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Wartung von Nord Stream 1: Deutschland probt den Ernstfall


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Tagesanbruch
Jetzt kommt der Ernstfall

  • Bastian Brauns
MeinungVon Bastian Brauns

Aktualisiert am 11.07.2022Lesedauer: 5 Min.
"Ohne weitere politische Flankierung zerreißen wir": Robert Habeck fürchtet soziale Verwerfungen.Vergrößern des Bildes
"Ohne weitere politische Flankierung zerreißen wir": Robert Habeck fürchtet soziale Verwerfungen. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

"Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt." – Diese Sätze sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Fernsehansprache zur Pandemie im Frühjahr 2020.

Rund zwei Jahre später steht Deutschland erneut vor einer so großen Herausforderung, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Durch energiepolitische Entscheidungen der letzten Jahrzehnte gerät ausgerechnet jener Bereich in Gefahr, der eigentlich immer am meisten profitiert hatte: die deutsche Industrie. Auswirkungen hat das für uns alle.

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Ab heute bekommt Deutschland zu spüren, was es heißt, sich derart ausweglos von russischem Gas abhängig gemacht zu haben. Von diesem Montag an wird Putins Staatskonzern Gazprom kein Erdgas mehr durch die wichtige Ostseepipeline Nord Stream 1 fließen lassen. Der Grund sind laut Gazprom reguläre Wartungsarbeiten, die nicht länger als zehn Tage dauern sollen. Meine Kollegin Frederike Holewik hat hier aufgeschrieben, was genau dahintersteckt.

Aber bleibt es wirklich bei den angekündigten zehn Tagen? Die Sorge der Bundesregierung, insbesondere von Wirtschaftsminister Robert Habeck, dass der Kreml den Gashahn anschließend gar nicht mehr öffnen könnte, ist groß. "Alles ist möglich. Alles kann passieren", warnte er am Sonntag erneut in einem "Deutschlandfunk"-Interview. "Wir müssen uns ehrlicherweise immer auf das Schlimmste einstellen", so Habeck.

Sollte dieses Szenario nach dem 21. Juli wirklich eintreten, müsste in Deutschland womöglich sehr viel schneller die dritte Gas-Notfallstufe ausgerufen werden. Das Gas in den deutschen Gasspeichern reicht dann für den Herbst und Winter nicht aus. Peter Adrian, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) warnte jetzt vor einem solchen "Super-GAU". Wenn der Fall eintreten würde, dass Betriebe ihre Produktion einstellen müssten, dann befürchte er "ganz klar eine Rezession". Über die negativen Auswirkungen sagte Robert Habeck: "Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen, die wir lange so nicht hatten."

Tatsächlich hat die letzte Stufe des "Notfallplans Gas" dramatische wirtschaftliche und soziale Folgen: Denn bei einer solchen "erheblichen Störung der Gasversorgung" würde die Bundesnetzagentur entscheiden, wer noch Gas bekommt und wem es abgestellt wird. Zwar trifft es dann zuerst die Industrie und nicht die Haushalte. Die wirtschaftlichen Folgen aber wären womöglich so gravierend, dass Deutschland in eine derartige Wirtschaftskrise rutschen würde, dass jeder Haushalt sie zu spüren bekäme. Ob diese Reihenfolge deshalb die richtige ist, darüber wird gestritten.

So oder so: Die Deutschen werden ärmer. Denn die Energiepreise werden weiter explodieren. Wer nicht schon jetzt im Zweifel Tausende Euro für Nachzahlungen beiseitelegen kann, dem droht bei Nichtzahlung die Kündigung. Die Regierung berät deshalb bereits darüber, sogenannte Härtefallfonds einzurichten. Die Inflation wird in der Folge steigender Energiepreise immer weiter zunehmen. Das trifft ärmere Menschen besonders hart, aber längst auch die Mittelschicht. Sozialer Ausgleich wird wohl nur per weiterer Schuldenaufnahme gelingen. Bei gestiegenen Zinsen ist das ein größeres Problem als noch in der Pandemie. Steuern zu erhöhen, könnte wiederum die Wirtschaft abwürgen.

Ein Grund für diese Situation ist Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ein weiterer ist, dass Deutschland energiepolitisch erdenklich schlecht vorbereitet war. Zu verantworten haben das vor allem CDU und SPD, die lange in einer großen Koalition regiert haben. Weil es als undenkbar galt, dass Russland wirklich den Gashahn zudrehen könnte, fehlen sogar Pläne dafür, wie ostdeutsche Industriestandorte noch mit Erdgas versorgt werden könnten.

Scharf griff der grüne Wirtschaftsminister Habeck im Bundestag darum auch die ehemalige CDU-Kanzlerin Angela Merkel und ihren langjährigen SPD-Minister Sigmar Gabriel an. Wenngleich er sie nicht beim Namen nannte, wusste jeder, wer gemeint war.

"Wenn man sich vor Eisbergen fotografieren lässt, aber vergisst, dass Eisberge schmelzen", sagte Habeck und verwies damit auf jene denkwürdige gemeinsame Grönland-Reise von Merkel und Gabriel im Jahr 2007. "Wenn man aus allen möglichen Dingen aussteigt, zu Recht, aber vergisst, dass man dafür eine Infrastruktur aufbauen muss." Dann, so Habeck, "lässt man Deutschland im Regen stehen".

Tatsächlich sind es ausgerechnet die Entscheidungen der Klimakanzlerin, die jetzt auch dazu beitragen, dass Kohlekraftwerke wieder angefeuert werden müssen, um ausreichend Strom produzieren zu können und zugleich Erdgas zu sparen. Die Debatte über eine Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke wird noch heftiger werden. Womöglich werden Habeck und die Grünen am Ende hier nachgeben müssen. Endgültig ausgeschlossen hat der Wirtschaftsminister eine zumindest befristete Verlängerung ohnehin nicht.

Nicht nur Deutschland, die ganze Welt ist durch den russischen Angriffskrieg im Umbruch. Die brutale Realität dabei ist, dass trotz aller bisherigen Sanktionen des Westens der Krieg unvermindert weitergeht. Russland verkauft seine Rohstoffe jetzt nach China und nach Indien. Der asiatische Raum wird künftig vom günstigen Erdgas profitieren. Bislang mussten die Staaten dort das teurere Flüssiggas LNG kaufen.

Erdgas, ob flüssig oder nicht, ist derzeit der wohl am heißesten gehandelte Rohstoff der Welt. Seine Preissprünge sind Treiber der globalen Inflation. In Europa liegt der Preis rund 700 Prozent über dem vom Anfang des letzten Jahres. Was im Kalten Krieg einst das Öl war, scheint im neuen Mehrkampf der Großmächte das Erdgas zu sein.

Den Westen trifft es darum umso härter, vorneweg Deutschland und Europa. Zumindest so lange die erneuerbaren Energieträger-Alternativen, geschweige denn eine grüne Wasserstoffindustrie, noch nicht weit genug ausgebaut sind. All das wird noch Jahre dauern.

Diese Zeit zu überbrücken, ohne soziale Verwerfungen, ist die wohl größte Aufgabe unserer Zeit. Nichts fürchten die Regierungen, ob in Deutschland, Europa oder den USA mehr, als dass ihnen der Rückhalt in der eigenen Bevölkerung wegbricht. Schon jetzt muss die US-Regierung gegen irreführende Behauptungen ankämpfen, dass Amerikas Energiepreise nur deshalb so hoch seien, weil die USA ihre Rohstoffe nach Europa lieferten.

Die Energiespar-Appelle der Bundesregierung und des Wirtschaftsministers an die Bevölkerung und an die Industrie haben einen entscheidenden Grund. Es ist ernst. Nehmen wir es also auch ernst.

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