Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutschland macht sich lächerlich
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
es gibt Dinge, die haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Bei genauerem Hinsehen erweisen sie sich aber als die Symptome eines grundsätzlichen Problems. So wie diese Nachrichten der vergangenen Tage:
- Gesundheitsminister Karl Lauterbach lehnt ein Impfregister ab, weil der Aufbau zu lange dauern würde.
- Allein die Stadt Wien kann pro Woche mehr PCR-Tests durchführen als die gesamte Bundesrepublik.
- Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bezeichnet die Lieferung von 5.000 Helmen an die Ukraine als "ganz deutliches Signal: Wir stehen an Eurer Seite".
Impfregister, Testkapazitäten, Schutzhelme für die Ukraine – was diese drei Meldungen im Innersten zusammenhält? Sie sind ein Hinweis darauf, dass Deutschland nicht auf der Höhe der Zeit regiert wird.
Man kann bedauern, dass China immer einflussreicher wird. Man kann beklagen, dass sich die USA nicht mehr so für Europa interessieren wie früher. Man kann es für abscheulich halten, dass Wladimir Putin sich zurück auf die globale Bühne gezündelt hat.
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Aber Politik beginnt nun mal mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Die ist unschön – und das nicht erst seit Kurzem. "Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen", sagte Angela Merkel. Vor fast fünf Jahren.
Spätestens seither ist wirklich jedem klar, dass Deutschland mehr für seine Sicherheit tun muss. Unsere Geschichte macht diesen Mentalitätswechsel nicht leicht. Aber viele Verbündete haben kein Verständnis mehr für die Arbeitsteilung, bei der sie in der Regel schuften, während wir moralisierend daherdozieren. Richtig unangenehm wird es, wenn wir dann auch noch so tun, als vollbrächten wir große Taten.
So wie derzeit im Ukraine-Konflikt. Harte Sanktionen gegen Putin? Die Ukraine in die Lage versetzen, Russland militärisch etwas entgegenzusetzen? Da bremst die Bundesregierung lieber. Ringt sie sich dann irgendwie durch, 5.000 Schutzhelme nach Kiew zu liefern, ist sie angesichts dieser Symbolpolitik allerdings nicht peinlich berührt, sondern feiert diese auch noch als "ganz deutliches Signal" der deutschen Solidarität. Es würde einen nicht überraschen, wenn die Profis im Pentagon erst einmal herzlich gelacht hätten, bevor einer besorgt die Frage gestellt hätte: "Seid ihr sicher, dass die Deutschen nicht Fahrradhelme meinen?"
Dass Deutschland sich langsam wirklich lächerlich macht, liegt aber nicht nur an unserem notorischen Hang, mit den Konflikten der Welt lieber nichts zu tun haben zu wollen. Auch in einer weiteren großen Krise der Gegenwart zeigt sich, dass wir nicht so agieren, wie es sein müsste.
Man muss das erwähnen, weil es häufig etwas untergeht: Wir sind ein Land der Hochtechnologie, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und eine der wichtigsten Exportnationen. Deutsche Produkte haben den Anspruch, "Best in class" zu sein.
An den Besten orientieren – was für unsere Unternehmen gilt, sollte auch der Maßstab für die Leistungsfähigkeit unseres Staates sein. Eigentlich. Doch davon scheinen wir ein ganzes Stück entfernt zu sein.
Vermutlich wird es bald eine Impfpflicht geben. Diese ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn sich ihre Einhaltung auch kontrollieren lässt. Ein nationales Register ist zwar nicht die einzig seligmachende Lösung, aber eine pragmatische.
Das bezweifelt auch kaum ein Politiker. Dass unter anderem der Bundesgesundheitsminister gegen ein Impfregister ist, hat weniger mit seiner Überzeugung als mit seinem Zutrauen zu tun. Er glaubt nicht, dass Deutschland es aufgebaut bekommt. Schließlich scheitern wir seit 2004 daran, die elektronische Gesundheitskarte einzuführen.
Die Bundesregierung traut sich nun also nicht einmal mehr zu, innerhalb eines halben Jahres von allen Bürgern digital ein paar Daten zusammenzutragen: Name, Adresse, Impfstatus, vielleicht noch die Nummer des Personalausweises. Viel mehr bräuchte es ja nicht.
Wohlgemerkt: Es handelt sich um die Regierung eines Staates, in dem es im Vergleich zu vielen anderen einen eher guten Überblick darüber gibt, wer hier lebt. In dem selbst viele Senioren beim Betreten eines Restaurants inzwischen problemlos ihre Impfpass-App zeigen. Und in dem binnen eines Jahres einer jener Impfstoffe zur Marktreife gebracht wurde, mit dem wir die Pandemie beenden können.
Unser Staat scheitert also nicht, weil er etwas nicht hinbekommt, sondern es nicht einmal mehr versucht. Das ist durchaus bitter, denn wir haben nicht nur das größte demokratisch gewählte Parlament der Welt, sondern gönnen uns mit der Ampel auch eine der üppigsten Regierungen in der Geschichte der Bundesrepublik. Auch der Beamtenapparat, der bereits in der Ära Merkel stetig zunahm, wächst unter SPD, Grünen und FDP auf ein neues Rekordniveau. Das gilt nicht zuletzt für jene Leitungsstäbe der Ministerien, die sich auch mit den großen Fragen beschäftigen sollen.
In der Praxis kümmerte sich die Große Koalition wohl eher selten um strategische Themen. Weder im Kanzleramt noch im Gesundheitsministerium galten offenbar so hohe Corona-Zahlen als denkbar, wie wir sie nun erleben. Schließlich wäre dann jemandem aufgefallen, dass wir viel zu wenige PCR-Testkapazitäten haben. Dabei hätte es, wie so häufig im Leben, nicht einmal der eigenen Geistesblitze bedurft. Es hätte schon gereicht, sich in anderen Ländern umzugucken, was sie anders – und ja: besser – machen.
Angesichts dieser misslichen Lage wäre es für die neue Regierung durchaus angemessen, sich erst einmal mit Verve daranzumachen, die eigentlich überschaubaren Probleme der Gegenwart zu lösen. Zumal das Ziel von Kanzler Olaf Scholz, bis Ende Januar 80 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal zu impfen, klar verfehlt wurde. Dabei hatte er es schon einmal vertagt.
Doch die Ampel nimmt sich lieber jene Themen vor, deren Bewältigung um ein Vielfaches komplizierter ist. Denn auch das ist eine Nachricht aus der jüngeren Vergangenheit: Wirtschaftsminister Robert Habeck will das Tempo beim Klimaschutz drastisch erhöhen. Der Anteil der erneuerbaren Energien soll sich bis 2030 auf 80 Prozent nahezu verdoppeln – in einem Zeitraum, in dem der Stromverbrauch Habecks Prognosen zufolge auch noch um fast 30 Prozent steigen wird.
Ein Land, das der Ukraine nur Helme liefert, sich den Aufbau eines Impfregisters nicht zutraut und vergisst, ausreichend Testkapazitäten zu schaffen, plant mit der Turbo-Energiewende mal eben die größte industrielle Revolution seit Jahrzehnten.
Dieses Wagnis muss man erst einmal eingehen.
Was wir über die Tatverdächtigen wissen
Es ist wohl der Albtraum jedes Polizisten: Was nach einem Routineeinsatz aussieht, endet tödlich. Als eine 24-jährige Polizeianwärterin und ein 29 Jahre alter Beamter am frühen Montagmorgen in Rheinland-Pfalz ein Auto kontrollieren, wird geschossen. Die beiden können zwar ihre Kollegen alarmieren, aber die Verstärkung trifft zu spät ein. Sie sterben.
Innenministerin Nancy Faeser sagte, die Tat erinnere an eine "Hinrichtung". Die Hintergründe sind noch unklar, doch die Polizei nahm noch am Montag zwei Tatverdächtige fest. Was über Sie bekannt ist, lesen Sie hier.
Tschüs, Corona!?
Dänemark hat sich von allen geltenden Corona-Beschränkungen verabschiedet – auch von der Maskenpflicht.
In der gesamten EU gibt es ab heute außerdem strengere Regeln für Impfnachweise: Die Zertifikate sind nur noch neun Monate nach der Grundimmunisierung gültig. Wer weiterhin ohne Tests reisen will, muss geboostert sein.
Gesunder Arbeitsmarkt, kränkelnder Handel
Nur 5,1 Prozent betrug die Arbeitslosenquote im Dezember – und erreichte damit fast wieder das Niveau vor der Krise. Wie sich die Jobzahlen im Januar entwickelt haben, gibt die Bundesagentur für Arbeit am Vormittag bekannt.
Das Statistische Bundesamt veröffentlicht am Morgen Zahlen zum Umsatz des Einzelhandels im traditionell sehr wichtigen Monat Dezember. Dass die Branche noch immer unter den Corona-Einschränkungen leidet, dürfte auch Thema bei der Jahrespressekonferenz des Handelsverbands HDE sein.
Schon wieder vor Gericht
In Köln beginnt am Morgen der Prozess gegen den früheren Reemtsma-Entführer Thomas Drach wegen Raubüberfällen auf Geldtransporter und versuchten Mordes.
Zwei, die sich verstehen
Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán trifft in Moskau Wladimir Putin. Nach Angaben von Staatsmedien schätzt Russland an Ungarn nicht nur, dass es seinen Impfstoff gekauft hat. Es sei auch "eines der wenigen Länder, das sich erlaubt, eine eigene Meinung über die Lage in Europa zu haben". Das ist natürlich eine durchaus interessante Interpretation.
Was lesen?
Die Gefahr eines russischen Einmarschs in die Ukraine ist noch immer hoch. Meine Kollegen Daniel Mützel und Michael Hübner sind vor Ort und schildern eindrücklich, wie sich Architekten, Lehrer und Friseure Putins Armee in den Weg stellen wollen.
Nein, es war kein bizarres Wohnhaus, das diese Männer Ende des 19. Jahrhunderts errichteten. Sondern eine Geburtsstätte des Kinos. Was es mit diesem als "Black Maria" berühmt gewordenen Gebäude exakt auf sich hatte, lesen Sie hier.
Wie merken wir die Inflation eigentlich im Alltag? Meine Kollegin Christine Holthoff hat den Selbsttest gemacht – mit einem zwölf Monate alten Kassenbon als Einkaufszettel für ihre Besorgungen heute.
Was mich amüsiert
Falls Sie allerdings dachten, Sie hätten angesichts der hohen Inflation ein gutes Argument für Ihre Gehaltsverhandlungen ...
Gehen Sie bitte trotzdem freudig zur Arbeit! Morgen schreibt an dieser Stelle wieder Florian Harms für Sie.
Ihr
Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell
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Mit Material von dpa.
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