Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Studie vorgestellt So verbreitet ist Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland
Studien kommen zu dem Schluss: Unter Muslimen ist Antisemitismus weiter verbreitet als unter Nicht-Muslimen in Deutschland. Woran das liegen könnte.
Sie riefen "Tod, Tod, Tod Israel" und "Tod den Juden", hielten Plakate mit Bildern von palästinensischen Terroristen in die Höhe, die Israelis ermordet hatten. Knapp 300 Menschen zogen vor zwei Wochen durch Berlin-Neukölln, es wurde zu einem Exzess israelfeindlicher und antisemitischer Positionen.
Zwei für das vergangene Wochenende geplante, weit größere Demonstrationen verbot die Berliner Versammlungsbehörde daraufhin – wegen der antisemitischen Ausfälle. Auch in den vergangenen Jahren war bei pro-palästinensischen Demonstrationen immer wieder der Hass gegen Juden offen zutage getreten.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Diese Demonstrationen, aber auch antisemitische Attacken von Muslimen auf Juden in Deutschland lassen immer wieder eine Frage aufkommen: Ist in Deutschland Antisemitismus unter Muslimen verbreiteter als im Durchschnitt? Und wie verbreitet ist Judenhass unter ihnen?
Dieser Frage hat sich die Antisemitismus-Expertin Sina Arnold von der Technischen Universität Berlin (TU) im Auftrag des Mediendienstes Integration angenommen. Sie wertete verschiedene qualitative Studien der vergangen zehn Jahre aus. "Die Studienlage ist nicht besonders gut", sagte sie bei der Vorstellung am Mittwoch. Dennoch ließen sich einige Schlüsse ziehen.
Mehr als die Hälfte findet, Juden hätten zu viel Macht
So ist die Zustimmung zu bestimmten antisemitischen Aussagen unter Muslimen und Musliminnen in Deutschland deutlich höher als unter Nicht-Muslimen. In einer Studie der Anti-Defamation-League von 2019 etwa sagten 53 Prozent der Muslime, es sei "wahrscheinlich wahr", dass Jüdinnen und Juden "zu viel Macht in der Geschäftswelt" hätten. Unter Christen waren es hingegen 28, unter Atheisten 21 Prozent.
Eine solche Aussage wird unter klassischem Antisemitismus verbucht, also den Vorurteilen, die Juden bestimmte biologische Eigenschaften zuschreiben, wie in diesem Fall dem Narrativ der besonderen Affinität von jüdischen Menschen zu Macht und Geld.
Besonders großer Unterschied bei einer Form des Antisemitismus
Daneben unterscheidet Arnold noch zwischen zwei weiteren Formen. Der sekundäre Antisemitismus bezieht sich auf die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten, in extremen Fällen etwa durch Holocaustleugnung oder durch Aussagen wie: "Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen." Hier, so zeigt es Arnolds Auswertung, gibt es kaum einen Unterschied zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Deutschland.
Israelbezogener Antisemitismus hingegen äußert sich durch das Übertragen von Stereotypen auf den Staat Israel und das Gleichsetzen von Juden weltweit mit der Politik des Staates, etwa durch Aussagen wie: "Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer." Als israelbezogener Antisemitismus wird zudem kategorisiert, wenn andere Maßstäbe an Israel als an andere Demokratien gelegt werden.
Auch in diesem Fall zeigt die Auswertung, dass Muslime derartigen Aussagen deutlich häufiger zustimmen. Ein Beispiel aus der Autoritarismus-Studie von 2020: 40,5 Prozent Zustimmung unter Muslimen, bei Christen und Atheisten liegt der Anteil hingegen unter 10 Prozent.
Doch weshalb sind antisemitische Einstellungen unter Muslimen in Deutschland teils so viel weiter verbreitet? Auch dazu liefert Arnold Erklärungsansätze:
- Religiosität: Ist Antisemitismus weiter verbreitet, wenn die Personen religiöser sind? Dazu ist die Studienlage nicht eindeutig. Wichtiger sei die Auslegung der Religiosität, schreibt Arnold. Demnach begünstigen dogmatisch-fundamentalistische sowie traditionell-konservative Islamauslegungen die Feindschaft zu Juden. Es gibt außerdem die Tendenz unter Muslimen, die eigene Religion in Abgrenzung zum Judentum auszulegen.
- Herkunft: Stärker als die Religion sieht Arnold den Faktor der nationalen oder regionalen Herkunft. So sei etwa vor allem im Nahen und Mittleren Osten ein Antizionismus weit verbreitet, der in Antisemitismus umschlage. Antizionismus bezeichnet eine politische Ideologie, die sich gegen Israel als jüdischen Staat stellt. Ein Beispiel ist Syrien, dessen politische Führung seit Jahrzehnten Israel als Feind propagiert. Dort sei "eine Identifikation mit der eigenen Nation in Abgrenzung zu Israel entstanden", schreibt Arnold. Auch unter Christen in den Staaten dieser Region seien antisemitische Einstellungen verbreiteter als im weltweiten Durchschnitt, so Arnold.
- Konservativ-autoritäre Einstellungen: Einen weiteren Erklärungsansatz liefert der "Berlin-Monitor" von 2019. Diese Auswertung kam zu dem Schluss, dass sich Muslime mit antisemitischen Einstellungen "hinsichtlich ihres Wertekanons und Einstellungspotenzials von konservativen oder autoritären Kreisen der deutschen Bevölkerung nicht unterscheiden". Dabei weisen die Studienautoren darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen autoritären Einstellungen und Antisemitismus nicht überraschend sei – generell wiesen Menschen mit dieser politischen Ideologie stärkere Ressentiments auf.
- Dauer des Aufenthalts in Deutschland: Bei Menschen mit Migrationsgeschichte spielt zudem eine Rolle, wie lange sie sich bereits in Deutschland aufhalten und ob sie hier geboren worden sind. Das sei ausschlaggebend für judenfeindliche Einstellungen, so Arnold. Der Grund: "In der deutschen Gesellschaft ist Antisemitismus zwar weiterhin verbreitet, aber offiziell tabuisiert." Wer hier also länger lebt, hält sich tendenziell stärker daran, diese soziale Norm einzuhalten.
- Eigene Diskriminierungserfahrungen: Auch diese könnten ein Erklärungsansatz sein. Denn wer selbst diskriminiert werde, etwa als Person mit Migrationshintergrund, neige zu einer stärkeren Identifikation mit der Eigengruppe, die sich teils in der Abgrenzung zu anderen Gruppen, etwa zu Juden, ausdrücke. "Als Rechtfertigung für antisemitische Straftaten oder Demonstrationen kann das nicht gelten", sagt Arnold. Es sei allerdings in der Bildungsarbeit wichtig, diesen Faktor mit einzubeziehen.
Unterschiede zwischen Konfessionen
Dass Muslime hingegen beim sekundären Antisemitismus gleiche oder niedrigere Werte zeigen, ist in der deutschen Geschichte begründet. Diese Art des Antisemitismus ist laut Arnold unter anderem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, etwa mit der Rolle der Vorfahren in der Nazi-Zeit. Für Deutsche mit Migrationshintergrund etwa ist das weniger relevant.
Arnold weist darüber hinaus auf Schwächen in der Forschung zu dieser Thematik hin. So sei etwa noch kaum erforscht, wie unterschiedlich verbreitet Antisemitismus unter verschiedenen Konfessionen sei. Der Bertelsmann Religionsmonitor von 2019 gibt Hinweise darauf, dass die Unterschiede sehr groß sind: So nehmen demnach 25 Prozent der Sunniten das Judentum als Bedrohung wahr, unter den Aleviten sind es hingegen 2 Prozent – im Vergleich zu 9 Prozent unter Katholiken.
Wie drängend die Auseinandersetzung mit Antisemitismus nicht nur unter Muslimen, sondern generell in Deutschland ist, zeigt indes die Kriminalstatistik. Die Zahl antisemitischer Straftaten ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen: allein von 2020 auf 2021 um beinahe 30 Prozent.
- Mediendienst Integration
- Pressetermin zur Studie
- statista.com: Antisemitische Straftaten steigen massiv
- Religionsmonitor: Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie
- Universtität Leipzig: Der Berlin-Monitor 2019