Straftäter auf freiem Fuß Die Justiz hat ein gewaltiges Problem
In Deutschland gibt es immer mehr Straftäter im Maßregelvollzug. Die Unterbringung stellt die Bundesländer vor erhebliche Herausforderungen.
Länder und Einrichtungen schlagen Alarm und bezeichnen die Situation als angespannt: Nahezu in allen Bundesländern ist der sogenannte Maßregelvollzug – das sind auf die Behandlung suchtkranker Straftäter spezialisierte Fachkliniken – überbelegt. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. Weil die Straftaten mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch zusammenhängen, kommen zunehmend viele Straftäter in eine solche Entziehungsanstalt. "Die Zuweisungszahlen sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen", sagt Psychologe Merten Neumann vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. In den Kliniken führt das zu Platzmangel – und immer wieder kommen Straftäter auf freien Fuß.
In Baden-Württemberg war das 2022 laut Sozialministerium 34 Mal der Fall, im Jahr zuvor 35 Mal. In Niedersachsen ist es im vorigen Jahr nach Ministeriumsangaben zwei Mal dazu gekommen. Weitere Fälle drohen in diesem Jahr: 22 verurteilte Straftäter sind in sogenannter Organisationshaft, in der Betroffene auf einen Behandlungsplatz im Maßregelvollzug warten. Die darf aber nur eine gewisse Zeit andauern.
Das führte in Berlin zu einem Fall, der im Februar bundesweit Schlagzeilen machte: Ein Clan-Mitglied, das 2021 wegen besonders schweren Raubes und gefährlicher Körperverletzung zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war, kam auf freien Fuß. Kurz danach musste die Berliner Staatsanwaltschaft erneut wegen Platzmangels einen Straftäter entlassen. In 16 weiteren Fällen könnte es ebenfalls dazu kommen.
Lage in den Ländern
In Rheinland-Pfalz warten derzeit etwa 70 Menschen auf eine Aufnahme in den Maßregelvollzug, wie das Gesundheitsministerium auf Anfrage mitteilte. In Hamburg waren laut Sozialbehörde 58 Straftäter zwischen Anfang 2022 und Ende Februar 2023 im Untersuchungsgefängnis, obwohl sie eigentlich in einer Klinik behandelt werden sollten.
Mehr als 300 Straftäter landeten in Nordrhein-Westfalen laut Justizministerium 2022 auf einer Warteliste. Bei ihnen habe es sich um minder schwere Fälle gehandelt, in der Regel um Drogenabhängige, die im Maßregelvollzug ihren Entzug absolvieren sollen. Täter, die als gefährlich eingestuft wurden oder in Untersuchungshaft waren, kamen laut NRW-Ministerium nicht wegen Platzmangels auf freien Fuß.
Auch in Baden-Württemberg hieß es vom Sozialministerium, im Fall schwerer Gewalttaten bekämen verurteilte Straftäter unter "Umgehung der Warteliste" kurzfristig einen Platz im Maßregelvollzug zugewiesen.
Das versuche man auch in Berlin, betonte die Senatsgesundheitsverwaltung. Doch die Situation ist seit Jahren angespannt – und im Februar gelang es gleich zweimal nicht. Laut Gesundheitsverwaltung ist die Einrichtung mit rund 600 (Stand: 10. März) Patientinnen und Patienten "deutlich überbelegt". Genehmigt sind nur 541 Betten. Die Ärztekammer Berlin spricht von "unhaltbaren Zuständen". Bereits 2020 sahen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Krankenhauses des Maßregelvollzugs (KMV) eine "dauerhafte Überbelegung" und einen "akuten Personalmangel" als Ursache für eine zunehmende Zahl von Gewalttaten in der Klinik. Ende 2022 wandten sie sich erneut mit einem Brandbrief an Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne).
Warum so viele Täter im Maßregelvollzug landen
Als eine Ursache für die bundesweit angespannte Situation sehen Experten die derzeitige Gesetzeslage, die von Verteidigern ausgenutzt werden könne. Im Fokus steht der Paragraf 64 des Strafgesetzbuches. "Es gibt eine Reihe von Anwälten, die den § 64 als gute und erfolgreiche Verteidigungsstrategie sehen", sagt Sven Reiners, Ärztlicher Leiter des Berliner Maßregelvollzugs. "Vor 20 Jahren hatten wir es mit schwer kranken Alkoholikern zu tun, die nach § 64 eingewiesen wurden, heute geht es überwiegend um Drogenmissbrauch – etwa Kokain."
Die Kliniken beklagen zunehmend, dass aufgrund von Gerichtsurteilen Straftäter bei ihnen landen, die dort nicht richtig aufgehoben seien. "Wir stellen die Einweisungsindikation infrage. Der Begriff 'Hang zur Sucht' muss präzisiert werden", fordert Reiners.
Wann kommen Täter in den Maßregelvollzug?
Hintergrund: In den Maßregelvollzug kommen Straftäter, wenn ein Gericht sie als psychiatrisch auffällig oder suchtkrank einstuft. Bei längeren Freiheitsstrafen kann die Haft aufgeteilt werden: Zunächst wird ein Teil im Gefängnis abgesessen, dann folgt die Maßregel. Dort wird entschieden, ob der Verurteilte die Reststrafe weiter absitzen muss – oder schon nach der Hälfte der Strafe auf freien Fuß kommt.
Im regulären Strafvollzug ist eine Entlassung auf Bewährung nach der Hälfte der Haft hingegen selten. Außerdem gibt es im Maßregelvollzug mehr Lockerungsmöglichkeiten und es herrscht "eher Krankenhausatmosphäre", wie Reiners schildert.
Die Kliniken verzeichnen seit Jahren einen Anstieg von Straftätern. Es gebe mehr Patienten mit Psychosen, benannte Hans-Henning Flechtner, Vorsitzender des Psychiatrieausschusses von Sachsen-Anhalt, im Oktober 2022 als eine Ursache für die angespannte Situation. Wie aus dem Bericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe hervorgeht, waren 2020 etwa 5.280 Menschen im Maßregelvollzug, 1995 waren es nur rund 1.370.
Wie die Lage entschärft werden soll
Die Länder versuchen, neue Plätze zu schaffen. Berlin will mittelfristig etwa 60 Plätze zu den derzeit 541 genehmigten Betten schaffen. In Sachsen-Anhalt sollen Neubauten an den beiden Standorten in Bernburg und Uchtspringe im Herbst 2023 und Anfang 2024 fertig sein. In NRW sollen bis 2026 nach derzeitiger Planung etwa 750 Plätze zusätzlich zu den derzeit rund 2.360 stationären Betten entstehen. Niedersachsen will noch in diesem Jahr rund 50 neue Plätze schaffen, insgesamt seien 200 geplant.
Baden-Württemberg will mit einer neuen Klinik in Schwäbisch Hall bis Ende 2024 oder Anfang 2025 das Platzproblem lösen. Bis dahin soll nach dem Willen von Sozialminister Manne Lucha die Umwandlung des Heidelberger Ex-Gefängnisses "Fauler Pelz" eine Übergangslösung sein. Doch dieser Plan trifft auf erbitterten Widerstand in der Stadt.
Experten und Länder drängen darauf, die Änderung des Paragrafen 64 voranzubringen. Angesichts der Situation müsse man schauen, "wo kann ich Stellschrauben anziehen", meint Neumann vom Kriminologischen Forschungsinstitut. Die vorliegenden Reformvorschläge seien "ein Schritt in die richtige Richtung".
Im Fall des Berliner Clan-Mitglieds gibt es inzwischen einen Platz – der Mann ist laut Behörden pünktlich angetreten, um seine Strafe weiter zu verbüßen.
- Nachrichtenagentur dpa