Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Schwarz-Rot Das kann doch wohl nicht wahr sein

Am 6. Mai ist Merz-Day: Union und SPD werden ihn zum Bundeskanzler wählen. Beliebt ist die neue Regierung nicht. In den Medien schon gar nicht.
Der Koalitionsvertrag von Friedrich Merz und Lars Klingbeil ist maximal ein Neustart light. Der Ehrgeiz von Schwarz und Rot hält sich in erstaunlich engen Grenzen. Statt eines leuchtenden Signals für einen wirtschaftlichen Aufbruch gleicht der 144 Seiten lange Vertrag einer trüben Lampe. Dass Deutschland so aus der Rezession kommt, ist kaum zu erwarten. Merz ist beschädigt. Es war ein schmutziges Stück Machtpolitik, wie er die Schuldenbremse ausgehebelt hat. Der Vorwurf der Wählertäuschung wird noch lange nachhallen. Und was die SPD angeht: Krawall im Willy-Brandt-Haus! Juso-Chef Philipp Türmer zerschmettert den Koalitionsvertrag.
Nein, liebe Leserinnen und Leser, das ist nicht meine Meinung. Das sind Zitate aus ganz unterschiedlichen Medien – von "Spiegel" bis "FAZ", von "taz" bis "Neue Zürcher Zeitung". Was Sie seit der Bundestagswahl lesen und hören, lässt nur einen Schluss zu: Die neue Regierung wird scheitern wie die alte, uns steht eine Art schwarz-roter Ampel bevor.
Der Ampel flogen die Herzen der Presse zu
Es ist die Aufgabe der Medien, den Regierenden auf die Finger zu schauen. Und aufzumerken, wenn der Kanzler in spe vor der Wahl einen harten Sparkurs ankündigt und hinterher einen harten Schuldenkurs fährt. Aber bei aller berechtigten Skepsis: Ich kann mich nicht erinnern, dass je eine Regierung vor ihrem Amtsantritt von den Medien derart, nun ja, runtergeschrieben wurde. Schon gar nicht die Ampel, der vor drei Jahren die Herzchen und Likes der Hauptstadtpresse nur so zuflogen.

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Markus Söder hat gesagt, um jeden Satz, um jedes Komma im schwarz-roten Koalitionsvertrag sei gerungen worden. Also wird auch jeder Satz jetzt öffentlich seziert, das ist in Ordnung. Die Union muss sich rechtfertigen, dass das Cannabis-Gesetz nicht sofort abgeschafft, sondern im Herbst "evaluiert", also auf seine Wirkungen hin überprüft wird. Sie können noch zweimal Ihren amtlichen Geschlechtseintrag ändern, bevor das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel wieder geändert wird, aber nur eventuell. Die SPD wollte die Reichen zur Kasse bitten, daraus wird nichts. 15 Euro Mindestlohn, eine ihrer zentralen Forderungen, sind vereinbart, mutmaßlich, aber nicht fix, eher lose.
Für solche Kompromisse müssen sich die Koalitionspartner wechselweise vorwerfen lassen, sie hätten ihre Versprechen gebrochen. Das schreiben dieselben Medien, die vor der Wahl vehement gefordert haben, dass die Parteien der Mitte wieder fähig zum Kompromiss sein müssten. Ja, was denn nun? Und noch eine Frage: Entscheidet sich die Zukunft Deutschlands am Cannabis-Gesetz? Oder an der Reichensteuer? Nein.
Diese drei Dinge entscheiden über den Erfolg
Drei Schicksalsfragen wird die Regierung Merz/Klingbeil zu beantworten haben: Kann sie dem dringenden Wunsch der Bevölkerungsmehrheit entsprechend die ungesteuerte Einwanderung von Flüchtlingen stoppen? Wird sie der Wirtschaft neue Dynamik verleihen? Und wird Deutschland, das größte Land der EU, seiner internationalen Verantwortung gerecht? Achtung, Überraschung: Die Voraussetzungen für einen Erfolg der Regierung sind gar nicht so schlecht.
In Sachen Migration ist der Koalitionsvertrag eindeutig. Grenzkontrollen, Zurückweisung von Asylbewerbern, die Aussetzung des Familiennachzugs: Die Handschrift von CDU und CSU ist unverkennbar. Das heißt nicht, dass alle Probleme mit Einwanderung und Integration demnächst gelöst wären. Die Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt, die Überforderung von Schulen, die Belastung der Sozialsysteme, all das verschwindet nicht über Nacht. Auch junge Männer mit Messern nicht. Aber Landräte und Bürgermeister bekommen die Chance, Probleme zu lösen, nicht nur Krisen zu managen.
Für die Wirtschaft ist die wichtigste Entscheidung bereits gefallen: Schwarz-Rot hat sich aus den Zwängen der Schuldenbremse befreit. Das ist nicht die Wirtschaftswende, die Merz angekündigt hatte, diese Kehrtwende hat seine Reputation beschädigt. Aber es war die richtige Entscheidung. Im Gegensatz zur Regierung Scholz wird seine Koalition handlungsfähig sein. Allein die zusätzlichen Investitionen in Schienen, Straßen und Schulen werden in den nächsten Jahren jeweils etwa ein Prozent zusätzliches Wirtschaftswachstum bewirken – vorausgesetzt, unsere Bürokratie bremst die Politik nicht aus.
Eine gute Wirtschaftspolitik, auch wenn Habeck sie ebenso wollte
Das ist nicht alles. Die Koalition hat sich auf Abschreibungserleichterungen für die Wirtschaft verständigt. Das klingt schrecklich technokratisch, ist aber alles andere als eine Angelegenheit für Buchhalter. In den nächsten Jahren werden die Unternehmen die Chance haben, durch Investitionen Steuern zu sparen, und zwar gewaltig. Dass die Lobbyisten von Familienunternehmen und Mittelstand nun beklagen, das sei alles nicht genug und die Steuersätze würden erst ab 2028 gesenkt, lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder haben sie den Zusammenhang nicht verstanden. Oder sie sind maßlos in ihren Forderungen.
Die Wirtschaftspolitik, die sich jetzt abzeichnet, ist nicht deshalb falsch, weil schon Robert Habeck dafür war. Oder weil die SPD den Kurs maßgeblich mitbestimmt hat. Oder weil die Grünen noch Investitionen in den Klimaschutz durchgesetzt haben. Gerhard Schröder hat gesagt, es gebe keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur gute oder schlechte. Diese ist gut. Jedenfalls der Plan. Den Praxistest müssen Merz und Klingbeil noch bestehen.
Auf der internationalen Ebene ist Deutschland derzeit von der Bildfläche verschwunden. Macron, Starmer, Tusk, Meloni, von der Leyen spielen die europäische Karte, Scholz hat sie ohnehin nie gespielt. Zu Trump hat die noch geschäftsführende Regierung überhaupt kein Verhältnis. Das wird sich ändern. Merz ist Europäer und Transatlantiker, in dieser Reihenfolge. Egal ob es um Krieg und Frieden in der Ukraine geht oder um Trumps Zölle, das ist für die nächsten Jahre genau die richtige Reihenfolge.
Vielleicht finden Sie meinen Blick auf die Regierung Merz zu optimistisch. Vielleicht geben Sie keinen Pfifferling auf Schwarz-Rot. Vielleicht liege ich falsch. Aber wie wär's, wenn wir uns auf eine alte Regel verständigten: Jede Regierung bekommt hundert Tage Schonfrist, bevor wir sie zerreißen. Am 14. August ziehen wir die erste Bilanz. Versprochen.
- Eigene Überlegungen