Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die zweite Chance
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es ist so leicht, niederzureißen und zu zerstören – Helden sind jene, die Frieden schaffen und aufbauen. Dieses Zitat des südafrikanischen Freiheitskämpfers Nelson Mandela ist in diesen Tagen aktueller denn je.
Keine zwei Wochen hat der russische Präsident Wladimir Putin gebraucht, um große Teile der Ukraine von seinen Truppen verwüsten zu lassen und Millionen von Menschen ihrer Existenz zu berauben. Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, das Land wieder aufzubauen. Und es wird vermutlich Generationen brauchen, bis der Hass, den Putin mit seinem brutalen Vorgehen in den Herzen der Ukrainerinnen und Ukrainer sät, wieder verschwunden sein wird.
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Während wir dem tapferen Widerstandskampf der ukrainischen Bevölkerung quasi "live" und hilflos über die sozialen Netzwerke zusehen, suchen die Staats- und Regierungschefs nach einem Weg zum Frieden. Zur Wahrheit dürfte allerdings gehören, dass Putin nur noch zwei Staatsführer auf der Welt ernst nimmt: den amerikanischen Präsidenten Joe Biden und den chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Ersterer scheidet für Verhandlungen aus, weil Putin derzeit Gespräche mit den USA ablehnt und weil Biden gerade ein Verbot für Ölimporte ausgesprochen hat. Warum das auch die Bundesregierung unter Druck setzt, analysiert unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Bleibt Präsident Xi. China ist an der Vermittlerrolle durchaus interessiert, lenkt sie doch den Fokus weg von den eigenen Menschenrechtsverletzungen und könnte der Regierung in Peking in ihrem Ziel der wirtschaftlichen und politischen Ausdehnung nützlich sein. Am Dienstag hat Xi deshalb in einer Videokonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine Stunde lang über die Situation in der Ukraine beraten. Seinen Außenminister Wang Yi ließ er kurz zuvor verkünden, Peking stehe "felsenfest" an der Seite Moskaus.
Putin wiederum hat sein Land so stark in die Isolation getrieben, dass er auf die Handelsbeziehungen zu China angewiesen sein wird, um wirtschaftlich überleben zu können. Peking zuliebe hat er mit dem Angriff auf die Ukraine gewartet, bis die Olympischen Spiele vorbei waren und China zugesagt, Taiwan als Bestandteil der Volksrepublik anzuerkennen.
Für Deutschland, den Rest Europas wie auch die USA sind die erstarkenden russisch-chinesischen Beziehungen keine guten Nachrichten. Denn diese Entwicklung könnte mittelfristig dazu führen, dass sich die Machtverhältnisse in der internationalen Politik hin zu autokratischen Regimen und weg von den westlichen Demokratien verschieben. Doch momentan gibt es keine Alternative, als alle möglichen Vermittler mit an Bord zu holen. Wer Frieden will, muss bereit sein, mit allen zu verhandeln, selbst mit dem Teufel.
Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen: Das wird lange dauern. Bis es so weit ist, werden noch viele Menschen aus ihrer Heimat fliehen. Rund 1,7 Millionen Menschen haben die Ukraine bereits verlassen. Über 65.000 sind nach Deutschland gekommen. Allein in Berlin sind es derzeit rund 10.000 pro Tag.
Für Deutschland ist es bei allen Herausforderungen eine Chance zu zeigen, dass es aus der vergangenen Flüchtlingskrise gelernt hat. Damals war der anfängliche Rausch der "Willkommenskultur" schnell verflogen, die Bundesländer und Kommunen waren mit der Situation überfordert. Chaos und Bürokratie führten zu Wut und Frust – bei den Flüchtlingen, aber auch in der Bevölkerung.
Diesmal gibt es nicht nur Erfahrungen und Strukturen, auf die man zurückgreifen kann. Bund und Länder wissen auch, dass sie eng zusammenarbeiten müssen (und nicht gegeneinander), um die Lage in den Griff zu bekommen. Hilfreich ist, dass die Europäische Union sich auf einen schnellen Schutz der Kriegsflüchtlinge geeinigt hat. Statt zähe Anerkennungsverfahren durchlaufen zu müssen und monatelang zum Nichtstun verdammt zu sein, können die Ankömmlinge aus der Ukraine sofort eine Arbeit annehmen. Das erleichtert die Integration und könnte an der einen oder anderen Stelle sogar helfen, den Fachkräftemangel abzumildern. Denn dieser ist dauerhaft ohne Zuwanderung nicht mehr zu lösen.
Wichtig ist aber auch, mit realistischem Blick auf die Situation zu schauen. Viele der Flüchtlinge sind kriegstraumatisiert. Sie werden Hilfe benötigen. Dafür müssen jetzt rasch Netzwerke geschaffen werden.
Denn es werden noch viel mehr kommen. Laut Vereinten Nationen erleben wir gerade die "am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg". Soweit die schlechte Nachricht. Und jetzt die gute: Nie war die Europäische Union geschlossener in ihrer Solidarität.
Wer dieser Tage an die polnisch-ukrainische Grenze reist, kann große Not, aber auch viel Hilfsbereitschaft beobachten. Meine Kollegin Frederike Holewik und der Fotograf Michael Körner haben bereits Ende Februar erste Eindrücke gesammelt.
Dabei nimmt Polen den Löwenanteil der Flüchtenden auf. Es ist dasselbe Land, welches sich 2016 weigerte, Vertriebene aus Syrien und dem Irak zu beherbergen. Diesmal sind in der Hauptstadt Warschau fast alle wichtigen Gebäude mit der Flagge der Ukraine geschmückt. Der Kultur- und Wissenschaftspalast wird nachts in den ukrainischen Nationalfarben angestrahlt. Das ist ein besonderes Zeichen: Der Prunkbau wurde einst auf Anordnung Stalins erbaut, galt lange als Symbol für die russische Besatzung. Nun dient er als Signal der Unterstützung für die Opfer des russischen Regimes.
Nur ein Land schert mal wieder aus. Nach dem Motto "same same, but different" hat Großbritannien zwar wie alle anderen auch seine unbedingte Solidarität mit der Ukraine erklärt, lässt Flüchtlinge von dort aber nur mit Visum ins Land. Dieses muss aufwendig beantragt werden. Einen besonders absurden Fall hat die ARD-Korrespondentin in London, Annette Dittert, auf Twitter veröffentlicht.
Es ist noch nicht vorbei
Während alle auf die Ukraine schauen, nimmt in Deutschland die Zahl der Corona-Infektionen wieder zu. Erinnern Sie sich noch, was unsere größte Sorge war, bevor wir uns Tag und Nacht mit Putins Geisteszustand und seinem nächsten unberechenbaren Schritt beschäftigten? Ja, richtig, die Pandemie. 324 Corona-Tote registrierte das RKI am Wochenbeginn – so viele wie seit Januar nicht mehr.
Dass es noch keinen Grund zur Entwarnung gibt, zeigt auch folgende Nachricht: In Köln ist die Inzidenz eine Woche nach dem Karneval stark angestiegen, bei jungen Erwachsenen hat sie sich sogar verdreifacht.
Wenn am 20. März offiziell die meisten Corona-Maßnahmen aufgehoben werden, sollten wir also weiter vor- und umsichtig bleiben. Denn das Kölner Karnevalsgesetz "Et hätt noch immer jot jejange" gilt in einer Pandemie nur für Narren.
Historisches Bild des Tages
Dieses Foto ist ein Alterstest: Wer ist der Mann neben dem Auto? Wenn Sie auf Udo Jürgens getippt haben (richtig!), müssen Sie über 40 sein. Dann dürfen Sie zur Belohnung einmal "Aber bitte mit Sahne" summen. Wussten Sie es nicht, sind Sie unter 40, googeln bitte schleunigst "Ich war noch niemals in New York" und schließen diese Bildungslücke! Warum es ausnahmsweise aber weniger um den Schlagerstar als um sein Auto geht, lesen Sie hier.
Das Zitat des Tages …
… kommt vom saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU), der gerade um seine Wiederwahl bei der Landtagswahl am 27. März 2022 kämpft. Dieser wollte sich in einem Twitter-Video vor einer Tankstelle die gestiegenen Spritpreise vornehmen, wählte dafür aber eine unglückliche Formulierung: "Ich finde, da ist jetzt wirklich ein Punkt erreicht, wo man sagen muss: Da muss man handeln. Klar hat das was mit der Ukraine-Krise zu tun und klar hat das was mit Dingen zu tun, die die Bundesregierung nicht beeinflussen kann. Aber das Problem ist doch einfach, der Staat bereichert sich an diesen gestiegenen Energiekosten und deswegen muss eine Spritpreisbremse her. Das trifft jetzt nicht nur Geringverdiener, das trifft wirklich die vielen fleißigen Leute, die tanken müssen, die ihre Dieselfahrzeuge tanken, die zur Arbeit fahren, die ihre Kinder zum Sport bringen."
Lied des Tages
Mit Musik kann man keinen Krieg beenden, aber Kraft geben. So wie dieses ukrainische Mädchen, das in einem Schutzbunker zu singen beginnt – ein Gänsehaut-Moment.
Was lesen?
Putin ist nicht DIE RUSSEN. Die Wut und Empörung über das brutale Vorgehen Putins in der Ukraine führt in Europa immer häufiger auch zu feindseligen Übergriffen auf russische Bürgerinnen und Bürger. Die Politologen Jakob Wöllenstein und Elisabeth Bauer erklären, warum man damit nur Putin in die Hände spielt.
Der Ukraine-Krieg zwingt die Ampel zur Kehrtwende. Warum solche Kurswechsel für Regierungsparteien ein Drahtseilakt sind, aber auch Chancen bieten, analysiert mein Kollege Michael Freckmann.
Deutsche Fernsehkrimis sind wie die Zeugen Jehovas. Das behauptet jedenfalls der Comedystar Michael Mittermeier. Meinem Kollegen Steven Sowa hat er erzählt, warum.
Das amüsiert mich
Und wer dreht Putin den Hahn ab?
Morgen schreibt hier mein Kollege Sven Böll. Passen Sie auf sich auf!
Herzliche Grüße,
Ihre
Miriam Hollstein
Chefreporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @HollsteinM
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Mit Material von dpa.
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