Tagesanbruch Das ist blinder Aktionismus
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
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Putins Panzer rollen in der Ukraine, seine Propagandamaschine walzt über Russland. Viele Menschen in Europa solidarisieren sich mit den angegriffenen Ukrainern, aber offensichtlich fördert der Krieg auch ein gefährliches Schwarz-Weiß-Denken, ein Zurückfallen in stumpfesten Nationalismus, in Rassismus und Diskriminierung. Die Opfer: Russen und russischstämmige Deutsche.
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Russische Bars und Restaurants werden derzeit boykottiert, ihre Besitzer und Mitarbeiter bedroht und angegriffen. 15 Drohanrufe erhielt das russische Restaurant Datscha in Berlin allein am ersten Tag der Invasion. Um rund 30 Prozent sind die Besuche nach Schätzung des Besitzers zurückgegangen, es hagelt Negativkommentare auf Google. Anderen wird gedroht, die Etablissements "abzufackeln". Manche Kellnerin spricht nun lieber weniger Russisch – und geht am Abend nicht mehr allein nach Hause.
Derweil dürfen zwei russischstämmige Künstlerinnen aus Berlin ihre Arbeit nicht in Dänemark präsentieren – weil sie russische Namen tragen. Man wisse zwar, dass Maria und Natalia Petschatnikov nichts mit dem Krieg zu tun hätten, teilte ein dänischer Lokalpolitiker mit. "Aber wir können russische Kultur momentan nicht unterstützen." Ganz ähnlich agierte eine Bäckerei in Baden-Württemberg, als sie den "Russischen Zupfkuchen" umbenennen wollte.
Dieser blinde Aktionismus ist Wahnsinn. Was kann Zupfkuchen, was können die Petschatnikov-Schwestern, was die Datscha-Inhaber für die Situation in der Ukraine? Gar nichts.
Was in der Ukraine passiert, ist Putins Krieg, nicht der des russischen Volks. Man darf aus falsch verstandenem Pazifismus nun weder jeden Russen zum Angreifer und Putin-Versteher erklären – noch per se zum unterdrückten Widerstandskämpfer. Es gibt "die Russen" schlicht nicht, genauso wenig wie es "die Deutschen" oder "die Ukrainer" gibt.
Dazu genügt ein Blick auf die Entwicklungen am Wochenende: Da pappte sich ein russischer Athlet beim Turn-Weltcup in Doha ein "Z" auf die Brust und trug es stolz als Zeichen der Unterstützung für Putins Invasion.
Zugleich gingen in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten Tausende Russen auf die Straße und forderten ein Ende des Krieges – obwohl ihnen nach Inkrafttreten eines neuen Zensurgesetzes 15 Jahre Haft drohen, wenn sie das Wort "Krieg" nur in den Mund nehmen. Weitere Tausende Russen flohen aus ihrer Heimat. Viele fürchten offenbar, in Putins unrechtmäßigem Krieg zwangsrekrutiert zu werden. Die finnische Bahn setzt seit dem Wochenende Sonderzüge von Moskau nach Helsinki ein, um die Massen zu transportieren.
Das nämlich ist die Lage in Russland: Putin hat Oppositionelle wahlweise vergiftet, weggesperrt oder mundtot gemacht. Freie Wahlen gibt es seit Langem nicht mehr. Demonstranten werden festgenommen und niedergeknüppelt. Die Medien werden zensiert, freie Nachrichtenportale verboten, Journalisten werden unter Druck gesetzt und bedroht. Wer seine Meinung frei äußert, muss mit massiver staatlicher Gewalt rechnen.
In der seit Jahren von Putin angeheizten Propagandahölle einen klaren Kopf zu bewahren, kann nicht einfach sein. Unabhängige Informationen fernab der Staatspropaganda müssen Russlands Bürger sich mühsam suchen. Das verändert einen Staat und seine Bürger. Der russische Philosoph und Aktivist Greg Yudin bezeichnet die russische Bevölkerung im Interview mit der "taz" zum großen Teil als "vollkommen entpolitisiert". Die meisten Menschen hätten Angst und hielten sich kategorisch von Politik fern.
Der Krieg gegen das Nachbarland, in dem viele Verwandte oder Bekannte haben, hat aber auch die russische Bevölkerung in einen Schock versetzt. Junge Aktivisten, Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler sprechen sich trotz aller Gefahren offen gegen die Invasion aus. Und Experten wie Yudin sehen einen möglichen Kipppunkt für Putins System: Entweder wachse die Antikriegsbewegung rasch und gewinne Einfluss auf die Politik – oder sie werde niedergeschlagen und eine neue politische Ära beginne. Klar ist: Diese Ära wäre noch düsterer als Russlands Gegenwart.
In Russland einen nachhaltigen Regierungswechsel von außen zu erzwingen, ist nicht realistisch. Der Westen hat das nach vielen gescheiterten Versuchen weltweit, zuletzt in Afghanistan, begriffen. Um einen "Regime Change" von innen zu befördern, braucht es jetzt nicht Hass und Hetze aus Europa, sondern Solidarität – mit den russischen Aktivisten, Journalisten und Männern, die nicht Putins Krieg kämpfen wollen, sondern fliehen. Mit den Exilanten, die bereits hier leben. Die Diskriminierung muss enden, stattdessen müssen wir reden, verstehen, unterstützen, unbürokratisch aufnehmen. Canceln sollten wir Putin und seine Getreuen, nicht die russische Kultur und ihre Bürger.
Denn diese Menschen können einen entscheidenden Unterschied machen. Sie sind Multiplikatoren für die Demokratie. Sie halten Kontakt zu Freunden und Verwandten in der Heimat, sie durchbrechen Propaganda auf sehr persönliche Weise, sie können berühren und überzeugen, wie es ein Artikel aus der Feder eines deutschen Journalisten niemals kann.
Und schließlich geht es auch uns um Treue zu unseren demokratischen Werten. Nur wenn wir differenzieren, wenn wir zwischen der russischen Regierung und russischen Bürgern unterscheiden, sind wir fair, klar und ehrlich – und strafen so Putins Erzählung von einem "antirussischen Krieg des Westens" automatisch Lügen.
Verhandlungsrunde Nummer 3
Zum dritten Mal sollen an diesem Montag Vertreter Russlands und der Ukraine an einem Tisch zusammenkommen, um miteinander zu verhandeln. Die Aussichten auf Waffenstillstand oder gar dauerhaften Frieden aber sind gering. Schon die bei der zweiten Verhandlungsrunde vereinbarten Feuerpausen, um sichere Fluchtkorridore für Zivilisten in zwei ukrainischen Städten zu bilden, wurden nicht eingehalten. Die Ukraine beschuldigt Russland des Wortbruchs, Russland die Ukraine. Experten schätzen die russischen Behauptungen als Lüge ein. Zu groß sei Putins Machthunger, zu oft schon habe er auch in Syrien entsprechende Vereinbarungen allein für den eigenen Vorteil genutzt.
Russland vor dem Internationalen Gerichtshof
Russland muss sich erstmals wegen der Invasion in der Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Das höchste Gericht der Vereinten Nationen verhandelt am Montag in Den Haag die Dringlichkeitsklage der Ukraine gegen Russland. Das Gericht ist zuständig für vier Kernverbrechen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Weil Russland wie die Ukraine das Statut des Gerichtshofs unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert hat, kann Putins Angriffskrieg als Verbrechen der Aggression zwar nicht verfolgt werden – sehr wohl aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord. Die Ukraine klagt auf Grundlage der Völkermordkonvention und bezichtigt Russland des Genozids an Ukrainern. Am Montag wird zunächst die Ukraine ihre Position darlegen, am Dienstag folgt Russland. Wann ein Urteil erfolgt, steht noch nicht fest.
Bild des Tages
Hoffnung im Krieg: Ein elfjähriger Junge aus der Ukraine hat die Grenze zur Slowakei ganz alleine überquert – ausgerüstet nur mit einem kleinen Rucksack, einer Plastiktüte und einer auf seine Hand gekritzelten Telefonnummer. Freiwillige empfingen ihn mit Essen und Getränken, die Polizei nannte ihn den "größten Helden der letzten Nacht". Mehr dazu lesen Sie hier.
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Was amüsiert mich?
Wie Aktivisten in Russland sich mit Umarmungen gegen Putin auflehnen: Das Video sehen Sie hier.
Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Start in die Woche! Morgen begleitet Sie mein Kollege Johannes Bebermeier in den Tag.
Ihre
Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1
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Mit Material von dpa.
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