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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rassistischer Sylt-Song Die Wahrheit ist noch sehr viel schlimmer
Wie verbreitet ist das Skandieren des rassistisch interpretierten Songs aus dem Sylt-Video und was bedeutet das für die deutsche Gesellschaft? Zwei Experten geben Antworten.
Seit ein Song mit rassistisch interpretiertem Text in einer Nobel-Disko auf Sylt skandiert worden ist, gibt es bundesweit immer mehr Meldungen vergleichbarer Vorfälle. Wie verbreitet ist das Phänomen?
Musikwissenschaftler Thorsten Hindrichs von der Universität Mainz beobachtet das Phänomen schon länger: "Diese rassistische Uminterpretation des Gigi-D'Agostino-Songs ist seit Monaten ein bundesweites Phänomen, bei Betriebsfeiern, bei der Kirmes, in Discos." Diesmal habe der Vorfall viel Aufmerksamkeit bekommen, "weil viele das den Reichen und Schönen doch nicht so zugetraut haben. Aber das ist eine naive Überraschung. Alle Studien zeigen: Rassismus ist milieu-unabhängig."
Ähnliches berichtet Dominik Schumacher vom Bundesverband Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus: "Besonders aus dem ländlichen Raum erreichen uns bundesweit Meldungen über Schützenfeste oder Partys, auf denen das Lied aufgelegt wird. Es ist melodisch und lässt sich gut mitsingen. Und der inhaltliche Rassismus ist leider durchaus anschlussfähig in der Gesellschaft."
Zur Person
Dr. Thorsten Hindrichs ist Musikwissenschaftler an der Universität Mainz. Einer seiner Schwerpunkte ist Rechtsextremismus und Musik.
Dominik Schumacher ist ein Sprecher des Bundesverbandes Mobile Beratung e.V. und Mitarbeiter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Düsseldorf.
Sind die Singenden alle Rassisten oder rechtsextrem?
Aber sind diejenigen, die die Neonazi-Parole "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" zu Popmusik mitgrölen, denn wirklich Rassisten? Einige der Beteiligten, die sich geäußert haben, führten an, betrunken oder von der Gruppe oder der Musik mitgerissen worden zu sein. Musikwissenschaftlicher Hindrichs lässt das so nicht gelten. Denn auch wenn Alkohol, Feierstimmung oder Musik enthemmen, sagt er: "Es ist eine offen extrem rechte, rassistische Parole. Wer so etwas mitsingt, der hat auch eine entsprechende Einstellung. Die kommt zwar offener zum Vorschein, wenn durch Enthemmung die Selbstkontrolle wegfällt, aber die Einstellung ist vorher da."
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Schumacher, der mit den mobilen Beratungsteams nicht nur beobachtet, sondern auch Gegenstrategien entwickelt, weist aber auch darauf hin: "Die Menschen, die mitsingen, nehmen den Text und auch sich selbst nicht als rassistisch oder rechtsextrem wahr. Eine Grundmelange aus Rassismus und Nationalismus ist in Deutschland durchaus mehrheitsfähig – vor allem im sogenannten vorpolitischem Raum, wie in einer Disco, in der dieser Song gespielt wird. Das macht den Song aber nicht weniger problematisch für von Rassismus Betroffene."
Verbreitung über Social Media
Für Schumacher gibt es verschiedene Faktoren, die bei der Ausbreitung der rassistischen "L'amour toujours"-Version eine Rolle spielen. Ein Katalysator für die weite Verbreitung des Songs sei etwa die Plattform TikTok: "Das Ursprungsvideo, in dem diese rassistisch umgedeutete Version das erste Mal zu hören war, zeigte in Mecklenburg-Vorpommern eine rechtsextreme Gruppe in der Disco." Insofern feiere gerade auch die rechtsextreme Szene: "Sie feiern den Song und diese Debatte als riesigen metapolitischen Erfolg. Sie wollen Rassismus im Alltag platzieren, rechtsextreme Themen in die Alltagskultur einfließen lassen. Das ist hier geglückt." Ein Faktor, der geholfen habe, sei auch die Ironie-Kultur in sozialen Medien: "Nichts wird mehr ernst genommen, alles wird als ironische Überspitzung inszeniert. Dazu fehlt das Einfühlungsvermögen, dass es auch Betroffene gibt."
Musikwissenschaftler Hindrichs ergänzt: "Es gibt Codes und Memes der rechtsextremen Szene, die sind für Außenstehende schwer verständlich. Aber bei dem Text, der offen Neonazi-Parolen zitiert, ist das eine billige Ausrede."
Ausdruck von Empathielosigkeit
Dominik Schumacher ist es trotzdem wichtig, die Vorfälle differenziert zu betrachten: "Das sind jetzt nicht Discos und Feste voller Neonazis, das ist Alltagsrassismus und vor allem viel Empathielosigkeit. Es scheint die Menschen nicht zu interessieren, was Menschen fühlen, die von Rassismus betroffen sind." Die fühlten sich bestenfalls ausgeschlossen und schlimmstenfalls massiv bedroht, wenn eine ganze Feier "Ausländer raus" singt.
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Auch für die Präventionsarbeit hält er das für einen wichtigen Aspekt. Wenn etwa der Song nun in Internaten von jungen Menschen gesungen wird, sei es erfolgversprechender, mit den Jugendlichen darüber zu sprechen, was die Darbietung mit Betroffenen macht, statt alle Anwesenden als Nazis abzustempeln: "Wie wirkt das auf die, die sich gemeint fühlen? Fast jeder hat heutzutage ja Freunde oder Bekannte, die sich davon betroffen fühlen können."
Schockierend an tanzenden Hallen voller Menschen, die zu diesem Song grölen, ist für viele auch die mangelnde Gegenwehr, das Schweigen der Anwesenden. Andererseits sind die vielleicht auch überfordert. Was wären gute Gegenmaßnahmen? Thorsten Hindrichs sieht das pragmatisch: "Gegenrede in der Disco heißt: zum Veranstalter gehen, zum Personal gehen, zur Security gehen und um Hilfe bitten." Dominik Schumacher kann sich auch kreative Gegenstimmen vorstellen: "Am besten sollten wir die Melodie neu besetzen und einen besseren Text erfinden, den wir darüber singen können. Eingängig und simpel kann auch ein deutlich menschenfreundlicherer Text sein."
- Telefonat mit Dr. Thorsten Hindrichs, 27.05.2024
- Telefonat mit Dominik Schmacher, 27.05.2024