Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Der Illusionskünstler
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
erinnern Sie sich noch, als wir wochenlang darüber diskutiert haben, ob es auf Deutschlands Autobahnen ein Tempolimit geben soll? Und sich die FDP scheckig gefreut hat, dass es letztlich nicht im Koalitionsvertrag stand? Das ist noch gar nicht so lange her, ein paar Monate erst, im Sommer und Herbst des vergangenen Jahres war das. Und doch wirkt es ewig weit weg.
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Die Welt war eine andere damals, übersichtlicher. Es gab nur zwei Weltkrisen zur gleichen Zeit, die Klimakrise und die Corona-Pandemie. Nun gibt es eine dritte, die die beiden anderen zumindest für den Moment verdrängt: den Krieg in Europa.
Und doch geht es jetzt wieder ums Tempolimit. Diesmal, weil es beim Energiesparen gegen Putin helfen soll. Also Tempo 130, um den drohenden Weltenbrand in der Ukraine zu stoppen – und nicht nur den Brand der Welt in der Klimakrise. Das Argument des Christian Lindner und seiner FDP ist aber heute wie damals das gleiche: Der Markt regelt das viel besser. Hoher Benzinpreis führt zu niedriger Geschwindigkeit. Einfach magisch.
Und damit wären wir auch eigentlich schon bei der Pointe dieses Textes angekommen: Die Wirklichkeit kann sich ändern, wie sie will, die FDP hält stand. Oder bleibt stur, je nachdem, wo man selbst steht. Das objektiv Interessante ist jedoch, dass die Liberalen damit noch immer erstaunlich gut durchkommen in dieser Ampelkoalition. Das Tempolimit ist da nur eines der kleineren Beispiele.
Die Grünen müssen bald wohl mehr Kohle verbrennen und verabschieden sich von ihrer Grundüberzeugung als Friedenspartei. Die SPD hat ähnliche Bauchschmerzen mit der Aufrüstung und ist zudem noch dabei, einen ihrer drei Altkanzler aus der Parteigeschichte zu tilgen. Zeitenwende eben, da hatte Bundeskanzler Olaf Scholz schon recht.
Nur wo ist eigentlich die Zeitenwende des Christian Lindner? Die sucht man besonders in der Finanzpolitik, für die er als Minister zuständig ist, vergeblich. Zumindest wenn es um die grundsätzlichen Überzeugungen geht. Stattdessen spielt er uns eine Realität vor, die längst bis auf Weiteres Vergangenheit ist: eine mit Schuldenbremse nämlich.
Es sind ja nicht nur die neuen 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, die als Sondervermögen neben dem eigentlichen Bundeshaushalt mit Krediten finanziert werden. In der Corona-Pandemie sind 2020 und 2021 fast 300 Milliarden an Schulden angefallen. Dieses Jahr werden weitere Corona-Schulden hinzukommen. Und dann fließen auch noch viele Milliarden in den Klimafonds.
Christian Lindners Kampf um die Schuldenbremse wirkt da fast schon tragikomisch. Im nächsten Jahr will er sie nach der Corona-Ausnahme wieder einhalten, hat er gerade erneut angekündigt. Aber wenn es überhaupt funktioniert, dann natürlich nur, weil er kreative Schattenhaushalte wie den für die Bundeswehr-Milliarden erfunden hat: Er nimmt in diesem Jahr, das für den Haushalt eh verloren ist, einen hohen Kredit auf, und gibt das Geld erst nach und nach aus. Er ist ein Illusionskünstler.
Nun könnte man sagen: Wenn er Freude daran hat und das nötige Geld trotzdem fließt – dann sei's doch drum. Doch so einfach ist es leider nicht. Alles hängt mit allem zusammen, das ist nicht nur in der Klimakrise so, sondern auch in der Ukraine-Krise.
Die Schuldenbremse bremst gerade auch die Politik. Zum Beispiel beim Energieembargo. Die Regierung ist besorgt, dass die Menschen einen schmerzhaften Importstopp für russisches Öl und Gas nicht mittragen würden. Weil die Energiepreise wohl noch stärker stiegen. Und Menschen sich dann Gelbwesten anziehen könnten wie in Frankreich oder wütende Selfievideos vor Tankstellen aufnehmen wie ein Ministerpräsident. Aber eben auch, weil Gasknappheit in der Industrie eine Wirtschaftskrise auslösen könnte, inklusive vieler Arbeitsloser.
Nicht alle möglichen Probleme eines Embargos lassen sich mit Geld abmildern. Aber einige eben schon. Und da steht die Schuldenbremse nun oft im Weg. Christian Lindner hat das gerade erst selbst in einem Interview mit dem "Tagesspiegel am Sonntag" nahegelegt, als es um die Benzinpreise ging. "Wenn die Union eine sogenannte Spritpreisbremse fordert, dann muss sie sagen, was sie im Haushalt kürzen will", sagt Lindner. Weil eben: Schuldenbremse. Nun wird er diese Frage wohl selbst beantworten oder wieder mal kreativ werden müssen. Denn der "Bild" zufolge will Lindner einen Tankrabatt von etwa 20 Cent pro Liter einführen.
Doch die Liste ließe sich eben beliebig fortsetzen. Ein Energiegeld für alle, wie es die Grünen jetzt als Entlastung der Menschen vorschlagen? Ohne Weiteres nicht drin. Mehr Geld für Zivilschutz und Entwicklungshilfe? Kein Teil der Bundeswehr-Milliarden. Ein Konjunkturpaket gegen die Wirtschaftskrise, wenn denn eine kommt? Woher nehmen und nicht stehlen?
Anders als SPD und Grüne verliert die FDP gerade in Umfragen ein paar Prozentpunkte. Die Lehre, die viele in der FDP daraus ziehen, scheint zu sein: noch überzeugter an den Überzeugungen festhalten. Auf die Gefahr hin, dass sie bald nur noch Ideologie sind oder Illusion. Was aber, wenn die FDP gerade deshalb verliert, weil sie sich der neuen Wirklichkeit bislang als einzige Regierungspartei verweigert?
Vielleicht muss man Christian Lindners Selbstbewusstsein auch einfach etwas aufpäppeln. Denn zumindest im "Tagesspiegel"-Interview scheint er von seinen Fähigkeiten nicht sonderlich überzeugt zu sein. Bei einer Aufweichung der Schuldenbremse, sagt er dort voraus, wären "alle Dämme gebrochen". So als hätte er selbst gar keinen Einfluss darauf, wie viel Geld wofür ausgegeben wird. "Als Finanzminister hätte ich die Kontrolle über die Ausgabenwünsche verloren und unser Land mittelfristig seine fiskalische Stabilität."
Der Vize-Vizekanzler – zum Scheitern verdammt? Wirklich? Ich denke, Christian Lindner hat mehr drauf. Nur Mut!
Was macht eigentlich Corona?
Es haben gefühlt nur die Wenigsten mitbekommen. Doch Deutschland steckt nach einer kurzen Entspannung schon wieder in der nächsten Corona-Welle. Die Inzidenz steigt seit Tagen deutlich. Das ist die Ausgangslage vor einer entscheidenden Woche in der Corona-Politik. Denn im Bundestag wird es darum gehen, wie viele Einschränkungen nach dem 20. März überhaupt noch möglich sein sollen. Und ob wir eine Impfpflicht brauchen, um für den nächsten Winter gerüstet zu sein.
Heute wird der Gesundheitsausschuss zunächst Experten hören, die ihre Einschätzung zum Infektionsschutzgesetz kundtun werden. Es gesteht den Ländern bisher weniger Instrumente zu, um im Fall der Fälle auf neue Eskalationen zu reagieren. Schon jetzt wird darüber gestritten, wann das Gesetz scharfe Maßnahmen erlaubt und wann nicht. Besonders die Grünen sind betont unzufrieden.
Am Mittwoch soll das Infektionsschutzgesetz dann erstmals in den Bundestag kommen, am Freitag schon verabschiedet werden. Mehr Zeit bleibt auch nicht, denn sonst stünde Deutschland am 20. März blank da. Diskussionen dürfte es trotzdem geben.
Genau wie bei der Impfpflicht. Donnerstag sollen die verschiedenen Modelle erstmals im Bundestag diskutiert werden. Gesundheitsminister Karl Lauterbach warb nun dafür, die beiden Entwürfe der Impfpflicht ab 18 und der ab 50 zusammenzuführen. "Es ist nicht sinnvoll, sich als Impfpflichtbefürworter gegenseitig die Stimmen wegzunehmen", sagt er. Und wirklich widersprechen kann man ihm da nicht. Nur, ob es dazu kommt?
Scholz bei Erdoğan
Bundeskanzler Olaf Scholz reist heute in die Türkei. Er trifft dort Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Es ist seine Antrittsreise, aber bei netten Worten wird es nicht bleiben. Die Türkei ist nicht nur Nato-Partner, sondern will sich auch als Vermittler im Ukraine-Krieg hervortun. Kann das helfen? Meine Kollegin Miriam Hollstein ist dabei und wird für Sie berichten.
Was lesen?
Der Ukraine-Krieg ist von Beginn an auch ein Krieg um die Wahrheit. Von Donezk aus kämpft eine Deutsche um die Deutungshoheit – und zwar voll auf Kreml-Kurs. Mein Kollege Lars Wienand über Putins Infokriegerin.
Mehr als zwei Millionen Ukrainer sind bereits geflohen – die Mehrheit in die EU, viele nach Deutschland. Der Migrationsexperte Gerald Knaus erklärt im Video, warum der Druck auf Putin erhöht werden müsse.
Schon mal einen Wanzl gefahren? Nein? Wahrscheinlich doch. Denn der deutsche Mittelständler ist Einkaufswagen-Weltmarktführer. Unser Wirtschaftsreporter Mauritius Kloft hat sich angeschaut, wie der Einkaufswagen der Zukunft aussieht. Und er hat mit Wanzl-Chef Klaus Meier-Kortwig darüber gesprochen, was Putins Krieg gegen die Ukraine für sein Unternehmen bedeutet.
Was amüsiert mich?
Morgen schreibt an dieser Stelle David Schafbuch für Sie. Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihr
Johannes Bebermeier
Politischer Reporter
Twitter: @jbebermeier
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Mit Material von dpa.
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