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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Großlieferungen erwartet Nach der Impfflaute droht nun der Impfstau
Wie geht es weiter mit der deutschen Impfkampagne? In den kommenden Wochen sollen große Lieferversprechen eingelöst werden. Droht dann statt Impfstoffengpass der Impfstau? Und wie ist er aufzulösen?
Stellt man sich die Impfkampagne wie ein Länderspiel Deutschland gegen England vor, dann wären die Kräfteverhältnisse auf dem Platz derzeit ziemlich klar. Die eingeübte englische Nationalelf lässt den Ball gekonnt durch die Reihen laufen und spielt den nach Ordnung suchenden deutschen Gegner phasenweise an die Wand. Über 17,8 Millionen Impfungen seit Spielbeginn haben die Engländer im Kasten, 2,3 Millionen kamen vergangene Woche dazu. Die Deutschen haben bislang lediglich 6,2 Millionen Impfungen ins Ziel gebracht, 1,1 Millionen in der letzten Woche. Zwischenstand aktuell: 3:0 für England – und die erste Hälfte ist noch nicht einmal vorbei.
Was der deutschen Elf trotzdem Hoffnung macht, sind die frischen Kräfte, die sich an der Seitenlinie warmlaufen – und damit soll es auch genug sein mit der Fußball-Analogie. Allein in den letzten beiden Märzwochen wird Biontech/Pfizer laut Bundesgesundheitsministerium etwa drei Millionen neue Impfstoffdosen liefern, der britisch-schwedische Konzern Astrazeneca schiebt mehr als zwei Millionen Einheiten nach. Die deutsche Impfkampagne könnte also richtig Fahrt aufnehmen – wenn die gelieferten Wirkstoffe denn auch zeitnah an die Frau und den Mann gebracht würden.
Merkel: "Werden Mühe haben, alles zu verimpfen"
Doch da bahnen sich neue Probleme an. Die bundesweiten Impfzentren, die jetzt noch auf halber Flamme laufen, werden dann mit ihren Kapazitäten nicht mehr ausreichen. Statt Impfflaute droht dann der Impfstau. Kanzlerin Angela Merkel hat die neue Herausforderung bereits ins Auge gefasst. "Ende März, April – da werden wir Mühe haben, alles zu verimpfen", sagte sie im ZDF.
Aktuell verabreichen die rund 440 Impfzentren in Deutschland in der Spitze bis zu 190.000 Dosen am Tag. Raum für insgesamt 340.000 Impfungen ist in etwa da. Bei Vollbetrieb auch am Wochenende sind also knapp 2,4 Millionen Impfungen binnen sieben Tagen möglich. Das ist aber noch weit von den Kapazitäten entfernt, die nach den Worten von Kanzlerin Merkel nötig sein werden. Demnach peilt der Bund mit Beginn des dritten Quartals die Verabreichung von wöchentlich über 7 Millionen Impfdosen an. Bis dahin werden größere Liefermengen als bisher zur Verfügung stehen und weitere Wirkstoffe zugelassen sein.
Wie die Bundesländer die Kapazitäten erhöhen wollen
In den Bundesländern laufen deshalb Planungen, wie die bestehenden Kapazitäten aufgestockt und neue erschlossen werden können. Eine Anfrage von t-online bei den zuständigen Landesstellen ergab, dass sich etwa die Impfzentren in Niedersachsen darauf vorbereiten, die Impfleistung an die angekündigten gesteigerten Impfstofflieferungen anzupassen, indem die Zahl der Impfteams von derzeit 120 auf 200 aufgestockt wird.
Die Senatsverwaltung in Berlin teilte mit, dass voraussichtlich am 8. März das sechste und damit letzte große Impfzentrum in der Hauptstadt in Betrieb gehen wird. In Sachsen ist eine Ausweitung der Öffnungszeiten der Impfzentren und ein Ausbau der Impfstrecken in den Einrichtungen geplant. In Bremen und Bremerhaven werden die Impfzentren nach Senatsangaben in den kommenden Tagen erweitert, von einer Kapazität von derzeit 3.200 Impfungen am Tag auf über 16.000.
Baden-Württemberg will den Durchlauf in den Zentren von derzeit maximal 60.000 Impfungen auf 80.000 pro Tag steigern. Nordrhein-Westfalen hat seine Vorgaben an die Impfeinrichtungen angepasst und strebt künftig eine Zielmarke von 8.000 statt 7.000 Impfungen pro 70.000 Einwohner innerhalb eines Monats an – das wären zwei Millionen Impfungen binnen vier Wochen.
Impfen in der Apotheke und bei Ikea
Es sind also Potenziale da, die Leistung in den bestehenden Strukturen weiter zu erhöhen. Die Länder sprechen von einem Ausbau auf täglich bis zu 550.000 Impfungen bis Ende März. Das wären etwa 3,5 Millionen in der Woche und damit immer noch nicht genug für die von Kanzlerin Merkel genannten 7,5 Millionen. Im eingangs erwähnten England zeigt man, wie es auch gehen könnte. Dort sind inzwischen auch hunderte Arztpraxen sowie Krankenhäuser in die Impfkampagne eingebunden, aber auch mehrere hundert Apotheken.
In Israel, das anteilig so viele Einwohner geimpft hat wie kein anderes Land der Welt, ging man ganz pragmatisch vor. In Vierteln orthodoxer Juden etwa gab man zur Impfung kostenlose Mahlzeiten aus. Die Möbelkette Ikea bot Kunden an, sich mal eben beim Einkauf impfen zu lassen. In den USA, wo die Impfkampagne ebenfalls rasch voranschreitet, räumte die Fastfoodkette den Mitarbeitern vier Stunden bezahlte Freizeit ein, um sich impfen zu lassen. Auch dort spielen Apothekenketten wie auch der Einzelhandelsriese Walmart eine entscheidende Rolle dabei, die Impfstoffe unters Volk zu bringen.
Auch in Deutschland gibt es Überlegungen, die Impfkampagne in die Breite zu ziehen. Eine wichtige Rolle hierbei sollen zunächst die mobilen Impfteams spielen, die ihre Arbeit in den Alten- und Pflegeheimen nahezu abgeschlossen haben. In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt etwa werden Impfaktionen in kleineren Kommunen organisiert. In Sachsen kamen in einem Pilotprojekt drei Impfbusse zum Einsatz. Die Aktionen zielen vor allem auf ältere Menschen ab, die zwar nicht in Heimen wohnen, aber dennoch in ihrer Bewegung eingeschränkt sind.
Erste Pilotprojekte in Praxen gehen an den Start
Entscheidend aber wird hierzulande die Einbindung der Arztpraxen sein, wie sie der Bund in Phase zwei der Kampagne vorsieht. Hamburg will noch Anfang des Monats "mit ersten dezentralen Impfangeboten in Praxen starten. Sobald es eine ausreichende Impfstoffmenge gibt, planen wir den zügigen Übergang in die nächste Phase des Impfgeschehens, in der Hausarztpraxen flächendeckend eine Rolle spielen sollen", sagte ein Sprecher der Sozialbehörde der Hansestadt. Bayern hat nach Angaben des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege Pilotprojekte zur Einbindung bestimmter Arztpraxen in die Infrastruktur der Impfzentren gestartet.
Mehrere Landesregierungen weisen jedoch darauf hin, dass der Bund für die Einbindung der Hausärzte zunächst die Voraussetzungen schaffen muss. "Voraussichtlich im Laufe des März starten wir mit einem Pilotprojekt, an dem landesweit etwa 40 Praxen beteiligt werden", erläutert das Sozialministerium in Dresden auf Anfrage. "Mehr ist zurzeit nicht möglich, weil der Rechtsrahmen des Bundes fehlt und die Verordnung des Bundes keine Festlegungen über die Honorierung in Arztpraxen enthält. Das heißt, das Land geht finanziell in Vorleistung für Honorare und Materialausstattung wie Spritzen. Daher mussten wir die Zahl der Hausarztpraxen erst einmal beschränken."
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) fordert, dass das Bundesgesundheitsministerium endlich die nötigen Änderungen an der Impfverordnung vornimmt. Zudem müsse der bürokratische Aufwand für die Praxen gering gehalten und eine angemessene Vergütung geregelt werden. Es gelte weiter, den Nachschub an ausreichenden Impfstoffmengen sicherzustellen. "In den Praxen darf es keine Diskussionen darüber geben, wer zuerst geimpft werden soll, weil es zu wenig Impfstoff gibt", erklärte die KBV auf eine t-online-Anfrage.
Gleichwohl sieht die KBV die Hausärzte bestens aufgestellt. "Wir schätzen, dass sich rund 50.000 der bundesweit rund 75.000 Praxen beteiligen könnten. Ausgehend von der (vorsichtigen) Annahme, dass sie täglich jeweils 20 Impfdosen verabreichen werden, kämen wir auf fünf Millionen Impfungen jede Woche!"
Hausärzte und Impfzentren könnten also gemeinsam dafür sorgen, dass der Impf-Turbo auch in Deutschland endlich anspringt.
- Eigene Recherche
- Anfragen bei Gesundheits- und Sozialbehörden der Länder
- Tagesschau: Stau auf der Impfstraße?
- Today: McDonald's is paying employees to get the COVID-19 vaccine (englisch)
- Pharmazeutische Zeitung: UK-Apotheken: 15 Millionen Impfungen bis Mitte Februar
- FAZ: "Ich bin im Reinen mit mir"
- Britische Regierung: Daten zu Impfungen in England
- RKI: Zahlen zu Impfungen in Deutschland