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Merkels Corona-Kurs – wir können auch anders


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Tagesanbruch
Wir können auch anders

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 22.03.2021Lesedauer: 7 Min.
Kanzlerin Merkel will den Lockdown verlängern.Vergrößern des Bildes
Kanzlerin Merkel will den Lockdown verlängern. (Quelle: AP Photo/Michael Sohn/reuters)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

seit dreieinhalb Jahren gibt es den Tagesanbruch, an jedem Werktagmorgen heißt es seither "Was war?" und "Was steht an?". Rituale sind schön, aber irgendwann ist es Zeit für etwas Neues. Darum hat der Tagesanbruch heute eine andere Struktur: einen längeren Tageskommentar und knapp die wichtigsten Termine, jeweils mit eigener Überschrift. Die Lesetipps und das Amüsement am Schluss bleiben erhalten. Hier können Sie abstimmen, wie Ihnen die Gliederung gefällt. Und wenn Sie den Tagesanbruch abonnieren oder weiterempfehlen möchten, können Sie diesen Link nutzen.

Der Weg zu besseren Lösungen

Der Winter wird lang und länger, die Gemüter werden bang und bänger, wenige Tage nach den ersten Öffnungen legt Deutschland schon wieder den Rückwärtsgang ein. Wie ein Jo-Jo pendelt das Land seit Monaten zwischen Lockdown und Lockerungen hin und her. Ernsthafte Versuche, den zermürbenden Modus zu durchbrechen, gibt es nicht, stattdessen starren alle auf die Schreckenszahlen wie auf die biblische Schrift an der Wand: Weltweit sind bis gestern 2.828.303 Menschen an oder mit Corona gestorben, mehr als 122,34 Millionen haben sich infiziert. Hierzulande sind es schon fast 75.000 Todesfälle und rund 2,7 Millionen Infektionen. Die britische Mutante hat sich auch bei uns durchgesetzt, die Sterblichkeit liegt um 64 Prozent höher als bei anderen Virusvarianten: 0,41 Prozent der Infizierten überleben sie nicht. Das mag auf den ersten Blick nach wenig aussehen, steht aber täglich für rund hundert Trauerfälle, Tendenz steigend. Und kaum jemand glaubt mehr daran, dass sich das schnell ändern lässt.

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Das ist die Lage, wenn sich die Kanzlerin heute wieder mit den Ministerpräsidenten zum Corona-Gipfel zusammenschaltet. Und wie üblich haben die Teilnehmer ihre Forderungen vorher in den Medien platziert. Markus Söder (CSU) verlangt eine "einheitliche harte Notbremse", denn "wenn wir die Inzidenz ignorieren, ist es eine Frage der Zeit, bis die Situation schlechter wird." Olaf Scholz (SPD) ruft dazu auf, über Ostern auf Reisen zu verzichten; die SPD-geführten Bundesländer wollen den Bürgern aber "kontaktarmen Urlaub" im eigenen Bundesland gestatten. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) geißelt die Aufhebung der Reisewarnung für Mallorca als "schweren Fehler" und will sie schnellstens kassieren. Sachsens Landeschef Michael Kretschmer (CDU) hält nichts von einer sofortigen Notbremse und will stattdessen in Schulen, Theatern und Fitnesscentern systematisch testen. Lehrerverbandspräsident Heinz-Peter Meininger hingegen meint, dass die Schulen bald wieder in den Distanzunterricht zurückkehren müssen – zu wenig Tests, zu wenig geimpfte Lehrer. Und Städtetagspräsident Burkhard Jung (SPD) verlangt, neben dem Inzidenzwert immer auch die Impfquote und die Zahl der freien Intensivbetten zu berücksichtigen.

Viele Stimmen, viele Vorschläge, und auch die Kanzlerin und ihr Krisenstratege Helge Braun (CDU) haben einen Plan: Sie wollen den Lockdown bis Mitte April verlängern, im Gespräch ist zudem eine nächtliche Ausgangssperre in Landkreisen mit einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 100. Wie auch immer der Kompromiss heute Abend ausfällt, das wird sein Leitmotiv sein: zusperren, einschränken – und dann abwarten. Und so geht es weiter. Realistisch betrachtet werden wir uns noch monatelang mit mal höheren, mal niedrigeren Schranken durch den Alltag kämpfen müssen. Die meisten Politiker trauen sich das nicht so deutlich auszusprechen, Wissenschaftler hingegen schon. So wie der Biontech-Impfstoffpionier Uğur Şahin, wenngleich er seine Prognose in rhetorische Watte packt: "In vielen Ländern in Europa und in den USA werden wir wahrscheinlich Ende des Sommers in der Situation sein, nicht mehr in einen Lockdown zu müssen", hat er gestern gesagt. Erst wenn 70 Prozent aller Bürger geimpft sind, sei die Lage beherrschbar. Heißt: Selbst wenn es nun endlich bald mit dem flächendeckenden Testen klappt, bleiben wohl noch monatelang Läden und Betriebe geschlossen, Angestellte im Homeoffice, Kinder im Wechselunterricht oder ebenfalls zu Hause. Der Frühling und der Sommer werden uns noch viel Geduld abverlangen.

Das ist die Folge der Weltgesundheitskrise, aber es ist auch eine Folge der deutschen Art, mit ihr umzugehen: Heute so, morgen so, mal lockern, mal verschärfen, viel Bürokratie, zu wenig Pragmatismus. Das Impfen ist zäh, noch immer versauern Zigtausende Astrazeneca-Dosen in den Regalen, weil Berechtigte ihre Termine sausen lassen. Ein Konzept wie in den USA, wo der übrig gebliebene Stoff kurzerhand anderen Impfwilligen gespritzt wird, gibt es nicht. Die akribische Befolgung bürokratischer Vorschriften ist wichtiger als der Schutz von Menschenleben.

Auch das flächendeckende Testen kommt nur langsam in Schwung – ein Dreivierteljahr, nachdem es in asiatischen Städten längst zum Alltag gehörte. Die Hilfsgelder für notleidende Betriebe und Selbstständige fließen zögerlich, der Zettelwust hat schon viele Antragsteller zur Verzweiflung getrieben. Die Politiker fällen erratische Entscheidungen, kommunizieren widersprüchlich und verwirrend. So ist die Lage ein Jahr nach Ausbruch der Corona-Krise in Deutschland: ein Trauerspiel, selbst wenn manche Leute es nicht mehr hören wollen und den Journalisten "ewiges Gemecker" vorwerfen. Aber Missstände werden nicht dadurch besser, dass man sie verschweigt. So, wie die entschlossene Lockdown-Politik zu Beginn der Pandemie Anerkennung verdiente, so ist das heutige Jo-Jo-Missmanagement anzuprangern.

Vielleicht ist das größte Manko der deutschen Corona-Politik ihre Selbstbezogenheit: Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten entscheiden im kleinen Kreis über das Wohl und Wehe von 83 Millionen Menschen und merken dabei gar nicht, wie klein ihr Sichtfeld ist. Sie fällen unter großem Druck Beschlüsse zu hochkomplexen Fragen mit enormer Bandbreite – medizinisch, wirtschaftlich, sozial – und meinen, sie besäßen genügend Kompetenz und Weitblick, um immer die besten Lösungen zu finden. In Wahrheit bringen sie meistens nur halbherzige Kompromisse zuwege – eben das, was herauskommt, wenn aus 20 unterschiedlichen Sichtweisen ein Mittelwert gebildet wird. Manchmal frage ich mich, in welcher Lage wir heute wären, hätten die Regierenden in Bund und Ländern schon kurz nach Ausbruch der Seuche ein Tag und Nacht besetztes Krisenreaktionszentrum gebildet, in dem alle Informationen zusammenlaufen. Eine Taskforce, die die Entscheider rund um die Uhr bei jedem Schritt berät.

Wer könnte in so einem Gremium sitzen? Neben Virologen und Epidemiologen auch Ökonomen und Soziologen. Vor allem aber: Praktiker. Leute, die Erfahrung im Management haben. Die besten Logistiker der Bundeswehr und des Technischen Hilfswerks. Kommunikationsexperten aus der Medienbranche. Eine Auswahl von Topmanagern deutscher Unternehmen. Zum Beispiel VW-Entwicklungschef Thomas Ulbrich, der in einem Bootcamp mit Tausenden Ingenieuren und Programmierern die Entwicklung des Elektro-Golfs gerettet hat. Oder Roland Busch, der Siemens konsequent durchdigitalisiert. Oder BASF-Boss Martin Brudermüller, der seinen Konzern mit einem smarten Prozesssimulator durch die Corona-Krise steuert. Oder Anja-Isabel Dotzenrath, die gemeinsam mit Markus Krebber den Energieriesen RWE umkrempelt. Oder Dominik Richter, der den Essenslieferdienst Hello Fresh hochgezogen hat und vielleicht auch Corona-Tests ausliefern könnte. Sie alle und noch viele weitere Firmenlenker haben große Erfahrung im pragmatischen Management, sie haben unkonventionelle Ideen, sie sind bestens vernetzt, sie könnten vielleicht helfen, würden sie gefragt. Entscheiden müssen die demokratisch legitimierten Regierenden, aber unterstützen könnten sie viele kluge Köpfe aus der Wirtschaft. Eine Weltkrise lässt sich nur bewältigen, indem die gesamte Gesellschaft ihre Kräfte bündelt.

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Stattdessen werden wir heute Nachmittag wieder die übliche Corona-Runde erleben, die schon seit Monaten die Krise verwaltet, statt effiziente Lösungen auszutüfteln. Irgendwann am späten Abend werden sich die Damen und Herren übermüdet auf Kompromisse einigen, die vermutlich die Öffnungen zurücknehmen und den Lockdown wieder verschärfen, und in ein paar Tagen wird dann wieder jeder Länderchef tun und lassen, was er für richtig hält, die Bürgermeister werden ihr eigenes Süppchen kochen, der Gesundheits- und der Wirtschaftsminister werden noch mehr Geld für nicht ganz so gut vorbereitete Hauruckaktionen ausgeben, und der Kanzleramtschef wird in den Talkshows sitzen und kritische Fragen mit langatmigen Antworten parieren.

So sieht es aus, das deutsche "Krisenmanagement" im Frühjahr 2021. Noch mehr Menschen werden sterben, noch mehr Firmen werden in die Pleite stürzen, noch mehr Freiberufler werden ihre Ersparnisse aufzehren. Und wenn wir in ein, zwei Jahren auf die Corona-Jahre zurückblicken, werden wir uns fragen, warum wir damals nicht pragmatischer gehandelt haben. Dann werden wir uns vermutlich schwören, dass so ein Schlamassel nie wieder geschehen darf und wir deshalb unseren überbürokratisierten Staat modernisieren müssen. Wir werden einsehen, dass die Krisen unserer Zeit so komplex sind, dass sie sich nicht allein von oben bewältigen lassen. Dass es die geballte Kompetenz aus allen Bereichen der Gesellschaft und aus der Wirtschaft braucht, um die besten Lösungen zu finden. Wir können nämlich auch anders. Wie schade, dass man immer erst hinterher schlauer ist.


Gefangen im Dauerwahlkampf

Morgen wird in Israel gewählt – schon zum vierten Mal binnen zwei Jahren. Und obwohl Dauer-Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf Impf- und Infektionskurven zum Neidischwerden verweisen kann, gab es am Wochenende landesweit Proteste gegen den Premier. Kein Wunder: Der Mann steckt mitten in einem Korruptionsprozess. Ob es am Ende für seine Herausforderer reichen wird – als aussichtsreichster Kandidat gilt der Liberale Jair Lapid –, ist dennoch schwer vorherzusagen. Fest steht nur eines: Die Regierungsbildung wird wieder schwierig.


Außenpolitik mit zweierlei Maß

In Brüssel kommen heute die EU-Außenminister zusammen, um mal wieder ein paar Sanktionen zu beschließen: wegen des Militärputsches in Myanmar, wegen Menschenrechtsverletzungen in China, Libyen, Nordkorea, Eritrea, Südsudan und Russland. Auch um die schwierigen Beziehungen zur Türkei soll es gehen. In diesem Fall allerdings dürfte es trotz Erdogans brutaler Politik bei Besorgnisbekundungen bleiben: Zu wichtig ist das EU-Flüchtlingsabkommen mit Ankara.


Das Problem-Kommando

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) reist heute nach Calw, um mit Soldaten des Kommandos Spezialkräfte zu sprechen – nachdem sie wegen der Munitionsaffäre bei der "Elitetruppe" ein Vorermittlungsverfahren gegen Kommandeur Markus Kreitmayr eingeleitet hat. Nun muss die Behörde mit dem bemerkenswerten Namen Wehrdisziplinaranwaltschaft prüfen, ob der Topsoldat gegen Regeln verstoßen hat.


Was lesen und anschauen?

In Berliner Impfzentren gelten hohe Sicherheitsstandards – wirklich? Die Kollegen der "Neuen Zürcher Zeitung" haben protokolliert, was ein Arzt dort erlebt hat.


Wäre Karl Lauterbach ein besserer Gesundheitsminister als Jens Spahn? Immer mehr Kommentatoren meinen: ja. Unser Reporter Johannes Bebermeier räumt mit einem Missverständnis auf.


Vor zehn Jahren begann die Revolution in Syrien, seither hören wir von dort nur Leid und Schrecken. Aber es gibt auch das andere Syrien: ein Land der gesellschaftlichen Vielfalt, der kulturellen Schätze und der herzlichen Gastfreundschaft. Der Fotojournalist und Autor Lutz Jäkel hat Syrien 30 Jahre lang immer wieder bereist und berichtet in umjubelten Vorträgen von seinen Erlebnissen. Morgen Abend können Sie die multimediale Reise miterleben – online und kostenlos.


Was amüsiert mich?

Vielerorts in Europa haben Menschen gegen die Corona-Regeln protestiert, in Deutschland missachteten viele die Maskenregel, beschimpften Polizisten, attackierten Journalisten. Manche Beobachter fragen sich, was diese Leute eigentlich motiviert. Dabei liegt es doch auf der Hand.

Ich wünsche Ihnen einen erkenntnisreichen Tag. Morgen schreibt meine Kollegin Camilla Kohrs den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Mittwoch wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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