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Tatort Tegernsee: War der "Badewannen-Mord" etwa gar keiner?


Tatort Tegernsee
War der "Badewannen-Mord" etwa gar keiner?

Aktualisiert am 20.10.2019Lesedauer: 6 Min.
Rottach-Egern am Tegernsee: 2012 wurde Manfred Genditzki wegen eines vermeintlich dort begangenen Mordes verurteilt.Vergrößern des Bildes
Rottach-Egern am Tegernsee: 2012 wurde Manfred Genditzki wegen eines vermeintlich dort begangenen Mordes verurteilt. (Quelle: Westend61/www.manfred-genditzki.eu/imago-images-bilder)
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Eine alte Frau wird 2008 tot in der Badewanne ihrer Wohnung gefunden. War es Mord? Ein Hausmeister wird verurteilt. Doch mittlerweile deutet vieles auf seine Unschuld hin. Darunter eine Zeugin.

Es ist der 28. Oktober 2008, kurz vor 18.30 Uhr. Eine Pflegedienstmitarbeiterin will nach Lieselotte Kortüm schauen. Die 87-Jährige lebt in Rottach-Egern am Tegernsee. In ihrer Wohnungstür steckt der Schlüssel. Der Hausmeister hat ihn dort hinterlassen. Er war drei Stunden zuvor ins benachbarte Wiessee gefahren, um für die alte Dame einzukaufen.

Er hat das Pflegeunternehmen vom "Schlüssel in der Tür" telefonisch informiert und will Kortüm die Einkäufe am anderen Tag bringen. Die Pflegerin ist überrascht, als sie die Wohnung betritt, denn es ist ungewöhnlich still. Sie schaut im Schlafzimmer, im Wohnzimmer und in der Küche nach. Da ist niemand. Nur im Bad plätschert leise Wasser aus aufgedrehten Hähnen.

Ein Spalt breit steht die Badezimmertür offen. Die Pflegerin stößt sie auf, der Schreck fährt ihr in die Glieder. Die alte Dame liegt, mit Strickjacke und Schlafanzughose bekleidet, leblos in der Wanne. Kopf und Oberkörper sind wasserbedeckt, der linke Unterschenkel hängt über dem Wannenrand. Der herbeigerufene Arzt stellt Tod durch Ertrinken fest. Ein tödlicher Haushaltsunfall, wie ihn jährlich etwa 8.000 Menschen in Deutschland erleiden? Vielleicht. Oder: Ein Kapitalverbrechen? Letzteres glaubt das Landgericht München II, das die Entdeckung der toten alten Dame so festhielt.

Paradies in Bayern?

Der blaue Tegernsee mit den weißen Booten und dem Wallberg ist eine paradiesische Landschaft. Hier wohnen die Schönen und Reichen und nicht wenige Mächtige. Ganze 60 Arbeitslose meldete die Bundesagentur zuletzt für das Tal und weniger als 1.000 Straftaten die Polizei, die die Statistik für 2018 ausgewertet hat. Das Risiko, Opfer von Einbrechern zu werden, ist rund um den See 15 Mal niedriger als in Nordrhein-Westfalen.

Gibt es einen friedlicheren Fleck in der Republik? Zur ganzen Wahrheit gehören aber auch spektakuläre statistische Ausreißer. 2016 wurde eine 97-jährige Millionärin in ihrer Kreuther Villa umgebracht. 2018 lag ein wohlhabender, 60 Jahre alter Augenarzt in Tegernsee tot im Bett, die Staatsanwaltschaft stellte "Fremdeinwirkung" fest.

Aber zurück zum Fall von Lieselotte Kortüm. Der betreffende Hausmeister heißt Manfred Genditzki. Man muss sich den Mann als bienenfleißiges Faktotum vorstellen. Als jemanden, der für 44 Wohneinheiten zuständig war, aber zudem alles für die alte Dame erledigt hat. Der für sie die Semmeln holte, Frühstück bereitete, einkaufte, die Wäsche wusch, den Besuch bei Frisör und Arzt organisierte, der die Schecks einlöste und sogar den persönlichen Kontakt seiner Familie mit der alleinstehenden "Lotte" suchte.

Ein Rundumservice, der bei Kortüm über die Jahre möglicherweise die Ansprüche wachsen ließ: Genditzki, fand sie, habe jederzeit zur Verfügung zu stehen und ihren Anweisungen Folge zu leisten.

Niemand erwartete eine Verurteilung

Nicht lange, nachdem die Pflegerin die alte Dame tot in der Wanne gefunden hat, gerät der fast 50-Jährige in den Verdacht, sie getötet zu haben. Er bestreitet das heftig. DNA-Spuren, die auf ihn hindeuten, können die Ermittler nicht finden. Es gibt weder Kampf- noch Schleifspuren. Ein Kassenbeleg von Edeka in Bad Wiessee ist um 15.30 Uhr abgestempelt. All dies nimmt das Gericht zur Kenntnis, protokolliert im Urteil.

Prozessbeobachter gehen von einem Freispruch aus. Doch nach einem dreijährigen Weg durch mehrere Instanzen entscheidet das Landgericht München II im Mai 2012 endgültig: "Der Angeklagte Manfred Genditzki ist schuldig des Mordes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung. Er wird deswegen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt." Die Haft verbüßt er im Vollzug in Landsberg am Lech. Bis heute ist das so.

Kann dieser Mann der Mörder der Betreuten sein? Das Lebenslangurteil baut auf Indizien. Genditzki hatte Kontovollmacht und einen Zugang zum Bargeld der Frau. Er besaß einen Schlüssel zur Wohnung, natürlich. Auch: Er war der Letzte, der die alte Dame lebend gesehen hatte. Vor allem aber hat die Gerichtsmedizin am Kopf der Leiche zwei Einblutungen festgestellt, fünf bis sieben Zentimeter groß. Die Richter glauben, Genditzki habe "mit einem stumpfen Gegenstand einmal oder zweimal mit großer Wucht auf den Hinterkopf" geschlagen oder Kortüm so gestoßen, dass sie "mit dem Kopf auf einen harten Gegenstand fiel."

Motiv Raubmord schied aus

Die Versuche, gegen 14.57 Uhr zwei Mal den Rottacher Arzt Dr. Weber anzurufen, habe er nach nur Sekunden abgebrochen. Nicht weniger detailliert schildert das Gericht in seiner Urteilsbegründung, wie es sich den eigentlichen Mord vorgestellt hat: Der Täter habe die bewusstlose Frau ins Badezimmer getragen, sie in die leere Wanne gelegt und das Wasser einlaufen lassen. "Er drückte Frau Kortüm unter Wasser, bis sie sich nach vier bis fünf Minuten nicht mehr bewegte oder keine Luftbläschen mehr von sich gab."

So ein Vorgehen wäre brutal. Wo liegt das Motiv dafür? Schnell ist die frühe Mutmaßung geplatzt, der Hausmeister könne einen Raubmord begangen, also aus Gier gehandelt haben. Denn bis auf rund 50.000 Euro, die von Kortüms Bankkonto binnen eineinhalb Jahren in unbekannte Richtung abgeflossen sind, fehlt kein Geld. Die Richter wenden sich also einer anderen Konstruktion zu.

Lieselotte Kortüm habe von Manfred Genditzki zu viel Einsatz verlangt. Allein in den vier Monaten vor ihrem Tod hatte sie ihn 300 Mal angerufen und nicht selten zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geholt. Er sei, fasst die Urteilsbegründung zusammen, darüber am Tatnachmittag "in Rage" geraten. Nach einem Krach – er wollte seine krebskranke Mutter besuchen, was Kortüm "eifersüchtig" gemacht habe – sei der Streit eskaliert.

War alles ganz anders?

War es so? Regina Rick ist Anwältin. Sie hat ihre Kanzlei in der Neuhauser Straße in München. Rick hat das Urteil nicht nur "vollumfänglich angegriffen" und will die Wiederaufnahme des Verfahrens. Sie verlangt auch die sofortige Freilassung ihres Mandanten. In diesen Tagen hat die Strafrechtlerin Post von der Staatsanwaltschaft bekommen. Die Behörde lehnt eine Wiederaufnahme ab. Aber entscheiden muss am Ende das Landgericht München I über das Schicksal des inhaftierten Genditzki.

Regina Rick ist fest überzeugt: Der Verurteilte ist kein Mörder. Es gibt gar keinen Täter. Es ist, so argumentiert sie, ein unglücklicher, durch eine plötzliche Ohnmacht herbeigeführter Sturz gewesen, der Lieselotte Kortüm beim Einweichen von Wäsche ins Wasser fallen ließ. Nicht zum ersten Mal sei das so passiert. Bei Rick hat sich dafür eine glaubwürdige Zeugin gemeldet.

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Christiane Eyssele hat Lieselotte Kortüm lange gekannt. Sie ist eine alte Freundin. Kortüm war zeitweise die Geliebte ihres Vaters. Vor mehr als zwanzig Jahren haben sie sich aus den Augen verloren. Erst Anfang 2019 und "durch einen Zufall", sagt sie, sei sie im Internet auf den vermeintlichen Mord in Rottach-Egern gestoßen.

Anwältin ist irritiert

Sofort hat sie sich an zwei Dinge erinnert, die in dem Indizienprozess 2012 für den Mittag des 28. Oktober 2008 strikt ausgeschlossen worden waren: Dass Lieselotte Körtum immer mal wieder Schwächeanfälle erlitten hat. Schneeweiß sei sie dann geworden, einmal sei sie ohnmächtig in die Badewanne gefallen. Nur durch ihr, Eysseles, beherztes Eingriffen habe Kortüm das damals überlebt, sagt die Zeugin. So wird es auch im Antrag auf Wiederaufnahme im Genditzki-Fall geschildert.

Weiter bringt die alte Freundin vor: Lieselotte Kortüm habe ihre Wäsche immer in der Badewanne vorgeweicht. "Ich führe das darauf zurück, dass Frau Kortüm aus Ostpreussen kam. Sie hat mir schon als Kind eingebläut: Wenn du die Wäsche zum Waschen gibst, wasch sie vorher selbst aus."
Die Anwältin hat es früh für "unfassbar" gehalten, dass ein Gericht bei einer 87 Jahre alten Frau Schwächeanfälle ausschließt.

Doch reichen die Aussagen der Zeugin, um ein nächstes Gericht in einem Wiederaufnahmeverfahren von der Unschuld des Hausmeisters zu überzeugen? Wiederaufnahmeverfahren nach dem Paragrafen 359 der Strafprozessordnung sind in Deutschland rechtlich schwierig. Sie setzen, zum Beispiel, die Vorlage "neuer Tatsachen oder Beweismittel" voraus, die im vorangegangenen Prozess keine Rolle gespielt haben dürfen.

Rick hat deshalb mehr unternommen. Sie hat Wissenschaftler beauftragt, drei Dinge zu untersuchen: Ob die Auffindeposition der Leiche Kortüms in der Wanne ohne Zutun eines Dritten zustande gekommen sein könnte, also durch einen Sturz. Ob dies auch für die beiden am Kopf der Toten festgestellten Hämatome gilt. Und sie wollte eine Antwort auf eine Frage, die das Gericht 2012 nicht klären konnte: Wann genau ist Lieselotte Kortüm ertrunken?

Gutachter sind sich einig

In Regina Ricks Kanzlei liegen seit dem Frühjahr die Antworten der Experten. Alle sind zugunsten des Inhaftierten ausgefallen. Ja, Kortüm konnte ohne Eingriff eines Dritten in die Wanne fallen, hat eine Computersimulation ergeben. Ja, Kortüms Hämatome könnten bei einem Sturz entstanden sein. Vor allem: Der Freiburger Thermodynamiker Niels Hansen hat mit modernsten Methoden ermittelt, dass die alte Frau am vermeintlichen "Tattag" zwischen 16.50 und 17.20 Uhr starb. Gutachten aus Instituten in Jena und Hamburg bestätigen eine ähnlich späte Todeszeit. Da war Manfred Genditzki auch nach Annahmen des Gerichts im Jahr 2012 längst nicht mehr in der Wohnung.

Mitte Juni hat Rick in seinem Auftrag ihren umfassenden Antrag abgeschickt. Starke Rückendeckung hat sie von Petenten erhalten, Unterstützern aus dem Internet und vom ehemaligen Vorsitzenden des Justizausschusses im bayerischen Landtag, Franz Schindler (SPD). Er kritisiert schon länger eine angebliche Unwilligkeit der Justiz im Freistaat, sich mit möglichen eigenen Irrtümern auseinanderzusetzen. "Die dargestellten Wiederaufnahmegründe sind geeignet, die Freisprechung des Antragstellers zu bewirken", heißt es in dem Antrag. Es steckt, fast genau elf Jahre nach dem Tod der Lieselotte Kortüm, auch ein wenig das Prinzip Hoffnung dahinter.

Verwendete Quellen
  • Urteil des Landgerichts München II, 2012
  • Antrag auf Zulassung zur Wiederaufnahme im Fall Manfred Genditzki, 2019
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