Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Bravo, Männer!
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Ja. Doch. So kann es gehen. So kann man Europameister werden. Glauben Sie nicht? Haben Sie gestern Abend bedröppelt Ihren Platz vor der Flimmerkiste geräumt und sind mutlos ins Bett getrottet, wieder nix mit Fußballfest, ab dafür und gute Nacht? Dann lassen Sie mich Ihren Kopf heute Morgen wieder aufrichten. Ja, Jogis Jungs haben 0:1 verloren – aber diese Niederlage war in Wahrheit mindestens ein Unentschieden, wenn nicht viel mehr: ein Sieg für die Moral einer neu entstehenden Mannschaft, eine Energiespritze für das Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Warp-Antrieb auf dem Weg zur Titelchance. Die deutsche Nationalmannschaft des Sommers 2021 ist kein Vergleich zur Trümmertruppe der WM in Russland vor drei Jahren. Sie hat gegen einen herausragenden Gegner Großes geleistet. Sie hat sich ein gallisch-germanisches Armdrücken geliefert, bei dem zwei Systeme miteinander rangen. Fünf Thesen zum Eröffnungsspiel des deutschen Teams bei der Corona-geprägten EM:
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Erstens: Wenn je eine Niederlage ehrenvoll gewesen ist, dann war es diese. Im Fußball ist Frankreich derzeit das Nonplusultra, keine Nationalelf spielt technisch so perfekt wie die Équipe Tricolore. Welche Mannschaft des EM-Turniers hätte so standhaft gegen diese Zaubertruppe bestehen können wie das Team von Jogi Löw gestern Abend? Die Deutschen dominierten die Partie von Anfang an mit hohen Spielanteilen (62 Prozent Ballbesitz! 89 Prozent Passgenauigkeit!), mussten aber einsehen, dass sich selbst Dominanz im entscheidenden Moment der Cleverness von Ausnahmefußballern geschlagen geben muss. (Die Einzelkritik unseres Reporters Noah Platschko lesen Sie hier.)
Zweitens: Die deutsche Mannschaft ist präsent, reaktionsschnell, wach. Das ist nicht mehr der mutlose Angsthasenverein wie beim WM-Debakel 2018. Der Geniestreich im entscheidenden Moment fehlt noch, vor allem im Angriff. Aber der kann ja noch kommen, wenn Leroy Sané im nächsten Spiel gegen Portugal von Anfang an mittanzen darf.
Drittens: Das deutsche Mittelfeld ist nicht aggressiv genug. Kickt passabel bis akzeptabel, aber Kontrolle reicht bei einem Topturnier eben nicht. Da braucht es mehr Biss nach vorn und zwei, drei geniale Ideen, die die gegnerische Abwehr überrumpeln. Und ja, dazu gehört auch ein Joshua Kimmich, der sich seine Vorschusslorbeeren wirklich verdient, statt Däumchen zu drehen, wie vor dem Gegentor gestern Abend.
Viertens: Ach ja, die Abwehr. Die muss besser werden. Beim ersten Treffer von Frankreichs Superstar Mbappé, glücklicherweise im Abseits, standen gleich drei Verteidiger wie Ölgötzen herum. Vorher wurde Mats Hummels mit seinem Eigentor zum Unglücksraben. Doch der lange Kerl gab nicht auf. Als der Tausendsassa Mbappé in der 77. Minute schon wieder an ihm vorbeisprintete und in Manuel Neuers heiligen Strafraum eindrang, nahm der Lulatsch all seine Kraft zusammen und angelte sich die Pille im letzten Augenblick per Grätsche zurück. Na bitte, geht doch!
Fünftens: Nie galt die Fußballweisheit mehr – das Publikum ist der zwölfte Mann. Gestern Abend in München hat sich gezeigt: 14.500 Zuschauer können so laut sein wie 75.000. Es ist eine Freude, nach den schweigsamen Corona-Monaten endlich wieder ein vibrierendes Stadion zu hören. Was gibt es Schöneres, als wenn an einem milden Sommerabend der Funke aus dem Stadion durch den Fernseher in die Kneipe überspringt? Eben.
Deshalb fällt das Fazit des gestrigen Abends positiv aus: Nach den düsteren Corona-Monaten kann uns dieses Sportspektakel jetzt Lebensfreude impfen – und das deutsche Team hat in dieser Form noch alle Chancen. Die Spiele gegen Portugal am Samstag und gegen Ungarn am kommenden Mittwoch dürften leichter werden. Wenn Jogis Kicker ihre Schwächen abstellen, ist alles möglich. Glückauf!
Kooperation statt Konfrontation
Es ist ein Spektakel, wenn Dinosaurier miteinander kämpfen. Vor 67 Millionen Jahren gingen ein Tyrannosaurus Rex, der Titan der Urzeit, und ein ebenfalls gewaltiger Triceratops aufeinander los – im heutigen US-Bundesstaat Montana war das. Ihre ineinander verkeilten Skelette faszinieren die Forscher, und sie nehmen jedes Knöchelchen unter die Lupe, auch wenn die Begegnung nur ein unbedeutendes, vereinzeltes Scharmützel war. Denn der eigentliche Sieger stand nicht einmal mit auf dem Platz. Als alle Kämpfe ausgefochten waren, hatte die Evolution die Dinos abgeräumt und die Spezies unserer Tage auf den Thron gehievt.
Vielleicht sollte man die Knochen aus Montana schnell noch nach Genf karren. Dann könnten die beiden Alphatiere, die heute dort aufeinandertreffen, gemeinsam über verblichene Giganten und den Lauf der Zeiten sinnieren. Es wäre jedenfalls harmonischer als die Begegnung, die auf der Tagesordnung steht: Joe Biden und Wladimir Putin treten sich als Kontrahenten gegenüber. Die Grundstimmung ist mies. Die Beziehungen seien sogar schlechter als im Kalten Krieg, raunte der russische Außenminister Sergej Lawrow im April und beklagte einen fundamentalen Mangel an Respekt. Wie das kommt, hatte zuvor der US-Präsident mit einem einzigen Wort umrissen: "Ja", antwortete er auf die Frage, ob er Putin für einen "Killer" halte. Nun trifft man sich also zum Plausch. Wir dürfen unsere Erwartungen an das Treffen im Zaum halten.
Immerhin für einen der beiden ist die Begegnung schon jetzt ein Erfolg: Jeder Schub für das nationale Ego ist in Moskau willkommen, und erst recht ein Gipfeltreffen mit dem Ober-Babo der Supermacht USA, zumal die Biden-Administration auch noch von sich aus um das Stelldichein gebeten hat. Auf Augenhöhe möchte Russland behandelt werden, oder zumindest derjenige Teil Russlands, der seinen Wohnsitz im Kreml hat. Was hat Herr Putin nicht alles dafür getan: Mit Söldnern und Soldaten hat er sich ins Rampenlicht zurückgeboxt, grüne Männchen auf die Krim und "urlaubende" Armee-Einheiten in die Ostukraine geschickt und seine Finger nach jedem Konflikt ausgestreckt, an den er herankommen konnte – üblicherweise zugunsten der übelsten Akteure. Zu seinen Günstlingen gehören der Massenmörder im syrischen Präsidentenpalast genauso wie der Warlord Haftar in Libyen. Will man dort etwas werden, führt am Kreml kein Weg mehr vorbei. Man kann Putins Vorgehen als ruchloses Powerplay betrachten. Oder als Abstrampeln gegen die Irrelevanz.
Denn tauschen möchte man mit dem Moskauer Muskelprotz nicht. Oft genug hat er die wiedererstandene russische Größe beschworen und damit zu Hause rauschenden Beifall einheimsen können – aber jetzt verfängt das nicht mehr. Denn die Leute murren. Das Einkaufen wird immer teurer und die Wirtschaftslage ist trist. Außer Rohstoffen hat das Riesenreich wenig zu bieten, woran man sich andernorts die Hände lecken würde. So gering ist das Vertrauen in Putins Staatsgebilde inzwischen, dass die meisten Russen selbst angesichts einer Gefahr für Leib und Leben abwinken und den angepriesenen Corona-Impfstoff lieber nicht verpasst bekommen wollen. Gewiss, öffentlich wird die Unzufriedenheit inzwischen nur noch selten. Opposition ist gefährlich, dafür drohen Knüppel oder Knast – und in gravierenden Fällen kommt ein Vergiftungskommando vom Geheimdienst zu Besuch. Putins brutale Unterdrückung jeglichen Widerspruchs zeigt, dass er weiß, wie dünn das Eis für ihn geworden ist. Die weiteren Aussichten sorgen erst recht für Unruhe: Die Erde wird heißer. Die globale Abkehr von fossilen Brennstoffen ist nicht mehr aufzuhalten. Für Russland, das mit Öl und Gas sein Geld verdient, schmilzt das Geschäftsmodell dahin.
Doch so gewaltige Probleme hat nicht nur der Wladimir. Würde er sich heute an der Schulter seines Meeting-Partners ausweinen, wäre er vermutlich überrascht, wie schnell der in das Wehklagen einstimmt. Denn zu Hause beim Joe herrscht ein Durcheinander, das auch zum Heulen ist: Die eine Hälfte der Familie zankt ununterbrochen mit der anderen, weil die sich weigert, ihre roten MAGA-Käppis wegzuräumen oder sich gegen Corona impfen zu lassen. Das vorige Familienoberhaupt zeterte nur rum, glotzte auf das Handy mit der Twitter-App und hat die Hausordnung, in der eigentlich was von "Demokratie" und "freien Wahlen" stand, um Haaresbreite im Kamin verbrannt. Auch weiterhin versuchen Donald Trumps politische Erben, das Wahlrecht zu untergraben und sich in den Bundesstaaten ein System zurechtzubasteln, mit dem man gegen die Stimmen der Mehrheit das Weiße Haus zurückerobern kann. Und sonst so? Eine schlimme Corona-Bilanz, die enorme Herausforderung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus – ach ja, und Herr Biden verfügt im Kongress nur über eine hauchdünne Mehrheit, um all die Herausforderungen in den Griff zu bekommen. Derweil macht sich Herr Xi drüben in China bereit, die Amis als beherrschende Supermacht zu verdrängen. Nein, Joe Biden ist auch nicht zu beneiden.
Und was ist die Moral von der Geschicht? Schauen wir mal, ob sich die beiden Kontrahenten heute in Genf ineinander verbeißen oder sich ihrer schwierigen Lage stellen. Dann wäre nämlich etwas vonnöten, wovon man in den vergangenen Monaten zu wenig gehört hat: Kooperation. Bis diese Erkenntnis auch beim Joe und beim Wladimir reift, lehnt sich der stille Favorit der Evolution einfach zurück – und wartet daheim in Peking, ob die Dinos bald abgeräumt sind.
Zukunft der Impfzentren
Wie geht es mit den Impfzentren weiter? Diese Frage steht heute – neben Problemen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie – bei der Videoschalte der Gesundheitsminister von Bund und Ländern auf der Agenda. Während der Bund ursprünglich zum 30. September aus der Finanzierung aussteigen wollte, zeichnet sich nun eine Verlängerung ab. Entsprechend äußerte sich gestern Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, und auch der bayerische Ressortchef Klaus Holetschek, der um 15.30 Uhr mit Jens Spahn vor die Presse tritt, spricht sich für eine Fortführung aus. Argumente dafür gibt es trotz der hohen Kosten genug: Schließlich ist immer noch mehr als die Hälfte der Deutschen ungeimpft, und für die anderen wird es ab Herbst schon um Auffrischungen gehen.
Was lesen?
Worüber werden Joe Biden und Wladimir Putin reden, wenn sie heute ab 13 Uhr in Genf zu ihrer fünfstündigen Arbeitssitzung zusammenkommen? Die Liste der Themen ist lang.
Seit 2017 warten Beobachter darauf, dass sie redet – über die verdeckten Geldflüsse, die Hintermänner und den Machtkampf in der Partei, die sie kurz nach der Bundestagswahl im Eklat verließ: Frauke Petry hat zur Spendenaffäre der AfD bisher weitgehend geschwiegen. Das ist nun vorbei. Sie hat ein Buch geschrieben, in dem sie schwere Vorwürfe gegen das heutige AfD-Spitzenpersonal erhebt und Netzwerke um zwei Milliardäre für den Rechtsruck der Partei verantwortlich macht. Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe hat die Geschichte aufbereitet.
Erinnern Sie sich noch an das Debakel um die "Corona-Osterruhe"? Kanzlerin Merkel musste sich für den Schlamassel entschuldigen. Die Kollegen der "Zeit"- haben nun Belege gefunden, wie Firmen und Verbände gegen den freien Gründonnerstag lobbyierten.
Was amüsiert mich?
Der Besuch vom Joe hat hierzulande ja so einige Fragen hinterlassen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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