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Klimakrise: Weltmeere sind dieses Jahr viel wärmer – was das bedeutet


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Tagesanbruch
Krasse Entwicklung: Im Meer stimmt etwas nicht

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.06.2023Lesedauer: 7 Min.
Die Ozeane sind plötzlich viel wärmer als sonst.Vergrößern des Bildes
Die Ozeane sind plötzlich viel wärmer als sonst. (Quelle: imago-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

baden gehen: Was für ein facettenreicher Ausdruck das doch ist. Der eine denkt an die Badehose, Flipflops und einen Sprung in die Brandung, die andere an einen Flop und einen Schlag ins Wasser. Neuerdings muss man sich nicht mehr entscheiden, ob man beim Badengehen ein Fiasko oder ein Vergnügen vor Augen hat. Beides lässt sich kombinieren: zum Beispiel, indem man im Urlaub ein paar Züge hinaus in den Ozean schwimmt. Wolken, Wellen, Ruhe, einfach mal die Gedanken schweifen lassen. Doch plötzlich fällt auf, da stimmt etwas nicht: Das kühle Nass ist nicht kühl genug. Die Temperatur der Ozeane scheint zur Zeit von der heimischen Badewanne inspiriert zu sein. Was ist da los?

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Das ist los: Die Weltmeere werden wärmer. Dazu kann man allerlei sagen, zum Beispiel "ach was" oder "na klar". Treibhausgase, Erderwärmung, Klimakrise: Es dürfte kaum noch jemanden in Deutschland geben, der diesen Dreiklang nicht mit geschlossenen Augen herunterbeten kann. Die Klima-Dauermisere macht vor den Ozeanen eben auch nicht halt – so weit, so vorhersehbar. Wäre das tatsächlich alles, könnten wir die unangenehme Situation mit einem Seufzer auf den großen Stapel namens "Klimadebakel" legen. Aber das warme Wasser liefert uns nicht nur einen weiteren Datenpunkt zu der immergleichen Dramatik. Die Botschaft, die von Messbojen und Satelliten aus dem Meer gefischt wird, weicht vom Erwartbaren gewaltig ab. Deshalb möchte ich versuchen, Ihnen das komplexe Phänomen zu erklären. Schenken Sie sich also ruhig noch einen Kaffee ein und lesen Sie ein paar Minuten weiter, bevor Sie diesen Text wegklicken.

Also los: Seit Jahrzehnten geht es mit den Meerestemperaturen nach oben. Genau wie an Land fällt die Entwicklung jedes Jahr ein bisschen anders aus, mal ist es kühler, mal wärmer, aber im Mittel steigt das Thermometer stetig. Die Temperaturkurve in diesem Jahr sieht allerdings so aus, als wäre der Zeichner abgelenkt gewesen und hätte sie versehentlich viel zu weit oben aufs Papier gekritzelt. Schon im März rieben sich die Fachleute zum ersten Mal die Augen, verflogen ist der Schreck seither nicht. Nicht nur werden weltweit Rekorde gebrochen, was angesichts der langfristigen Erwärmung inzwischen oft vorkommt. Es ist die Größe des Temperatursprungs in diesem Jahr und die Größe der betroffenen Meeresgebiete, die für Aufregung sorgen. Die Menge macht's.

Das warme Wasser geht nicht nur Freunde der See etwas an, sondern betrifft auch eingefleischte Landratten. Als landverbundene Geschöpfe interessiert uns die Luft, die uns umgibt, mehr als die unfassbaren Mengen an Wasser, die in den unsichtbaren Tiefen der Ozeane verborgen sind. Damit stellen wir die tatsächlichen Verhältnisse zumindest beim Klima auf den Kopf. Denn immer größere Anteile der Energie, mit der die Sonne unseren Planeten aufheizt, bleibt unter der Käseglocke unserer Abgase auf der Erde gefangen, statt wieder in den Weltraum abgestrahlt zu werden – sie muss hienieden also irgendwo bleiben: nämlich im Wasser. Nur zu einem Bruchteil wird der Energieüberfluss in der wärmer werdenden Atmosphäre gespeichert. Die Meere erledigen den eigentlichen Job. Und dann strecken sie ihren langen Arm in Richtung Land aus.

Video | Experten schlagen Alarm – auffällige Veränderung im Atlantik
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Quelle: t-online

Denn auch Wetter und Klima werden wesentlich auf See zusammengekocht. Meeresströmungen wie der Golfstrom karren riesige Mengen warmen karibischen Wassers vor die Küsten Europas. Die Zirkulation hat mit milden Temperaturen und fruchtbarem Niederschlag unseren Kontinent geprägt, unserer Zivilisation und unserem Wohlstand auf die Sprünge geholfen. Maritime Atmosphäre herrscht auch im täglichen Wetterbericht: Azorenhoch und Islandtief wälzen Luftmassen umher und bringen uns das Wetter von morgen. Die himmlische Berieselung von Äckern und Vorgärten muss vorher erst einmal aus den Meeren verdunsten. Deren Macht ist überall zu spüren. Man kann es sich leicht ausmalen: Wenn auf See das Thermostat aufgedreht wird, bleibt an Land kein Auge trocken.

Angesichts der erschreckenden Entwicklung der Meerestemperaturen in diesem Jahr würde man also dringend wissen wollen, wie das kommt und was es bedeutet. Die Forschung hat dazu Folgendes zu sagen: Tja, äh, nun ja. An Erklärungsansätzen hat es keinen Mangel, im Gegenteil, es gibt sogar ein paar zu viele. Die dramatische Erwärmung im Nordatlantik könnte zum Beispiel so zustande kommen: Derzeit schwächeln die Passatwinde, die von Osten über den Atlantik blasen. Deshalb kühlen sie die Wasseroberfläche weniger ab als sonst, und das Wasser heizt sich auf. Es könnte aber auch am Saharasand liegen, den der Passat mit sich trägt. Die feinen Sandkörner würden eigentlich einen Teil des Sonnenlichts reflektieren, bevor dieses das Meer aufheizt – was bei schwachem Passatwind jedoch unterbleibt. Vielleicht hat sich auch der mächtige Nordatlantikwirbel abgeschwächt, ein System von Meeresströmungen, das in einer Art Kreisverkehr Wasser zwischen Europa, Afrika und Amerika hin und her befördert. Eine Rolle könnte außerdem die Reduzierung der Schwefelemissionen spielen, die ... hallo? Sind Sie noch da? Puh, sehr gut, ich hatte schon Sorge. Mit den anderen Begründungen verschone ich Sie, versprochen.

Möglich ist also vieles, so richtig klar aber nichts. Uneinigkeit herrscht selbst über die grundlegendste aller Fragen: ob die gegenwärtige Extremerwärmung ein Alarmzeichen dafür ist, dass endgültig die Hütte brennt und wir auf einen gefährlichen Kipppunkt zudriften oder ob in Sachen Klimakrise noch immer Business as usual herrscht und die stetige Dauererwärmung nur einen kurzfristigen Schubser bekommen hat. Schlimm genug wäre aber auch das.

Für den Mangel an Übereinstimmung und das Überangebot an Erklärungen können die Wissenschaftler übrigens nichts. Klimaforschung ist komplex, da rauchen auch Forschern die Köpfe. Aber die dramatische Erwärmung der Meere wirft nicht nur drängende Fragen auf. Sie illustriert, dass wir zwar mitten in der Klimakrise stecken – in entscheidenden Bereichen aber noch immer im Blindflug agieren.

Ich bin mir deshalb gewiss, dass es höchste Priorität genießt, die Wissenslücken zu schließen, und bei Klima- und Meeresforschern das Telefon schon lange nicht mehr stillsteht. Am anderen Ende des Apparats: alles aus der Politik, was Rang und Namen hat, sowie die Spitzenbeamten des Kanzleramts und mehrerer Ministerien, die mehrmals in der Woche nachfragen, ob Bedarf an weiteren Satelliten, Messstationen, dem Ausbau von Rechenzentren oder einer Forschungsexpedition besteht. Gibt es in den Instituten genug Stellen, haken die Anrufer besorgt nach – natürlich langfristig gesichert, ohne Gehangel von Zeitvertrag zu Zeitvertrag? Keine Sorge, ergänzen sie rasch, das mit der Finanzierung kriegen wir schon hin! Wir brauchen schließlich Antworten, und wir brauchen sie schnell. Es geht ja ums Ganze. Nicht, dass wir baden gehen.

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Was, Sie sagen, ich habe mir das nur ausgedacht? Es klingelt gar nicht ständig das Telefon? In Wahrheit schert sich niemand in der Politik wirklich um die bedrohliche Entwicklung in den Weltmeeren? Tja, dann haben Sie leider recht. Umso wichtiger, dass sich das sofort ändert. Herr Scholz, bitte übernehmen Sie!


Habeck auf Tour

Robert Habeck übernimmt erst mal anderes: Fast wirkt es so, als wolle sich der Wirtschafts- und Klimaschutzminister nach dem nervenzehrenden Streit um sein Heizungsgesetz vergewissern, dass doch noch was vorangeht im Land. Jedenfalls begibt er sich heute auf große Besichtigungstour. Zunächst steht am Morgen die Eröffnung des Großen Wellenströmungskanals in Hannover auf dem Programm. Gemeinsam mit Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil nimmt der Vizekanzler die mehr als 35 Millionen Euro teure Anlage in Betrieb. Sie soll die Bedingungen im Meer so realitätsnah wie möglich nachstellen, um Offshore-Windkraftanlagen besser darauf auszurichten. Am Nachmittag flitzt der Minister weiter nach Bremerhaven, wo er mit dem Bremer Bürgermeister Andreas Bovenschulte im Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme einen Rotorblatt-Prüfstand eröffnet. Weil die Rotorblätter von Windrädern nämlich immer größer werden, kommen die bestehenden Prüfstände an ihre Grenzen. Der neue soll Blätter mit einer Länge von mehr als 120 Metern prüfen können. Und wo er schon mal in der Gegend ist, schaut sich Herr Habeck anschließend auch noch den neuen Forschungspark Windenergie in Krummendeich an.

Wellen, Wind, Fortschrittstechnologie: Geht doch mit dem Klimaschutz!


Aufruhr in Frankreich

In Frankreich reißen die Krawalle nach dem tödlichen Polizeischuss auf einen Jugendlichen in Nanterre nicht ab: Auch gestern kam es beim Protestmarsch durch den Pariser Vorort wieder zu Gewalttätigkeiten, die Polizei setzte Tränengas gegen Demonstranten ein. Mit 40.000 Beamten wollte Innenminister Gérald Darmanin die Lage in den Griff bekommen, rund um die Hauptstadt wurde ab 21 Uhr der Bus- und Straßenbahnverkehr eingestellt. Dessen ungeachtet laufen hierzulande die Vorbereitungen für den Besuch von Emmanuel Macron auf Hochtouren: Der wird am Sonntag mit Ehefrau Brigitte zum ersten Staatsbesuch eines französischen Präsidenten in Deutschland seit 23 Jahren (!) erwartet. Bienvenue!


Herr Palmer kommt zurück

Boris Palmer hat für Entgeisterung gesorgt: Weil er bei einer Migrationskonferenz mehrmals den rassistischen Begriff "Neger" verwendete und Kritik daran mit absurden Judenstern-Vergleichen konterte, hatte sich Tübingens ehemals grüner Oberbürgermeister im Juni selbst eine Auszeit verordnet. Heute Abend tritt er beim Fassanstich auf dem Tübinger Sommerfest erstmals wieder öffentlich auf. Hoffentlich geläutert.


Ohrenschmaus

Habe einen alten Kracher wiederentdeckt: Yeah!


Lesetipps

Wie stark ist Putin nach dem Putschversuch angeschlagen und was folgt daraus für den Krieg in der Ukraine? Der Militärexperte Marcus Keupp erklärt es im Gespräch mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.


Unterdrückte Beweismittel, manipulierte Protokolle: Versuchen griechische Behörden eine Mitschuld am Sinken des Flüchtlingsbootes mit mehr als 500 Menschen zu vertuschen? Was die Kollegen der ARD berichten, ist brisant.


Bergungsteams ziehen die Trümmerteile des U-Boots "Titan" aus dem Atlantik. Können sie die Ursache des Unglücks erklären? Meine Kollegin Liesa Wölm bringt Sie auf Stand.


Zum Schluss

Probleme sind immer nur so groß, wie man sie werden lässt.

Ich wünsche Ihnen einen unproblematischen Tag. Morgen haben wir einen besonderen Gast im Wochenend-Podcast.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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