Missbrauchsskandal von Lügde Polizei hatte bereits vor 17 Jahren konkrete Spur
Drei Männer sind mutmaßlich am massenhaften Kindesmissbrauch in Lügde beteiligt gewesen. Nun werden ihre Taten vor dem Detmolder Landgericht verhandelt.
Fünf Monate nach Bekanntwerden des massenhaften Kindesmissbrauchs von Lügde wird einer der größten Missbrauchsskandale der vergangenen Jahrzehnte vor Gericht aufgerollt: Vor der dritten Strafkammer des Landgerichts Detmold beginnt am Donnerstag der Prozess gegen die drei Hauptbeschuldigten in der jahrelangen Missbrauchsserie auf dem Campingplatz der Kleinstadt im Lipperland. Über 40 Kinder sollen seit 1998 in der vermeintlichen Campingidylle missbraucht worden sein.
Angeklagt sind der 56-jährige Andreas V. aus Lügde, der 49 Jahre alte Heiko V. aus dem niedersächsischen Stade und der 34-jährige Mario S. aus Steinheim im nordrhein-westfälischen Kreis Höxter. Allein dem Ex-Dauercamper Andreas V. legt die Detmolder Staatsanwaltschaft 298 Straftaten zur Last, die er im Sommer 1998 und seit Anfang 2008 bis Ende 2018 an 23 Kindern begangen haben soll.
Kinder sollten sich gegenseitig anfassen
Unter anderem soll er an Kindern den Beischlaf vollzogen oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihnen vorgenommen haben, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden gewesen sein sollen. Auch soll er zwei Kinder veranlasst haben, sexuelle Handlungen aneinander vorzunehmen.
Der 34-jährige Mario S. soll von 1999 bis zum Januar dieses Jahres in 162 Fällen sexuellen und schweren sexuellen Missbrauch von Kindern begangen haben. Der Angeklagte aus Steinheim soll sich dabei an acht Mädchen und neun Jungen vergangen haben.
27 Opfer als Nebenkläger
Dem Angeklagten Heiko V. wirft die Anklage unter anderem in zwei Fällen Anstiftung zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, in einem Fall Beihilfe zum sexuellen Kindesmissbrauch und in einem weiteren Fall die Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind vor. Der Mann aus Stade soll von Herbst 2010 bis zum Frühjahr 2011 in mindestens vier Fällen an Webcam-Übertragungen von Andreas V. teilgenommen haben.
In dem Prozess vor der Detmolder Jugendschutzkammer werden 27 Opfer als Nebenkläger auftreten. Wie meist in solchen Verfahren dürfte auch im Lügde-Prozess dem Opferschutz ein großer Stellenwert beigemessen werden – die meisten der betroffenen Kinder waren zu den Tatzeiten zwischen drei und 14 Jahre alt.
Werden sich die Angeklagten äußern?
So lässt sich derzeit nicht vorhersagen, welche Teile des Prozesses öffentlich geführt werden und wann die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen wird. Mit Spannung wird zudem erwartet, ob sich die Angeklagten zu den Vorwürfen äußern werden. In Missbrauchsprozessen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Opfern durch Geständnisse der Angeklagten Vernehmungen im Zeugenstand erspart bleiben können.
Während das Landgericht Detmold nun an zunächst zehn Verhandlungstagen die strafrechtlichen Vorwürfe gegen die drei Männer prüfen wird, dauert die gesellschaftliche Debatte über Konsequenzen aus der jahrelang unentdeckt gebliebenen Missbrauchsserie unvermindert an. Erst vergangene Woche brachte der Düsseldorfer Innenminister Herbert Reul (CDU) vor dem Hintergrund des Falls Lügde strukturelle Reformen bei den Kinderpornografie-Ermittlungen der nordrhein-westfälischen Polizei auf den Weg.
Zu große Datenmengen für Ermittler
Reul forderte unter anderem die NRW-Kreispolizeibehörden auf, das Personal bei Ermittlungen zu Kinderpornografie und Kindesmissbrauch in den jeweiligen Dienststellen zu verdoppeln. "Ich bin fest entschlossen, die Polizei hier handlungsfähig zu machen", erklärte Reul und verwies auf eine aktuelle Bestandsaufnahme, wonach in NRW von derzeit 1.895 anhängigen Verfahren in diesem Deliktsbereich nur 228 in der Auswertung sind.
Allein 557 Durchsuchungsbeschlüsse nordrhein-westfälischer Gerichte warten demnach noch auf ihre Vollstreckung. "Diese Zahlen zeigen klar: Die Ermittlerinnen und Ermittler in den Behörden schaffen es nicht, den riesigen Datenmengen Herr zu werden", betonte Reul.
Auch ein politisches Nachspiel werden der Missbrauchsskandal und die zutage getretenen Versäumnisse staatlicher Stellen haben: Am Mittwoch setzte der Düsseldorfer Landtag einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein. Das Parlamentsgremium soll das Vorgehen der Ermittlungsbehörden, der Jugendämter und der NRW-Landesregierung im Fall Lügde durchleuchten. Dabei will die Landtagsopposition auch Behördenentscheidungen im Verantwortungsbereich von Reul kritisch hinterfragen.
Schon vor 17 Jahren Hinweise zu Andreas V.
Dass die Behörden im Missbrauchsskandal Lügde womöglich Hinweise ignoriert haben, zeigt auch ein spezifischer Fall aus dem Jahr 2002. Nach einem Bericht von tagesschau.de soll es schon vor 17 Jahren konkrete Missbrauchsvorwürfe gegen den Hauptverdächtigen Andreas V. gegeben haben. Demnach soll ein Kind Ende der 1990er-Jahre auf dem Campingplatz von Lügde nach dem Spielen nach Hause gekommen sein und der Mutter gesagt haben: "Mama, Penis lecken schmeckt nicht". Die Tochter nannte in diesem Zusammenhang den Namen "Addi".
Die Mutter habe den Fall daraufhin dem Campingplatzwart gemeldet, der Andreas V. jedoch verteidigte. Dem Bericht zufolge kann sich der Campingplatzwart heute nicht an einen derartigen Vorfall erinnern. Zwei Jahre später verdächtigte die Mutter ihren Ehemann, die Tochter zu missbrauchen. Sie erstattete Anzeige gegen ihn, berichtete auch von der damaligen Campingplatz-Situation mit "Addi". Andreas V. geriet jedoch nicht ins Visier der Ermittlungen. Wie die Staatsanwaltschaft Köln zu tagesschau.de sagt, sei damals kein Anfangsverdacht gegeben worden sein. Die Vermutungen der Mutter seien zu vage gewesen.
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2002 beschuldigte der Vater des betroffenen Kindes Andreas V. ebenfalls des Missbrauchs. Es wurde ein offizielles Verfahren gegen den Verdächtigen eröffnet, welches die Staatsanwaltschaft Detmold leitete. Heute, 17 Jahre und 298 Missbrauchsfälle später, ist nicht klar, wann und warum die Ermittlungen im Sande verliefen. Laut dem Bericht will sich die Staatsanwaltschaft Detmold nicht dazu äußern.
- Nachrichtenagentur AFP
- tagesschau.de: Konkreter Verdacht schon vor 17 Jahren