Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein schwerer Rückschlag
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Mehr Kraft
Im Leben ist ja alles eine Frage der Perspektive. Der eine sieht das Glas halb leer, die andere halb voll. Die Nachrichten dieser Tage bescheren vielen Menschen schlechte Laune. Die Seuche grassiert, die Politiker eiern herum, und nun gibt es also doch ein ernsthaftes Problem mit dem Impfstoff von Astrazeneca. Auf Empfehlungen der Ständigen Impfkommission haben die Bundesregierung und alle 16 Bundesländer beschlossen, den Stoff nur noch bei Menschen über 60 Jahren einzusetzen. Doch das Vertrauen ist dahin. Auch viele ältere Bürger werden sich dem Stoff nun wohl verweigern, selbst wenn das Risiko einer Thrombose bei ihnen gering ist. "Die staatlichen Empfehlungen zu Astrazeneca sind wie eine Fahrt mit der Achterbahn", wettert der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Erst sollten nur die unter 65-Jährigen, dann alle und jetzt nur die über 60-Jährigen den Impfstoff bekommen. "So entsteht der Eindruck, dass nicht alle Fakten auf den Tisch gelegt werden." Stattdessen werde der Anschein erweckt, dass allein Stimmung entscheidend für Impfempfehlungen sei.
Die Kanzlerin wirkte müde bei der Pressekonferenz gestern am späten Abend, sehr müde. Der Astra-Schock ist ein schwerer Rückschlag für das Krisenmanagement ihrer Regierung. Plötzlich stehen alle ohnehin schon wackeligen Pläne infrage: Kann sie wirklich wie versprochen bis Ende September allen impfwilligen Bürgern die ersehnte Spritze anbieten? Gesundheitsminister Jens Spahn versuchte gestern Optimismus zu verbreiten, ging dafür sogar eigens noch auf die Frage eines Journalisten ein, als die Kanzlerin die Pressekonferenz eigentlich schon beendet hatte: Ja, man werde alle Erwachsenen bis zum dritten Quartal impfen können. Aber ob seinen Worten Taten folgen, bleibt offen, schon öfter in dieser Pandemie hat er zu früh den Mund zu voll genommen.
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Der Krisenschlamassel wird wohl deutlich länger dauern: Das ist die Botschaft der vergangenen Stunden. Noch mehr Infektionen, noch mehr Kranke, noch längerer Lockdown. Ein dumpfes Gefühl der Hilflosigkeit macht sich breit. So ähnlich müssen sich die Menschen im Mittelalter gefühlt haben, wenn wieder einmal eine Seuche über sie kam: Diese Gedanken gingen mir gestern am frühen Abend im Kopf herum, noch vor Frau Merkels Pressekonferenz. Da wandern die Mundwinkel schon mal südwärts. Ich gab also vermutlich keinen allzu schönen Anblick ab, als ich das Büro verließ und mich auf den nächstbesten Roller schwang. Flitzte links und rechts zwischen den Autos hindurch, ließ mir den Wind durch das ebenfalls kriselnde Haupthaar wehen, bog um eine Ecke – und da war sie: die warme, goldene, so lang vermisste Abendsonne. Schien mir direkt ins Gesicht, hellte mein Gemüt auf, schob die Mundwinkel nach oben und flüsterte mir leise ins Ohr: Bedenke, das Leben ist wundervoll, trotz allem!
Ich trieb den Roller an, sauste durch die krisengebeutelte Hauptstadt, links die Corona-Teststation, rechts verrammelte Geschäfte, aber trotzdem viele fröhliche Menschen, die sich nach dem viel zu langen Winter mit Wärme auftankten. Vor dem Hauptbahnhof trötete ein Dudelsackspieler, auf der Rolltreppe hinunter zum Gleis stöpselte ich mir die Kopfhörer ins Ohr und ließ mir den besten Song der Welt vorsingen. Hopste mutig die letzten Stufen hinunter. Fühlte mich wie ein Held unter Helden, die mit Zauberkräften der größten Krise seit Jahrzehnten trotzen, denn diese Zauberkraft heißt nicht Astrazeneca, Moderna oder Biontech, sondern Zuversicht. So ist das nämlich im Leben: Das Glas ist entweder halb leer oder halb voll. Aber letzteres verleiht mehr Kraft.
Zeit für einen Aufbruch
Ich erinnere mich gut an das Gefühl, damals im Jahr 1998. Ich teilte es mit Millionen Menschen: Nun ist's aber mal gut. Es reicht. Zeit für einen Aufbruch. Für neue Leute. 16 Jahre lang hatte Helmut Kohl das Land regiert, hatte manches verbockt und vieles zum Guten gewendet, die Wiedervereinigung war sein Meisterstück. Aber am Ende schleppte er sich mehr schlecht als recht durch die Zeitläufe, träge und ein bisschen selbstherrlich. Er hatte das Gespür für die Erfordernisse der Zukunft verloren, er verwaltete nur noch, statt zu gestalten; während die Welt sich weiterdrehte, drehte er sich um sich selbst. Aber er war ja der Kanzler der Einheit, den konnte man nicht einfach vom Sockel stoßen. Also setzte sein Herausforderer auf eine geschickte Wahlkampfstrategie: Wattebäuschchen statt Knüppel. "Danke, Helmut Kohl", sagte Gerhard Schröder, "danke, es reicht."
Wer zu lange regiert, hebt irgendwann ab, selbst wenn er das gar nicht will. Um dieses Phänomen zu verstehen, muss man selbst einmal im Kanzleramt gewesen sein, siebter Stock, Klimaanlage, gedämpfte Schritte auf dem türkisfarbenen Teppich neben der Rotunde, man redet hier aus Ehrfurcht leiser. Die Tür ins Kanzlerbüro verbirgt sich in einer höhlenartigen Nische. Im Vorzimmer sitzen Angela Merkels engste Mitarbeiterinnen, die Sekretärin Beate Baumann und die politische Planungschefin Eva Christiansen. Links herum durch eine weitere Tür in einer holzgetäfelten Wand, dann steht man im Innersten der Macht: großer Schreibtisch links, großer Besprechungstisch rechts, riesige Fensterfront mit Blick auf Berlin. Wer sich hier aufhält, residiert über den Dingen. Bedeutend fühlt sich das an, fast gravitätisch. Es ist ein angemessener Platz für eine deutsche Regierungschefin.
Aber wenn man zu lange in diesen stillen, großen Räumen weilt, könnte es sein, dass man sich irgendwann von den Dingen draußen vor der Fensterfront entfernt. Dann übersieht man vielleicht, wohin die Welt sich gerade dreht, dann hält man die Digitalisierung womöglich für etwas, dem man sich irgendwann später mal widmen kann, dann legt man den Ordner mit der Aufschrift "Klimaschutz" auf den Aktenstapel hinten in der Ecke, und irgendwann hört man vermutlich auch auf, sich über den Dschungel aus seltsamen Vorschriften, Verordnungen und Gesetzen zu wundern, der dieses Land so unbeweglich macht. Stattdessen wird man nach und nach selbst zu einem Bewohner dieses Dschungels, und irgendwann spricht man auch die Dschungelsprache, die aus vielen Substantiven und wenigen Verben besteht, irgendwann findet man sich blind im Paragrafendickicht zurecht, aber findet trotzdem nicht mehr aus dem Wald hinaus. Und wenn man dann doch mal einen Ausflug ins echte Leben unternimmt, draußen vor dem großen Fenster, dann hat man womöglich nicht nur den Blick für die kleinen Dinge des Lebens, sondern auch den Mut für große Taten verloren. Also kehrt man rasch in die Kanzlerburg zurück, zu den anderen Burgbewohnern.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Das ist kein Vorwurf. Das ist einfach so, wenn jemand zu lange im Chefbüro sitzt. Das ist bei einem Unternehmen oder in einer Redaktion nicht anders als in einer Regierungszentrale. Macht macht behäbig. Und wenn sie zu lange währt, macht sie auch mutlos. Das ist der Moment, an dem es Zeit für etwas Neues ist. Für eine Person, die sanft sagt: "Danke, Angela Merkel. Danke, es reicht."
Das ist die Lage sechs Monate vor der Bundestagswahl: Unser Land schlingert durch die größte Krise seit Jahrzehnten, aber im Kanzleramt sitzt eine Regierungschefin, die der Mut zu großen Taten verlassen hat. Die schon so lange im Paragrafenwald wohnt, dass sie zwar haarklein erklären kann, warum der Föderalismus ihr leider vielerlei Grenzen setzt, aber die selbst in größter Not nicht aus dem Dschungel hinausfindet. Die dritte Corona-Welle erfordert eigentlich entschlossenes, schnelles und pragmatisches Handeln: beim Impfen, beim Testen, in der Lockdown-Frage. Stattdessen tapsen wir alle miteinander von einem Krisentag in den nächsten. Und dass Frau Merkel ihren Abgang bereits angekündigt hat, macht es nicht weniger zäh.
Wer ist also der- oder diejenige, die nun kommt und sagt: "Es reicht mit dieser Art der Politik. Zeit für einen Aufbruch"? Und noch wichtiger: Wem nehmen die Bürger diese Botschaft ab? Wem würden sie es zutrauen, dem erlahmten Land nach der Wahl im September neuen Schwung zu verleihen, verkrustete Strukturen aufzubrechen, ohne Bewährtes zu zerstören? Wer solche Fragen stellt, der kann sich die Daten von Umfrageinstituten ansehen. Dort bekommt man schnell ein klares Bild. Es ist ein dramatisches Bild in grellen Farben: Die Kanzlerpartei CDU und ihre Schwester CSU erleben einen beispiellosen Absturz – bundesweit und auch in Bayern.
Doch einem schadet der Einbruch nicht die Bohne: Der Beliebtheit von Markus Söder tut weder der Korruptionsskandal in seiner eigenen Truppe noch das strauchelnde Krisenmanagement noch das fehlende Wahlprogramm einen Abbruch. Er steht da einfach drüber. Das kann man abgebrüht nennen oder souverän. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass man so eine Fähigkeit besitzen muss, wenn man ganz nach oben will, in das Büro mit den großen Tischen und der riesigen Fensterfront. Dann hilft es, wenn man schlagfertig und präzise formulieren kann, wenn man eine Macher-Aura pflegt und ein feines Gespür für Stimmungen in der Bevölkerung hat, um sie stets einen Tick vor den Kontrahenten aufzugreifen und in politische Slogans zu gießen. Diese Begabungen sind ein entscheidender Vorteil. Armin Laschet hat ihn nicht. Deshalb ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass der aktuelle CDU-Chef im Herbst Kanzler wird. Entweder überlässt er die Kandidatur dem Bayern (was für den Machterhalt der Union klug wäre) oder er geht in Bausch und Bogen gegen Olaf Scholz oder Annalena Baerbock unter (was aus Unionssicht unklug, aber für den Neustart des Landes von Vorteil wäre). In sechs Monaten kann noch viel passieren. Aber die Weichen werden jetzt gestellt.
Grün-Schwarz oder Ampel?
Die Sondierungen sind beendet, jetzt heißt es Farbe bekennen: Wollen die Grünen in Baden-Württemberg ihre Regierungskoalition mit der CDU fortsetzen oder mit SPD und FDP ein Ampelbündnis bilden? Letzteres wäre ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl ein gewichtiges Signal, andererseits könnte ein Partnerwechsel mitten in der Corona-Krise Reibungsverluste mit sich bringen. Bislang hat sich Regierungschef Winfried Kretschmann bedeckt gehalten, welche Konstellation er favorisiert. Heute aber will die grüne Sondierungsgruppe, der neben seiner Majestät auch die beiden Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand sowie Fraktionschef Andreas Schwarz angehören, die Gespräche bewerten und eine Entscheidung treffen. Anschließend gibt sie dem Landesvorstand eine Empfehlung, der dann offiziell die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen beschließt. Das Ganze soll noch vor Ostern über die Bühne gehen. Schwaben schaffen halt gern. Auch Fakten.
Die Justiz des Sultans
Schon lange macht die türkische Regierung Druck auf die pro-kurdische Oppositionspartei HDP, zahlreiche Mitglieder wurden festgenommen. Das aber reicht Präsident Erdoğan, der wie ein mittelalterlicher Sultan um seine Macht fürchtet, nicht mehr aus – weshalb er seinen Oberstaatsanwalt einen Verbotsantrag formulieren ließ. Der Vorwurf: Die HDP sei der politische Arm der Terrororganisation PKK. Heute berät das türkische Verfassungsgericht über den Antrag, der nicht weniger als einen Frontalangriff auf die Demokratie darstellt. Wenn EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am kommenden Dienstag in die Türkei reisen, um den Sultan zu treffen, werden sie um deutliche Worte nicht herumkommen.
Drei Pünktchen zum Schluss
Im letzten WM-Qualifikationskick seiner etwas zu langen Bundestrainerzeit kann es für Jogi Löw heute Abend in Duisburg nur ein Ziel geben: Nach den Siegen gegen Island und Rumänien muss ein weiterer Dreier her, um für die EM-Vorbereitung in Schwung zu bleiben. Gegen Nordmazedonien sollte das machbar sein, auch wenn das kleine, aber stolze Land bei seiner ersten Partie gegen den vierfachen Weltmeister auf einen Achtungserfolg hofft.
Was lesen?
Was gilt jetzt genau bei Astrazeneca-Impfungen? Meine Kolleginnen Melanie Weiner und Sandra Simonsen beantworten die wichtigsten Fragen.
Die Grünen prangern das Corona-Missmanagement der Bundesregierung an – dabei sind sie in den Ländern selbst mitverantwortlich. Das ist jämmerlich, kommentiert die "Süddeutsche Zeitung".
Aus der zeitweiligen Blockade des Suezkanals können wir etwas lernen. Unsere Wirtschaftskolumnistin Ursula Weidenfeld erklärt Ihnen, was.
Warum brauchen Bundesligatrainer fünf Lizenzen – aber die Manager keine einzige? Mein Kollege Benjamin Zurmühl beleuchtet eine seltsame Schieflage im Millionen-Business Fußball.
Was amüsiert mich?
Moment, kommt am Ende etwa doch der Friedrich zurück?
Sie sehen: Es bleibt spannend. Also wünsche ich Ihnen einen anregenden Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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