Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Trümmerteile der "Titan" geborgen "Die Wucht der Implosion war enorm"
Aus dem Atlantik werden nach und nach Trümmerteile der "Titan" gezogen. Helfen sie, die Ursache des tödlichen Unglücks zu finden – und gibt es Hoffnung für die Familien, Leichen bestatten zu können?
Seit elf Tagen arbeiten Einsatzkräfte im Nordatlantik rund um die Uhr: zunächst um das Tauchboot "Titan" zu suchen, nun um seine Trümmerteile zu bergen. Denn seit vergangenem Donnerstag steht fest: Das Tauchboot ist auf dem Weg zum Schiffswrack der "Titanic" implodiert. Experten vermuten, dass die fünf Insassen einen plötzlichen Tod gestorben sein müssen – denn eine Implosion dauert nur wenige Millisekunden.
Maschinen bringen nun nach und nach Trümmerteile des verunglückten Tauchbootes an die Meeresoberfläche. Besonders aufsehenerregend sind Aufnahmen von großen Wrackteilen, die im Hafen von Neufundland in Kanada zum Transport bereitgemacht wurden. Zudem meldete die amerikanische Küstenwache am Mittwoch, dass "mutmaßlich menschliche Überreste" gefunden worden seien (hier lesen Sie mehr dazu).
Aber was wurde bislang genau geborgen, welche Erkenntnisse können die Unglücksforscher daraus ziehen – und gibt es eine Chance, noch Leichname in den Trümmern zu finden?
Kein Fenster gefunden
"Die großen weißen Teile sind die Abdeckungen, die auf dem Druckkörper montiert waren, um dem U-Boot eine strömungsgünstigere Form zu geben", erklärt U-Boot-Experte Nils Theinert im Gespräch mit t-online. Er ist Doktorand am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. Die Abdeckungsteile hätten keine zentrale technische Funktion.
Bei den Aufnahmen des Wrackteils mit den zahlreichen Kabeln handle es sich um den hinteren Teil des Tauchboots, der hinter dem Druckkörper gelegen und technische Komponenten enthalten habe, die dem Wasserdruck ausgesetzt werden konnten, sagt Theinert. "Zudem wurde mindestens die vordere der beiden Titanhalbschalen geborgen." Diese habe sowohl den zylindrischen Druckkörper aus Kohlefaser vorne und hinten abgeschlossen als auch die Ringe, die Titan und Kohlefaser verbanden. Das Fenster aus Acrylglas scheine zu fehlen, erläutert der Experte.
Größe der Wrackteile nicht verwunderlich
Nachdem die US-Küstenwache vergangene Woche das Trümmerfeld aus Wrackteilen des Tauchboots entdeckt hatte, sprach sie von einer "katastrophalen Implosion". Die Größe der nun geborgenen Wrackteile ist in Anbetracht dessen nicht verwunderlich. "Wenn das U-Boot zusammengedrückt wurde, sind das Teile, die nicht weiter komprimierbar sind", sagt U-Boot-Experte Philippe Epelbaum zu t-online, selbst Betreiber eines Tauchtourenunternehmens in der Schweiz. Nach der Implosion sei der Wasserdruck bei einem flachen Teil, wie etwa der Abdeckung, auf beiden Seiten gleich, sagt Epelbaum.
Anders sieht es beim menschlichen Körper aus. "Die Wucht der Implosion war enorm", sagt Epelbaum. Das habe vor allem Einfluss auf Objekte, die noch Luft beinhalteten – wie etwa Knochen. "In 1.000 Metern Tiefe ist der Druck so groß, dass er Knochen komplett zerdrückt. Die Insassen werden nur noch über Kleidung und DNA-Spuren identifizierbar sein", so der Experte.
Philippe Epelbaum
ist selbst U-Boot-Pilot und CEO und Gründer der Schweizer Firma Subspirit AG. Das Unternehmen bietet U-Boot-Tauchgänge für Touristen an. Epelbaum ist seit 20 Jahren technischer Taucher.
Nils Theinert ergänzt: "Dass die US-Küstenwache von 'menschlichen Überresten' spricht, deutet darauf hin, wie zerstörerisch die schockartige Implosion auf die Körper der Insassen gewirkt haben muss." Für die Angehörigen der Verstorbenen gibt es demnach nahezu keine Hoffnung, eine Trauerfeier mit den Leichnamen vollziehen zu können.
Ähnliche Untersuchungen wie bei einem Flugzeugabsturz
Für die Rekonstruktion des Unfallhergangs sind beiden Experten zufolge jedoch vor allem die Wrackteile der "Titan" von Bedeutung. Man könne damit etwa spezifizieren, wie stark die Implosion gewesen sein muss, sagt Epelbaum.
Dies laufe ähnlich ab wie bei einem Flugzeugabsturz – auch wenn es in diesem Fall keine Blackbox gebe, sagt Theinert. "Jedes Trümmerteil wird genau untersucht." Hierbei werde insbesondere der zylindrische Druckkörper aus Kohlefaser im Fokus stehen, den keine Klassifikationsgesellschaft zertifiziert hat und den Experten in der Vergangenheit als großes Sicherheitsrisiko eingestuft hatten.
Nils Theinert
ist Historiker und arbeitet zurzeit als Doktorand am Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. In seiner Dissertation untersucht er die Geschichte von militärischen U-Booten und wissenschaftlichen Forschungstauchbooten nach 1945.
Bei der Untersuchung würden die Kohlefaserteile unter dem Mikroskop betrachtet, um Rückschlüsse auf mikroskopische Risse und andere Mängel zu ziehen. "Daraufhin wird ermittelt, ob diese Risse auftraten, weil der Druckkörper nicht richtig getestet wurde, weil er keinen Zertifizierungsprozess durchlaufen hatte", sagt Theinert.
"Titan ist elastisch, Kohlefaser eher steif"
Als besonders gefährlich schätzten Experten die Schnittstellen zwischen den Halbkugeln aus Titan und dem Kohlefaserzylinder ein: "Hier treffen zwei Werkstoffe mit unterschiedlichem Verhalten unter Druck aufeinander", erklärt Theinert. "Titan ist elastisch, Kohlefaser eher steif. Bei jedem Tauchgang wurde das U-Boot durch den Wasserdruck zusammengedrückt und dehnte sich beim Auftauchen wieder aus." Das sei immer eine große technische Herausforderung.
Die Behörden in Kanada betonen derweil, dass neben der Begutachtung des Wracks auch die menschliche Komponente bei den Untersuchungen eine Rolle spiele. "Die 'Titan' ist nur eine Komponente des Versagens", sagte Ermittler Marc-André Poisson. Auch mehrere menschliche Faktoren könnten zum Unfall beigetragen haben.
Dauer der Bergungsarbeiten ungewiss
Wie lange die Bergungsarbeiten an der Unglücksstelle noch andauern werden, ist den beiden U-Boot-Experten zufolge noch ungewiss. "Es handelt sich um eine sehr komplexe Operation, da der Unfall in internationalen Gewässern passierte und nicht ganz klar ist, wer zuständig ist", sagt Theinert. Das Mutterschiff der "Titan" sei in Kanada registriert gewesen, das Tauchboot selbst auf den Bahamas, um die Zertifizierung zu umgehen, und die Firma sitze in den USA.
Epelbaum ergänzt: "Ich gehe nicht davon aus, dass da noch lange gesucht wird." Die derzeitige Aktion sei sehr teuer. "Aber vielleicht werden die Angehörigen die Suche privat weiterfinanzieren, wenn sie eingestellt wird", sagt der Experte mit Blick auf die teils wohlhabenden Personen an Bord. Lesen Sie hier mehr zu den verstorbenen "Titanic"-Abenteurern.
Der Chefermittler der US-Küstenwache, Jason Neubauer, betonte am Mittwoch: "Es bleibt noch viel zu tun, um die Faktoren zu verstehen, die zum katastrophalen Verlust der 'Titan' geführt haben, und um sicherzustellen, dass sich eine ähnliche Tragödie nicht wiederholt."
- Interview mit Philippe Epelbaum und Nils Theinert am 29. Juni 2023
- cbc.ca: "'Presumed human remains' found at Titan debris site, says U.S. coast guard" (englisch)