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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Schatten-Gesundheitsminister Könnte er es wirklich besser?
Wenn Bund und Länder am Montag über Corona beraten, ist ausgerechnet einer nicht mit dabei: Karl Lauterbach. Dabei halten ihn viele für den besseren Gesundheitsminister als Jens Spahn. Kämen wir mit ihm glimpflicher durch die Krise?
Am Ende einer verrückten Woche ist Prof. Dr. Dr. Karl Lauterbach am Freitag genau dort, wo ihn jetzt viele sehen und er sich wahrscheinlich auch: ein paar Schritte vor Jens Spahn.
In Berlin steht die allfreitägliche Corona-Pressekonferenz an. Lauterbach spaziert vor dem Bundesgesundheitsminister in den Saal der Bundespressekonferenz. Er wirkt gut gelaunt. Es gibt kaum eine politische Veranstaltung, die derzeit Woche für Woche mehr Beachtung findet. Allein, dass er diesmal dabei ist, ist ein Triumph für Lauterbach.
Und es ist heikel für Spahn. Der will den Auftritt als Zeichen verstanden wissen, dass es gerade jetzt wichtig sei, die Situation gemeinsam zu bewältigen. Und doch wirft er eben auch die Frage auf, die parallel zur Kritik am Gesundheitsminister in den letzten Wochen immer lauter wird: Könnte Lauterbach es besser?
Der Held und der Horst
Die Heldenverehrung für Karl Lauterbach hat in diesen Tagen einen neuen Höhepunkt erreicht. Auf Twitter sammeln sich Tausende Fans unter dem Hashtag #WirWollenKarl und fordern, dass Lauterbach Gesundheitsminister wird. Weil auch viele Journalisten auf Twitter sind, berichten sie über diese Euphorie. Nicht zuletzt, weil es wegen der massiven Kritik an Spahn gerade eine so passende Geschichte ist.
Der Aufsteiger und der Absteiger, der Held und der Horst.
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Natürlich arbeitet Lauterbach hart für seinen Status. Er tut das vor allem, indem er sich tief in die Fakten eingräbt und dann auf allen Kanälen sendet und sagt, was er gerade für richtig und wichtig hält. Die vergangene Woche war aber selbst für Lauterbachs Verhältnisse eine verrückte.
Am Montagmorgen forderte er zum Frühstück einen Schulstopp bis Ostern, nachmittags dauerte es nur sieben Minuten, da hatte er die Eilmeldung zur Aussetzung von Astrazeneca auf Twitter schon als "einen Fehler" bezeichnet. Das erklärte er dann noch bei RTL/n-tv, im WDR, bei "Hart aber fair" und im "heute-journal". Zwischendurch verlangte er bei t-online einen Lockdown.
Dienstag ging es früh im "Morgenmagazin" und im Deutschlandfunk zu Astrazeneca weiter, Mittwoch diskutierte er noch mal im Deutschlandfunk und bei "Maischberger", Donnerstag war er in den "Tagesthemen" und bei "Markus Lanz", Freitag dann in der Bundespressekonferenz, beim ZDF, und so weiter. Es ist eine Liste, die unvollendet bleiben muss.
Lauterbach, der Bundestagsabgeordnete, der für seine SPD-Fraktion nicht mal mehr als gesundheitspolitischer Sprecher arbeitet, ist vergangene Woche gefühlt präsenter als der auch nicht gerade medienscheue Gesundheitsminister Spahn.
Ob er nicht auch manchmal den Eindruck habe, dass Karl Lauterbach der bessere Gesundheitsminister wäre, wird der amtierende Ressortchef am Freitag gefragt. Spahn versucht, aus dieser Fangfrage bestmöglich herauszukommen. Man habe "verschiedene, aber immer gute Eindrücke" voneinander und arbeite schon lange gut zusammen, sagt Spahn.
Lauterbach lacht vor allem erst einmal ausgiebig. Betont nüchtern schaut er dann aber wieder, als Spahn sagt: "Wer weiß, vielleicht wird er ja noch mal Gesundheitsminister."
Minister Lauterbach? Erst mal unwahrscheinlich
Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass sich Politiker mit Ambitionen erst mal lange dagegen wehren müssen, das Wort überhaupt zu kennen. Über so etwas denke er gar nicht nach, lautet Lauterbachs Standardantwort auf solche Fragen.
Selbst einflussreiche Leute in Lauterbachs SPD-Fraktion halten es nicht für wahrscheinlich, dass Spahn noch ausgewechselt wird, trotz aller Kritik. Angela Merkel hat kein Interesse daran, so kurz vor der nächsten Wahl ihr Kabinett noch umzubilden – und damit eben auch einzugestehen, dass ihr derzeit wichtigster Minister es nicht kann.
Wegen des Machtproporzes müsste für einen Unionsminister wie Spahn außerdem auch ein Ressortchef von der CDU/CSU nachrücken. Nur durch einen komplizierten und größeren Rundtausch käme ein Gesundheitsminister Lauterbach überhaupt irgendwie ins Amt. Passieren wird das bis zur Bundestagswahl im Herbst wohl kaum noch.
Und danach? Ist alles offen und nichts sicher. Die SPD müsste erst einmal überhaupt wieder an der Regierung beteiligt werden, was schon an sich eine große Hürde ist. Dann müsste sie das Gesundheitsministerium bekommen, was bei Koalitionsverhandlungen selbst dann nicht gesichert ist, wenn sie es unbedingt will, weil die Verteilung der Ministerien auf die Parteien oft wenig mit Logik und viel mit Verhandlungstaktik zu tun hat.
Lauterbach und die SPD
Und dann müsste Lauterbach auch noch das Ministeramt bekommen. Das ist nicht undenkbar, aber auch alles andere als selbstverständlich. Lauterbach gilt in seiner Partei als Einzelgänger, schon vor der Corona-Krise und derzeit mehr denn je. Für seine Expertise wird er nun zwar von allen gelobt, die man fragt. Aber dann folgt eben bei allen auch noch etwas anderes. Meistens Frust.
Bärbel Bas, die als Fraktionsvize anders als Lauterbach qua Amt in der SPD für die Gesundheitspolitik zuständig ist, sagte schon im vergangenen Jahr, es sei schwierig, wenn Lauterbach "öffentlich mit der SPD gleichgesetzt wird". Manchmal überziehe er mit seinen Äußerungen.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD, Sabine Dittmar, selbst Ärztin, will sich zu Lauterbach gerade gar nicht äußern. Dittmar hatte vergangene Woche die Aussetzung der Astrazeneca-Impfung anders als Lauterbach gutgeheißen. Allerdings weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Neben dem omnipräsenten Genossen Karl bleibt wenig Platz für sie.
Lauterbach lasse sich eben nicht einbinden in eine Fraktionsstrategie, sagt jemand, der nicht ganz unwichtig in der SPD ist. Und ergänzt: Er glaube vielleicht auch, dass er es gar nicht nötig habe. Man habe manchmal den Eindruck, dass er eher mit Markus Lanz spreche als mit der Fraktion. Und dieser Eindruck ist nicht förderlich, wenn man Gesundheitsminister werden will.
Ein paar Missverständnisse
Wie so oft bei Heldenverehrungen gibt es auch bei Karl Lauterbach ein paar Missverständnisse, die ihm oft nutzen, die man aber trotzdem aufklären muss, um sich der nächsten Frage zu nähern: Könnte er den Job denn wirklich besser als Spahn?
Lauterbach wird oft als Experte wahrgenommen, als Wissenschaftler. Das liegt daran, dass er als Mediziner und Epidemiologe ausgebildet wurde und tatsächlich so viel Ahnung von der Pandemie hat wie nur wenige andere, weil er Studien liest und vor Wörtern wie "approximieren" und "Biosimilar" nicht zurückschreckt. Es liegt aber auch daran, dass er von Medien oft so präsentiert und befragt wird.
Doch Lauterbach ist eben vor allem Politiker. Das sagt er selbst, wenn man ihn danach fragt. Und in der Politik geht es zunächst mal um Macht und Einfluss und nicht um Erkenntnis und Wahrheit wie in der Wissenschaft.
Bei Lauterbach ist es nun auch noch so, dass sein Einfluss vor allem auf diesem Missverständnis beruht. Er findet als Experte Gehör, als einfacher SPD-Abgeordneter hat er wenig zu melden.
Das ist gut für ihn und hart erarbeitet. Doch anders als die Wissenschaft, die von der Unsicherheit lebt, braucht Politik klare Botschaften für eindeutige Entscheidungen. Das weiß Lauterbach und handelt meist entsprechend. Er ist so gut wie kaum ein anderer darin, komplizierte, oft unsichere wissenschaftliche Erkenntnisse in eindeutige Forderungen zu übersetzen – und damit in Politik.
Der Was-könnte-werden-Sager
Genau darauf beruht Lauterbachs Ruf als Besserwisser, im positiven Sinne: Besser-Wisser. Auch dieses Image ist eigentlich ein Missverständnis, denn der Professor liegt mit seinen Prognosen natürlich nicht immer richtig. Nicht einmal bei allen größeren Entwicklungen, wie es oft heißt. Wie auch.
Er ist kein Wahrsager, sondern ein Was-ist-Sager, oft auch ein Was-könnte-werden-Sager, der kein Problem damit hat, sich zu korrigieren. Allein das hebt ihn von anderen ab.
Viele entscheidende Entwicklungen hat er tatsächlich richtig und früher als andere gesehen. Er wollte bei China-Rückkehrern bereits Ende Januar 2020 Fieber messen lassen, wollte schon im März mehr testen, hielt im April eine bundesweite Maskenpflicht für sinnvoll, warnte im Mai vor einem Lockerungswettbewerb und forderte den Aufbau von Produktionskapazitäten für Impfstoffe, sah im Juni die zweite Welle kommen, drängte im Juli auf Tests für Reiserückkehrer, sah im Dezember den Vormarsch der Mutante, und warnte schon vor der dritten Welle, als die zweite noch gar nicht vorbei war.
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Aber Lauterbach sagte Ende Januar 2020 eben auch, dass es in Deutschland wohl "bei Einzelfällen bleiben" werde und die Gefahr "sehr überschaubar" sei, warnte im Sommer vor Öffnungen von Restaurants und Läden, vor der Wiederaufnahme der Fußball-Bundesliga und vor Großdemonstrationen. Nichts davon war so schlimm, wie er befürchtete. Noch Ende August sagte Lauterbach: "Ein zweiter Lockdown wird nicht nötig werden." Anfang Januar sagte er die drei schlimmsten Monate der Pandemie voraus. Auch diese Prognosen sind leider nicht gut gealtert.
Man kann ihm das gar nicht ernsthaft vorwerfen. Eben weil Lauterbach Politiker ist und deutlich formulieren muss, um durchzudringen und damit auf Entscheidungen einzuwirken. Und weil er sie vor allem nicht selbst treffen kann. Der öffentliche Druck ist für ihn, der kein Amt hat, das mächtigste Mittel.
Er spielt die Rolle des ewigen Mahners, weil sie für ihn am besten funktioniert.
Theoretisch gut, praktisch kleinverhandelt
Dabei ist auch dieser Ruf streng genommen ein Missverständnis. Denn Lauterbach produziert ja nicht nur Warnungen, sondern auch Vorschläge am laufenden Band.
Manchmal werden sie zum Erfolg, manchmal nicht. Den "Wellenbrecher-Lockdown" im Herbst etwa hatte Lauterbach mitkonzipiert und ihn anschließend hochgelobt. Inzwischen gilt er als einer der größten Fehler der Pandemie, weil er längst nicht ausreichte. Wenige Wochen später musste der härtere Lockdown folgen.
Vor der vergangenen Bund-Länder-Runde forderte Lauterbach gar keinen Lockdown mehr, obwohl es wissenschaftlich bei wieder steigenden Zahlen gute Gründe dafür gegeben hätte. Von dem Ziel einer Inzidenz unter 25, wie er es noch im Dezember formulierte, redet er längst nicht mehr. Stattdessen schlug er vor, Öffnungen mit einer Teststrategie zu verknüpfen. Die Ministerpräsidenten beschlossen das, theoretisch, in der Praxis fehlten die Tests.
Nicht ganz unwichtig.
Offensichtlich unterschätzt auch ein Profi wie Lauterbach manchmal, wie im politischen Prozess theoretisch gute Konzepte oft so kleinverhandelt werden, dass sie praktisch scheitern müssen. Inzwischen jedenfalls gibt Lauterbach zur Sicherheit wieder den Mahner und setzt auf klare Botschaften: Lockdown jetzt.
So frei
Heißt all das, dass Karl Lauterbach kein guter Gesundheitsminister wäre? Natürlich nicht. Heißt es, dass er auf jeden Fall der bessere Minister wäre? Auch nicht.
Doch es bedeutet eben schon, dass Lauterbach derzeit davon lebt, dass er die Freiheit hat zu sagen und zu tun, was er will. Er steht für sich, nicht für eine Regierung und nicht mal für die SPD. Er sagt, was er für richtig hält, wann er es für richtig hält. Und wird genau deshalb gehört.
Das ist sein Erfolgsgeheimnis.
Als Minister müsste er eine riesige Behörde managen, wo er derzeit schon manchmal an seinem Terminkalender scheitert. Er müsste regieren, auch das hat er noch nie gemacht. Mit beidem wäre er nicht der erste, beides ließe sich vielleicht kompensieren. Doch mit seinem Erfolgsgeheimnis wäre es definitiv vorbei.
Am Freitag in der Bundespressekonferenz ist Karl Lauterbach noch in seinem Element. Er redet schon im Eingangsstatement deutlich länger als Jens Spahn. Wenn der Minister anschließend nach etwas gefragt wird, ergänzt Lauterbach ihn oft, ganz unaufgefordert. Er weiß da eben gerade noch etwas.
Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr. In der Politik jedenfalls.
Als Jens Spahn nach Ende der Pressekonferenz schon längst abgefahren ist, um sich mit dem Kleinklein und den zähen Verhandlungen der Corona-Krise herumzuschlagen, steht Karl Lauterbach noch lange im Atrium des Gebäudes vor den Fernsehkameras. Und redet einfach weiter.
Er ist so frei.
- Eigene Recherchen, Gespräche und Beobachtungen