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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experten ordnen ein "Der 'Wolfsgruß' ist rechtsextrem und nichts anderes"
Der türkische Doppeltorschütze Merih Demiral zeigte nach dem Sieg im EM-Achtelfinale gegen Österreich den "Wolfsgruß". Experte Dr. Ismail Küpeli ordnet ein. Autorin Düzen Tekkal beschreibt die Wirkung auf Betroffene.
Der türkische Nationalspieler Merih Demiral hat im EM-Achtelfinale viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er hat zwei Tore geschossen – und hinterher mit dem Zeigen des rechtsextremen "Wolfsgrußes" gefeiert. Dieser Gruß zeigt die Verbundenheit mit der Ideologie der Grauen Wölfe. Im Interview nach dem Spiel sprach Merih Demiral allerdings davon, er habe nur seine "türkische Identität" zum Ausdruck bringen wollen, und dass er stolz darauf sei, ein Türke zu sein. Außerdem hätten andere im Stadion die Geste auch gezeigt.
Wie eindeutig ist der "Wolfsgruß"?
Lässt sich der Wolfsgruß auch so interpretieren? Dr. Ismail Küpeli von der Ruhr-Universität Bochum ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Grauzone Graue Wölfe – Handlungsstrategien im Umgang mit der ultranationalistischen
Ülkücü-Bewegung". Er sagt: "Der Wolfsgruß ist ein eindeutiges rechtsextremes Symbol. Es ist ein klares Bekenntnis zu den Grauen Wölfen, das sich nicht umdeuten lässt. Es drückt nicht aus, einfach türkisch zu sein."
Die Aussage des Spielers vor den Kameras überzeugt ihn nicht: "Das ist eine Schutzbehauptung. Auch wenn jemand vielleicht nicht die ganze mythische Ursprungsgeschichte kennt, ist die politische Bedeutung des 'Wolfsgrußes' nicht wegzuleugnen." Der Gruß stehe für Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, sei antipluralistisch und antidemokratisch gemeint. Küpeli sagt: "Und diejenige, die angegriffen werden durch den Gruß, die Kurden, Aleviten, Jesiden, die wissen auch genau, dass ihnen damit Angst gemacht werden soll." Mehr zu den Grauen Wölfen lesen Sie hier.
"Ich habe heute Nacht nicht geschlafen"
Eine, die diese Beobachtung stützen kann, ist Düzen Tekkal, Politikwissenschaftlerin und Autorin. Ihre Familie, kurdische Jesiden, floh aus der Türkei nach Deutschland. Wie geht es ihr angesichts des "Wolfsgrußes" auf der großen Leinwand? "Ich habe heute Nacht nicht geschlafen", sagt Düzen Tekkal, "Sie können gar nicht überschätzen, wie groß die Wirkung solcher Gesten auf Betroffene ist." Es seien Traumata, die wieder aufgerissen werden, weil Menschen ja wegen der Verfolgung in der Türkei als Minderheiten nach Deutschland geflohen sind: "Das sind Urängste, die mit so einer Geste zurückkommen."
Der "Wolfsgruß" ist für sie kein Kavaliersdelikt, sondern das Bekenntnis zu einer Organisation, die der Verfassungsschutz seit Jahren als die größte rechtsextreme Gruppe Deutschlands einordnet. "Es ist eine Absage an so viele Identitäten, die damit ausgeschlossen werden", sagt Tekkal, "und es die Zustimmung zum Faschismus mit Vernichtungsabsicht. Für Anhänger der Grauen Wölfe sollen die Kurden, die Aleviten, die Armenier, die Jesiden nicht nur nicht mehr als türkisch gelten. Sie sollen gar nicht mehr existieren."
Das Postfach voller Morddrohungen
Seit Jahren kämpft Düzen Tekkal für ein Verbot der Grauen Wölfe in Deutschland, spricht als Expertin im Bundestag. Dass das Verbot immer noch nicht erlassen ist, sieht sie als massives Problem. Sie sagt: "Das ist eine Ermutigung an die Täter."
Und was die Anhänger der auch als Ülkücü-Bewegung bekannten Grauen Wölfe wollen, erlebt sie als Expertin und Aktivistin für Menschenrechtsverletzungen in der Türkei auch ganz praktisch. Sie möchte zum Rechtsextremismus in der Zuwanderungsgesellschaft nicht schweigen, aber nach jeder Äußerung quelle ihr E-Mail-Postfach mit expliziten Morddrohungen über. Es seien Menschen, die sich durch eine öffentliche Präsentation des "Wolfsgrußes" ermutigt fühlen, auch in Deutschland Betroffene anzugehen und anzugreifen.
"Er nimmt ihnen die Freude am Sieg"
"Ich hatte überlegt, ob ich jetzt die Party vermiesen muss, wenn ich nach dem EM-Sieg mit dem Thema anfange", sagt Tekkal, "aber hier wird offener Faschismus propagiert, und das am Jahrestag des Massakers von Sivas." Bei diesem Anschlag am 2. Juli 1993 starben 33 Aleviten in einem Haus, das unter dem Jubel von rassistischer türkischer Bevölkerung in Brand gesetzt wurde. Sivas wurde zu einem Symbol des Hasses gegen die religiöse Minderheit der Aleviten.
Aber ist der Jahrestag einem Fußballspieler bewusst? Tekkal sagt, Demiral sei auch schon vorher mit einer Identifikation zu den Grauen Wölfen aufgefallen. Mehr dazu lesen Sie hier. "Und auch wenn er seine Meinung wie selbstverständlich darstellt und verteidigt, wird sie damit nicht legitimer", sagt Tekkal. Immerhin konnte sie feststellen, dass es nicht sie ist, die die Party stört, wenn sie das Thema anspricht. "Viele meiner türkischen Freunde ärgern sich maßlos, dass Demiral so einen Moment missbraucht und ihnen damit die Freude am Sieg nimmt."
- Telefon-Interview mit Ismail Küpeli, 03.07.2024
- Telefon-Interveiw mit Düzen Tekkal, 03.07.2024