Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Sie haben das Problem immer noch nicht begriffen
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
mein Name ist David Schafbuch, ich bin Redakteur im Ressort Politik- und Panorama und kommentiere heute erstmals die Themen des Tages für Sie. Los geht es mit einer Frage:
Kennen Sie Pavel Durov? Nein? Sollten Sie aber. Der Mann hat mit 37 Jahren bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Er soll neben der russischen Staatsbürgerschaft auch einen französischen Pass und einen von der Inselgruppe St. Kitts und Nevis besitzen. Meistens hält er sich aber vermutlich in Dubai auf. Er selbst bezeichnet sich als "digitalen Nomaden": jederzeit bereit, den Aufenthaltsort zu wechseln. Nur an seinen Geburtsort in Russland will er nicht zurückkehren.
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Nun fragen Sie sich vermutlich, warum ich Ihnen das alles erzähle. Der Grund liegt in einem Produkt, das Pavel Durov entwickelt hat und das weltweit rund eine halbe Milliarde Menschen verwenden: den Messengerdienst "Telegram". Also eine App, die viele Menschen in ähnlicher Weise nutzen wie SMS oder WhatsApp. Allerdings hat sich der Dienst seit der Corona-Pandemie zu einem Tummelplatz für Rechtsextreme, Corona-Leugner und andere Verschwörungsideologen entwickelt. Tausende versammeln sich dort in geschlossenen Chatgruppen, um ungestört ihre krude Weltanschauung mit Gleichgesinnten zu teilen: Die Eingeweihten verwandeln dort Lügen zu ihren eigenen "Fakten" und verbreiten sie massenhaft.
So teilen sie in den digitalen Telegram-Echokammern Lügen, Hetze und Gewaltfantasien der übelsten Sorte – und das seit Monaten. Der digitale Hass bleibt aber nicht in dem kruden Netzwerk, er schwappt in immer größeren Wellen in die analoge Welt – und wird aus unerklärlichen Gründen immer noch unterschätzt. Die alte und die neue Bundesregierung haben offenkundig noch immer nicht das Ausmaß des Problems erkannt.
Dabei genügt ein Blick auf die vergangenen Tage, um die gefährlichen Folgen dieser Entwicklung zu sehen: Erst am Freitag marschierten rund 30 Menschen mit Fackeln vor das Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) und geiferten dort gegen die Corona-Politik der Landesregierung. Der Aufschrei war groß: SPD-Chef Norbert Walter-Borjans nannte den Auftritt "faschistoid". Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen sprach von "SA-Methoden". Parallel dazu tauchten Berichte über einen Telegram-Aufruf von "Querdenkern" auf, die Adressen von Politikern zu sammeln, damit diese "nicht mehr privat und anonym ein unbeschwertes Leben führen" können. Es sind mafiöse Methoden.
All das kam nicht von heute auf morgen. Der Fackelaufmarsch vor Frau Köppings Wohnhaus erinnert an ähnliche Proteste vor dem Haus von Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Zwischen beiden Vorfällen liegen fast genau elf Monate – doch seit damals hat sich kaum etwas getan, um die digitale Hetze, die schnell in analoge Brutalität umschlagen kann, zu unterbinden.
Oder? Ja, ab dem 1. Januar gelten schärfere Gesetze. Die Betreiber sozialer Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram müssen dann rechtswidrige Inhalte auf ihren Plattformen dem Bundeskriminalamt melden. Doch Messengerdienste wie Telegram sind davon ausgenommen. Warum? Weil die politischen Gesetzgeber offenkundig gar nicht so genau wissen, mit welchen Problemen sie es zu tun haben. Die Innenministerkonferenz beließ es vergangene Woche bei windelweichen Absichtserklärungen. "Wir achten sehr genau darauf, was hier passiert, wie sich diese Szene gerade abhängig von der Entwicklung der Pandemie und den weiteren Einschränkungen des öffentlichen Lebens in der vierten Welle entwickelt", verkündete der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD). Taten wären besser.
Nun fragen Sie sich vielleicht, ob die künftige Regierung das Problem endlich anpacken wird. Leider sieht es nicht danach aus; auch den Ampelparteien scheint es ziemlich gleichgültig zu sein, dass Hetzer und Verleumder sich in der digitalen Welt austoben können. Der Auftritt des designierten Justizministers Marco Buschmann von der FDP bei Maybrit Illner (ZDF) lässt Schlimmes vermuten. Den dringenden Appell von Ministerpräsident Michael Kretschmer, gegen die Telegram-Hetze gesetzlich vorzugehen, ließ Herr Buschmann kalt abtropfen: Andere Dingen seien "wichtiger". Nur einen Tag nach diesem denkwürdigen Auftritt brannten die Fackeln vor dem Haus von Petra Köpping. Und heute sind weitere Proteste vor dem Dresdner Landtag angekündigt. Mit Verlaub, so kann das nicht weitergehen.
Ampel wartet auf grünes Licht
Die Ampelkoalition ist auf der Zielgeraden: Heute geben die Grünen das Ergebnis ihrer Urabstimmung über den Koalitionsvertrag bekannt. Bei einem (zu erwartenden) "Ja" der 125.000 Parteimitglieder wäre die erste rot-grün-gelbe Bundesregierung unter Dach und Fach, denn SPD und FDP haben auch schon genickt.
Mit noch mehr Spannung wird heute aber in Richtung SPD geblickt. Denn als letzte der drei Parteien wollen die Sozialdemokraten heute die Namen ihrer neuen Bundesminister bekannt geben. Sicher dürfte sein, dass der kommende Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Vertrauten Wolfgang Schmidt zum Kanzleramtschef macht, Hubertus Heil wird wohl Arbeitsminister bleiben. Zudem ernennt die Partei ihre Verantwortlichen für Inneres, Verteidigung, Bauen und Wohnen sowie Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die spannendste Frage ist aber: Trauen die Sozialdemokraten sich, Karl Lauterbach das Gesundheitsministerium zu überlassen?
Ein Vollblutpolitiker tritt ab
27 Jahre lang war Peter Altmaier für die CDU Mitglied des Bundestages, vier Jahre Kanzleramtsminister und zuletzt Wirtschaftsminister. Heute gibt der 63-jährige Saarländer seine Abschlusspressekonferenz als Minister. Vielleicht hat er noch die eine oder andere spannende Anekdote parat, denn kuriose Geschichten über den Minister gibt es einige.
Neue Wörter für Deutschland
Welche neuen Wörter hat uns das Jahr 2021 gebracht? Darüber informiert heute das Leibniz-Institut in Mannheim. Allein im vergangenen Jahr konnten die Forscher rund 1.000 neue Wörter identifizieren. Das Coronavirus regte dabei vielfach die Fantasie an – mit Wörtern wie "Abstandsgebot", "Wellenbrecher-Lockdown" oder "AHA-Regel". Das zweite Pandemiejahr dürfte zu ähnlichen Neuschöpfungen geführt haben. Wobei ich, ehrlich gesagt, auf alle gern verzichtet hätte.
Was lesen?
Mirco Nontschews Tod hat viele Menschen erschüttert. In der deutschen Comedy-Szene galt er als Ausnahmekünstler. Meine Kollegin Janna Halbroth erklärt, warum der Komiker so eine große Lücke hinterlässt.
Neben dem Klima und der Digitalisierung wollen die Ampelparteien sich auch mit dem Rentensystem befassen: Die Rente soll zu einem kleinen Teil auf eine Kapitaldeckung gestellt werden. Die Idee einer solchen Aktienrente kommt von der FDP. Mein Kollege Mauritius Kloft hat sich von dem Ökonomen Martin Werding erklären lassen, warum der aktuelle Kompromiss lange nicht ausreicht.
Er war schon der "Kanzlerkandidat der Herzen", was Markus Söder vor allem seinem Anpacker-Image in der Corona-Pandemie zu verdanken hat. An diesem Bild arbeitet Söder noch immer, allerdings bröckelt sein öffentliches Bild nun, wie mein Kollege Daniel Mützel schreibt.
Zu Beginn der Pandemie gab es Applaus für die Pflegekräfte – mittlerweile gibt es nahezu täglich Meldungen über Personalknappheit, volle Krankenhäuser und fehlende Betten. Das liegt nicht nur an der Pandemie, hat ein Pfleger aus Nordrhein-Westfalen meiner Kollegin Sandra Simonsen erklärt.
Was amüsiert mich?
Ich wünsche Ihnen einen schönen Nikolaustag. Morgen schreibt an dieser Stelle wieder wie gewohnt Florian Harms für Sie.
Herzliche Grüße,
Ihr
David Schafbuch
Redakteur Politik und Panorama
Twitter @Schubfach
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Mit Material von dpa.
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