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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte über Bluttat in Aschaffenburg "Wir verlieren die Kontrolle über den Patienten"
Die Attacke in Aschaffenburg erschüttert das ganze Land. Eine Bluttat, die hätte verhindert werden können? Ein Experte erklärt, wo die Versäumnisse im System liegen.
Nach der Bluttat von Aschaffenburg läuft die Suche nach den Verantwortlichen, die es dazu kommen ließen. Bayern und Bund werfen sich gegenseitig Fehler vor. Bayerns Innenminister Herrmann kritisiert den Umgang des Bundesamts für Migration mit dem tatverdächtigen Afghanen. Bundesministerin Faeser glaubt hingegen, dass im Freistaat einiges schiefläuft.
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Thomas Loew, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Regensburg und Chefarzt der dortigen psychosomatischen Abteilung, sieht jedoch den größten Fehler im System gleich am Beginn des Asylverfahrens. Im Gespräch mit t-online erläutert er, was aus fachlicher Sicht dringend geboten wäre.
t-online: Herr Loew, der Verdächtige hatte bereits ein Vorstrafenregister und war in psychiatrischer Behandlung. Wo sehen Sie mögliche Lücken im System, die solche Eskalationen ermöglichen könnten?
Thomas Loew: Die Versorgungssituation ist bei uns nicht optimal. Wir brauchen eine Struktur, um Menschen mit bestimmten Risikofaktoren wohnortnah versorgen zu können. Im Fall von Flüchtlingen und Asylbewerbern wäre eine Bündelung sinnvoll. Wir brauchen in Bayern eine psychiatrische Klinik mit einer transkulturellen Kompetenz.
Zur Person
Thomas Horst Loew ist Psychotherapeut und Facharzt für Psychiatrie und Psychosomatik. Er ist seit 2001 Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Regensburg und Chefarzt der dortigen psychosomatischen Abteilung, außerdem Chefarzt der psychosomatischen Station der Klinik Donaustauf.
Die kulturelle und sprachliche Barriere macht also eine erfolgreiche Behandlung schwer?
Ja, Patienten aus anderen Kulturkreisen können ambulant nur schwer behandelt werden. Zu den Verständigungsschwierigkeiten kommt das Problem der Kontinuität hinzu. Nehmen wir an, ein Patient hat eine akute Psychose. In einer normalen psychiatrischen Poliklinik oder Station wird man nach ein paar Tagen wieder entlassen – wenn die Akutphase abgeklungen ist. Mit Medikamenten lässt sich eine akute Psychose gut behandeln. Aber wenn der Patient die Medikamente nach seiner Entlassung nicht weiter nimmt, verliert man die Kontrolle. Die Patienten sind sich selbst überlassen.
Fehlt es an Mitteln für solch eine spezialisierte Klinik?
Nein, das Geld ist nicht das Problem. Aus meiner Sicht ist es der Datenschutz. Im Fall des Tatverdächtigen aus Aschaffenburg wusste das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) auch nichts von seiner Diagnose. Mögliche Diagnosen von potenziell gewaltbereiten Patienten dürfen nicht weitergegeben werden. Also kann der Staat auch keine Klinik für diese Patienten einrichten, wo sie fokussiert behandelt werden können.
Ich frage aber: Was ist wichtiger: ein menschliches Leben oder der Datenschutz? Bevor Asylbewerber nach Deutschland einreisen, wird ein möglicher terroristischer Hintergrund überprüft. Die Gesundheitsämter überprüfen die Einreisenden auf ansteckende Erkrankungen, wie beispielsweise Tuberkulose. Warum erweitern wir also diese Maßnahmen nicht auf die seelische Gesundheit? Bei Infektionskrankheiten schauen wir hin, bei psychischen Erkrankungen schauen wir weg.
Sie plädieren also dafür, Asylbewerber bei ihrer Einreise nach Deutschland auf psychische Erkrankungen zu untersuchen?
Ja. Ich vermute, die Politik hat diese Maßnahme bislang aus Angst vor den Kosten nicht ergriffen. Aber die Kosten, die durch nicht behandelte psychische Erkrankungen im Verlauf des weiteren Lebens eines Betroffenen für den Staat entstehen, sind bei Weitem höher als die Kosten für eine Behandlung. Psychische Probleme schlagen sich auf die Schullaufbahn und den beruflichen Werdegang nieder. Die Politik denkt sehr kurzfristig, wenn sie psychische Erkrankungen datenschutztechnisch nicht auf dieselbe Ebene mit Infektionskrankheiten stellt.
- Interview mit Thomas Loew, Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapeut