Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
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WAS WAR?
Öffnen! Aufmachen! Lockern! – Zulassen! Abwarten! Vorsicht! Der Corona-Chor in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist zu einem tosenden Crescendo angeschwollen. Keine Viertelstunde vergeht mehr, ohne dass irgendjemand auf irgendeinem Medienkanal seine Meinung hinausposaunt, wobei oft Lautstärke vor Substanz geht. Nach vier Monaten Lockdown haben viele Bürger den Ausnahmezustand satt, sie fühlen sich eingesperrt, bevormundet, entrechtet. Die Mehrheit verlangt Lockerungen. Ein anderer, ebenfalls großer Teil sieht die Öffnungsrufe mit Sorge und fürchtet den Kontrollverlust: Schon die Hälfte der Neuinfektionen gehen auf Mutationen zurück!
Die Emotionen in der Bevölkerung erhöhen den Druck auf die politischen Entscheider – und die reagieren wie so oft, wenn sie unter Druck geraten: viel reden, viel ankündigen, viel versprechen, selbst wenn sie nicht wissen, ob die Versprechen zu halten sind. So schwillt der Corona-Chor an: Dies müssten wir machen, das sollten wir tun, nein, lieber das! Manche Reden, Talkshows und Pressekonferenzen sind in diesen Tagen kaum noch zu ertragen. Viele Bürger wenden sich genervt ab und fragen sich: Warum reden die so viel, aber tun so wenig?
Ja, warum eigentlich? Zwei Erklärungen liegen auf der Hand, auf eine dritte kommt man nach einigem Nachdenken.
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Die erste ist einfach: Das Coronavirus ist tückisch, es entzieht sich herkömmlichen Prozessen, es stresst unsere staatlichen und privaten Strukturen – und kaum wähnen wir es unter Kontrolle, schlägt es uns ein Schnippchen und mutiert. Wenn wir in den zurückliegenden zwölf Monaten eines gelernt haben, dann das: Eine Pandemie lässt sich nicht mit dem üblichen politischen und organisatorischen Handwerkszeug bekämpfen. Wer nicht für eine weltweite Seuche gewappnet ist – und das waren wir nicht – schlittert stockvoll in die Krise und kommt nur unter größten Schmerzen und mit hohen Kosten wieder heraus.
Auch die zweite Antwort ist naheliegend: Die Corona-Krise hat schonungslos die Schwachstellen des deutschen Systems offengelegt. Widersprüchliche Beschlüsse aufgrund des Föderalismus, die fehlende digitale Infrastruktur, ein Gesundheitssystem, das auf Profit statt aufs Gemeinwohl optimiert wurde, und eine weit verbreitete Hybris in Politik und Wirtschaft haben unsere Abwehr geschwächt. Hätten wir früher die Lehren beachtet, die China und andere asiatische Staaten aus der SARS-Epidemie vor neun Jahren gezogen haben, wären wir nicht blindlings in den Corona-Schlamassel hineingestolpert und würden nicht ein Jahr später immer noch über Selbstverständlichkeiten wie das Testen diskutieren.
Die dritte Antwort führt uns zurück zu den politischen Akteuren, deren Krisenmanagement in diesen Tagen so viel Unzufriedenheit hervorruft: Vor dem heutigen Corona-Gipfel der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten sind erste Details durchgesickert, was die Damen und Herren planen: Verlängerung des Lockdowns um weitere dreieinhalb Wochen bis zum 28. März. Allerdings die Erlaubnis von privaten Zusammenkünften des eigenen Haushalts mit einem weiteren Haushalt, auf maximal fünf Personen beschränkt, Kinder bis 14 Jahre nicht mitgezählt. Das Ganze aber nur, wenn die 7-Tage-Inzidenz nicht zu hoch steigt. Eine Sonderregel für die Osterfeiertage: Dann sind nämlich Treffen mit vier über den eigenen Hausstand hinausgehenden Personen erlaubt, zuzüglich Kindern im Alter bis 14 Jahre. Aber vorher bitte eine Woche Quarantäne. Buchhandlungen, Blumengeschäfte und Gartenmärkte dürfen aufmachen, aber maximal einen Kunden pro 20 Quadratmetern Verkaufsfläche hineinlassen. Andere Geschäfte, Museen und Zoos erst später, nämlich dann, wenn der Inzidenzwert, nein, Moment: wenn der R-Wert… oder nein, Pardon… äh, wie noch mal?
Sie merken: Es ist kompliziert. Und für den einzelnen Bürger kaum noch nachzuvollziehen. All die Regeln, Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen, die uns heute wieder um die Ohren fliegen werden, dienen im Kern vor allem einem Zweck: Sie sollen übertünchen, dass die Verantwortlichen in der Bundes- und in den Landesregierungen die beiden wichtigsten Waffen gegen das Virus nicht schnell genug gezückt haben. Weil sie das Impfen und das Testen nicht rasch, transparent und bundesweit organisiert bekommen. Wäre Deutschland dabei weiter, wären viele der Lockdown-Regeln nicht nötig. Würden Impfmobile durch die Landkreise düsen, dürften Hausärzte jedem x-beliebigen Patienten eine Spritze verpassen, statt auf zigtausende Impfdosen warten zu müssen, die in Lagerhallen verstauben. Würde die Impfverordnung pragmatisch angepasst, sähen wir Licht am Ende des Tunnels. Hätte der Gesundheitsminister sich schon Ende vergangenen Jahres um die flächendeckende Einführung von Schnelltests gekümmert, könnten nun viele Kinder wieder in die Schulen, Gäste in Restaurants und Kunden in Geschäfte. Es gäbe eine Perspektive.
Leider fehlt diese Perspektive, und das hat etwas mit der dritten Antwort auf die Frage zu tun, warum wir so viele Ankündigungen hören, aber so wenige Taten sehen. Dafür müssen wir uns anschauen, wer da in den Ministerien und Staatskanzleien eigentlich plant und entscheidet. Die erste, zweite und dritte Reihe in Bundes- und Landesregierungen besteht zu einem großen Teil aus Beamten, Juristen, Verwaltungswissenschaftlern und Parteikadern, deren Berufsprofile sich in einem Punkt ähneln: Sie können gut reden und noch besser Theorien entwerfen – aber sie haben oft wenig Erfahrung im handfesten Management. Handwerker, Facharbeiter, Ingenieure, Projektleiter und andere praktische Berufe sind in den Regierungszentralen, aber auch im Bundestag vergleichsweise wenig vertreten.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein: Der Satz des alten Marx gilt auch heute noch. Und wenn dann auch noch an der Spitze eines Hauses ein schwacher Frontmann steht, wie derzeit im Wirtschafts- und im Gesundheitsministerium, wenn ferner hinzukommt, dass der Chef des Kanzleramts den Laden eher konsens- als ergebnisorientiert führt, dann hat das Folgen. Dann gelingt in einer Krise das Runterfahren gut – aber das Hochfahren nicht gut genug. Dann fehlt es an Mut, Entschlossenheit und Risikobereitschaft, im Dienst der guten Sache auch mal ein paar Kommata im Kleingedruckten beiseite zu wischen und ein paar Egos in den Bundesländern zu ignorieren.
Manchmal frage ich mich: Wie würde wohl Helmut Schmidt, der die Sturmflut in Hamburg und die RAF-Terrorkrise bewältigte, die Corona-Pandemie managen? Oder wer könnte es wie er? Ehrlich gesagt fallen mir dann nicht viele Namen ein. Einer aber schon, selbst wenn der Vergleich vermessen ist, weil dieser Mann nicht ein ganzes Land, sondern nur eine Kleinstadt organisieren muss. Aber was er in diesen Tagen tut, finde ich beachtenswert. Also habe ich ihm ein paar Fragen gestellt, dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer:
Herr Palmer, Sie plädieren dafür, den Lockdown jetzt deutlich zu lockern. Warum?
Weil wir nicht mehr können. Die Leute sind erschöpft. Die Schäden an Psyche, Wirtschaft und Gesundheit wachsen immer schneller. Wenn wir jetzt nicht öffnen, droht uns eine gesellschaftliche Kernschmelze mit unabsehbaren Folgen. Die besten Gesundheitssysteme der Welt bauen auf Wohlstand, Freiheit und Bildung. Alle drei Werte nehmen im Lockdown massiven Schaden.
Was sollte Ihrer Meinung nach jetzt wieder geöffnet werden, was nicht?
Die Frage ist schon falsch. Warum sind Friseure wichtiger als der Sportverein? Entscheidend ist allein das Infektionsrisiko. Es muss alles aufmachen, was ein beherrschbares Infektionsrisiko hat. Draußen ist leichter als drinnen, wenig Menschen ist einfacher als viele, Abstand ist besser als Enge, mit Test ist sicherer als ohne. Wo die entscheidenden Risiken weitgehend ausgeschlossen werden können, kann und muss man öffnen.
Haben Sie keine Sorge, dass die Öffnungen wieder zu einem deutlichen Anstieg der Infektionen führen?
Nein. Die Zahl der Infektionen ist der falsche Maßstab. Weniger als 5 Prozent aller Infizierten müssen ins Krankenhaus. Entscheidend ist, dass wir schwere Erkrankungen vermeiden. Dafür ist die Impfung der Menschen über 65 entscheidend. Die wird bis Mai gelingen. Danach kann man auch eine Infektionsrate von 100 oder 200 hinnehmen, ohne dass eine ernsthafte Gefahr für die Volksgesundheit besteht. Für Menschen unter 50 ist Covid-19 nicht gefährlicher als die Influenza. Da kann und muss sich jeder eigenverantwortlich schützen. Über 65 ist das Risiko noch ziemlich hoch, aber wenn wir mit der Altersgruppe durchgeimpft sind, ist Covid-19 keine Gefahr mehr, die Lockdown-Maßnahmen rechtfertigt.
Sie haben in Tübingen bereits Schnelltests eingeführt, zum Beispiel in Friseurgeschäften. Wie haben Sie das so schnell geschafft, und glauben Sie, dass das auch in Großstädten funktionieren würde?
Wir haben vor drei Wochen insgesamt 250.000 Test bestellt. Lisa Federle, unsere Pandemiebeauftragte, hatte einen direkten Kontakt zum Hersteller. Und als ich gesehen habe, wie einfach diese Nasepopeltests sind, habe ich entschieden, dass wir bestimmt nicht darauf warten, bis Berlin die Eigenanwendung erlaubt. Zu Recht. Es läuft problemlos, und die Schulen sind begeistert, weil sie jetzt sicheren Präsenzunterricht machen können.
Das Virus mutiert, mit dem Impfen geht es nur schleppend voran, trotzdem fordern viele Entscheider in Bund und Ländern jetzt Lockerungen: Was ist in der aktuellen Phase die beste Strategie gegen Corona?
Wir brauchen eine Brücke bis zum rettenden Ufer der Impfung der vulnerablen Gruppen. Das sind wohl nur noch drei Monate. Weil die Ausrottung des Virus in Europa unmöglich ist, scheidet No-Covid als Strategie aus. Unsere Nachbarn machen ja alle auf und haben viel höhere Inzidenzen. Daher meine ich, dass Öffnen mit dem Konzept des Freitestens ist die beste Strategie. Das ist ein Weg, mit dem Virus leben zu lernen.
Zu Beginn der Pandemie galt das deutsche Krisenmanagement als vorbildlich, nun hinkt es anderen Ländern hinterher. Warum tun wir uns so schwer, das Impfen und Testen schnell zu organisieren?
Weil wir einen falschen Sicherheitsbegriff haben. Wir meinen, dass etwas sicher ist, wenn alle Vorschriften penibel erfüllt sind. Das macht uns langsam und schwerfällig. In der Pandemie ist das gefährlich. Wenn 80 Prozent der Vorschriften erfüllt sind, muss man losrennen. Das gilt bei Schnelltests genauso wie bei Impfstoffen. Dass Großbritannien einen so riesigen Vorteil beim Impfen hat, nur weil sie nicht mehr in der EU-Bürokratie sind, ist ein schwerer Schlag, der uns zu denken geben sollte.
Können Sie nachvollziehen, dass viele Bürger genervt sind, weil es keine einheitliche bundesweite Strategie gegen Corona gibt?
Nein. Einheitliche Strategien sind ganz falsch, wenn die Inzidenz in Münster bei 20 liegt und an der tschechischen Grenze bei 250. Was mich nervt ist, dass es gar keine Strategie außer dem Dauer-Lockdown gibt. Und das sehen mittlerweile immer mehr Leute so.
WAS STEHT AN?
Welche Strategie die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten gegen Corona einschlagen, erfahren wir heute Nachmittag. Um 14 Uhr beginnt die Bund-Länder-Videokonferenz, das Dilemma der Politiker ist klar: Die Erwartungen des "pandemüden" Wahlvolks und der Wirtschaft sind hoch, das ausgegebene Ziel einer 35er-Wocheninzidenz ist aber ungefähr so weit entfernt wie vor drei Wochen. Deshalb sind wohl nur kleinere Lockerungen zu erwarten, die meisten Einzelhändler, Kulturschaffenden und Gastronomen werden sich vermutlich bis zum 24. März gedulden müssen. Dann folgt der nächste Corona-Gipfel.
Seit Jahren lässt sich die Europäische Volkspartei (EVP) von der rechtspopulistischen ungarischen Fidesz-Partei auf der Nase herumtanzen. CSU-Mann Manfred Weber, Fraktionschef der konservativen Parteienfamilie im Europaparlament, hat trotz diverser Provokationen aus Budapest stets versucht, den Bruch zu vermeiden. Heute aber stimmt die EVP-Fraktion über eine Änderung der Geschäftsordnung ab, die es ermöglichen würde, ganze Gruppen der Fraktion zu suspendieren. Die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit wird vermutlich zustande kommen. Ein überfälliger Schritt, kommentiert die "FAZ".
WAS LESEN?
Markus Söder gilt als erfolgreicher Corona-Krisenmanager, Armin Laschet nicht. Doch mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Unsere Reporter Johannes Bebermeier, Tim Kummert und Sven Böll haben die Reaktionen der beiden Rivalen im vergangenen Pandemiejahr rekonstruiert. Herausgekommen ist eine Geschichte darüber, warum das Image in der Politik oft mehr zählt als die Fakten. Falls Sie heute nur Zeit für einen einzigen Text haben, diesen sollte Sie lesen.
Wie geht es nun weiter mit der vertrödelten Impfkampagne? Biontech/Pfizer und Astrazeneca wollen bis Ende des Monats fünf Millionen Einheiten liefern – doch bei der Verteilung hapert es. Wie die Bundesländer das Problem lösen wollen, erklärt Ihnen mein Kollege David Ruch.
Was kann die Corona-App "Luca" des Rappers Smudo wirklich? Meine Kollegin Laura Stresing hat sich das Konzept genauer angesehen.
Wissenschaftler sind in der Pandemie unerlässlich – werden aber oft angefeindet. Wie gehen sie damit um? Unsere Moderatorin Ursula Weidenfeld diskutiert im Podcast "Tonspur Wissen" mit dem Virologen Jonas Schmidt-Chanasit und Leibniz-Präsident Matthias Kleiner.
Die Inflation ist zurück! Wird jetzt alles teurer? Wie lässt sich Erspartes vor der Entwertung retten? Unser Wirtschaftsressortleiter Florian Schmidt hat Ulrich Kater gefragt, den Chefvolkswirt der Dekabank.
WAS AMÜSIERT MICH?
Wenn Sie diesen langen Tagesanbruch bis hierhin gelesen haben, dann haben Sie sich ausnahmsweise zwei Cartoons verdient. Der liebe Mario Lars weiß nämlich erstens, wie hilfreich gutes Marketing ist…
…und zweitens, dass wir es mit der Rumkrittelei auch nicht übertreiben sollten.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen trotz allem einen optimistischen Tag!
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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