischen China und Amerika könnte man schon damit zufrieden sein, dass Biden und Xi sich überhaupt persönlich getroffen haben. Das Ergebnis dieses mit Erwartungen überfrachteten Gipfels ist trotzdem eher dürftig. Immerhin wollen beide Staaten sich auf militärischer Ebene wieder besser austauschen. Folgenreiche Zwischenfälle zur See oder in der Luft können so im Zweifel besser verhindert werden. Viel mehr als diesen konkreten Erfolg konnte Joe Biden nicht vermelden.
Für den Rest der Welt heißt das: Die geopolitische Lage bleibt brenzlig – ob in der Ukraine, in Israel oder in Taiwan. Vom zunehmenden wirtschaftlichen und technologischen Einfluss Chinas ganz zu schweigen.
Was steht an?
Die Bahn steht still: Bis 18 Uhr wird es auf den deutschen Schienen ruhig bleiben. So lange dauert der Streik noch, den die Gewerkschaft GDL am Mittwoch begonnen hat. Der Gewerkschaftsboss Claus Weselsky nimmt heute Morgen an einer Demonstration in Schwerin teil. Meine Kollegin Frederike Holewik schrieb schon gestern: Der Mann kriegt den Hals nicht voll.
Macht es Sánchez noch mal? Eigentlich war der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez bereits abgewählt. Jetzt hat er allerdings wieder ein Bündnis geschmiedet, das ihm weitere vier Jahre im Amt bescheren könnte. Ob das klappt? Darüber stimmt heute das Parlament in Madrid ab.
Die Biostrategie: Wie lässt sich in Deutschland die Bio-Landwirtschaft ankurbeln? Das will heute Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) vorstellen. Erklärtes Ziel der Ampelkoalition ist, den Anteil der Bio-Landwirtschaft schon bis 2030 auf 30 Prozent der gesamten Agrarfläche auszuweiten. Ende 2022 lag er bei 11,2 Prozent.
Lesetipps
Hakan Demir, geboren in der Türkei, sitzt für die SPD im Bundestag. Er will sich für Muslime einsetzen – aber auch Israel schützen. Mein Kollege Tim Kummert hat ihn begleitet.
2004 stellt dieser winzige Flieger einen großen Rekord auf. Welchen? Das lesen Sie hier.
Urs Fischer hat Union Berlin bis in die Champions League geführt. Nun ist die gemeinsame Ära tatsächlich Geschichte. Dabei zeigt der Trainer im Abschied wahre Größe, kommentiert Benjamin Zurmühl.
Zum Schluss
So kann man den Trainerwechsel natürlich auch bewerten...
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Donnerstag. Morgen kommt der Tagesanbruch wieder von Florian Harms.
Herzliche Grüße
Ihr
David Schafbuch
Stellvertretender Ressortleiter Politik, Wirtschaft & Gesellschaft
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.
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