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Corona-Warn-App als Chance: Wie verhindern wir den nächsten Lockdown?


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Was heute wichtig ist
Wenn wir so weitermachen, kommt der nächste Lockdown bestimmt

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 17.11.2020Lesedauer: 7 Min.
Immer im Blick: Auch Angela Merkel guckt häufig auf ihr Handy.Vergrößern des Bildes
Immer im Blick: Auch Angela Merkel guckt häufig auf ihr Handy. (Quelle: imago-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute schreibe ich stellvertretend für Florian Harms für Sie den kommentierten Überblick über die Themen des Tages.

WAS WAR?

Viele Mahnungen, aber keine Maßnahmen – so lässt sich die Videoschalte zwischen Angela Merkel und den Ministerpräsidenten zusammenfassen. Konkrete Entscheidungen, theoretisch auch über Lockerungen, praktisch wohl eher zu Verschärfungen, wurden also erst einmal vertagt. Sie soll es in der kommenden Woche geben.

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Wie wir die Infektionszahlen jetzt senken, ist eine wichtige Frage. Genauso entscheidend ist allerdings, dass wir endlich eine tragfähige Strategie entwickeln, um nach dem Lockdown nicht wieder so schnell die Kontrolle über die Pandemie zu verlieren wie im Oktober.

Dazu gehört, dass wir Infektionsketten schneller und umfassender erkennen – und uns endlich einen technologischen Sprung erlauben.

Denn bislang ermitteln wir die Verbreitung des Virus genauso, wie wir es bereits vor 100 Jahren hätten machen können: Infizierte fragen, wen sie getroffen haben, und dann alle Kontaktpersonen informieren. Zumindest alle, an die sich die Betroffenen erinnern. Der wesentliche Unterschied zu damals besteht darin, dass heute fast jeder einen Telefonanschluss hat. Die Damen und Herren vom Gesundheitsamt können also anrufen. 1920 hätten sie meistens noch persönlich vorbeikommen müssen.

Das von uns praktizierte System hat allerdings Grenzen. Auch wenn die Gesundheitsämter inzwischen personelle Unterstützung von anderen Behörden und der Bundeswehr bekommen.

Die Faustregel lautet: Pro 20.000 Einwohnern gibt es ein Corona-Kontaktteam, bei 100.000 Einwohnern also fünf Teams. Jedes Team kann sich pro Tag um einen Infizierten kümmern, macht pro Woche 35 Fälle. Steigt die Sieben-Tages-Inzidenz über 35, verlieren die Gesundheitsämter langsam die Kontrolle. Ab einem Wert von 50 ist diese häufig nicht mehr gegeben. Deshalb ist die Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern pro Woche so wichtig.

Wir gönnen uns den Luxus des Kontrollverlusts über Corona auch, weil uns vermeintlich etwas noch wichtiger ist als der Schutz unserer Gesundheit: der Schutz unserer Daten.

Das zeigt die schleppende Verbreitung der Corona Warn-App. Dieses 68 Millionen Euro teure Projekt ist bislang ein bescheidenes Werkzeug im Kampf gegen die Pandemie. Die App wurde rund 22,5 Millionen Mal heruntergeladen, das entspricht etwas mehr als einem Viertel der Bevölkerung (wenn man von der nicht wirklich realistischen Annahme ausgeht, dass niemand sie wieder gelöscht hat). In den vergangenen zweieinhalb Monaten teilte nur rund die Hälfte der Nutzer, die ein positives Testergebnis erhielten, dieses auch ihren Kontakten mit. Und selbst wer die App nutzt, bleibt oft ratlos zurück. Etwa, weil unklar ist, wann und wo es eine Risikobegegnung gab.

Eine sinnvoll ausgestattete und umfassend genutzte App würde zwar nicht dazu führen, dass wir ein Leben führen könnten, als gäbe es Corona nicht. Aber die Technologie hätte durchaus das Potenzial, die Pandemie wirksamer zu bekämpfen.

Dafür müsste die App nutzerfreundlicher sein, zum Beispiel durch die transparente Nennung von Zeitpunkt und Ort der Risikobegegnungen. Sie müsste schneller sein, indem positive Testergebnisse nach kurzer Rücksprache mit dem Gesundheitsamt automatisch weitergegeben werden. Und es müsste mehr Druck geben, sie zu installieren, etwa durch verpflichtende Log-ins in allen Restaurants und Kinos.

Transparent, automatisch, verpflichtend – bei diesen Worten beschwören Datenschützer normalerweise den Untergang des Abendlandes. Wir können natürlich darüber diskutieren, welche Maßnahme im Einzelnen sinnvoll ist. Wir sollten es sogar tun. Aber es findet ja nicht einmal eine halbwegs ernsthafte Debatte darüber statt. Lieber tun wir alle so, als wäre unser Verständnis von Datenschutz auch in Zeiten der größten Krise seit Jahrzehnten noch zeitgemäß.

Manchmal hilft es vielleicht, sich die irrationalen Folgen dieser Selbsttäuschung zu verdeutlichen.

Überspitzt formuliert wollen wir dem Staat nicht ein paar anonymisierte Daten anvertrauen – aus Angst, dass er sie irgendwann für irgendetwas missbraucht. Weil deshalb aber nur ein Lockdown bleibt, ist fast alles geschlossen. Also sitzen wir zu Hause und füttern Facebook, Twitter, Netflix und all die Essenslieferanten mit unseren Daten – ohne uns ernsthaft Gedanken darüber zu machen, was sie wohl damit anstellen. Nun ja, sie nutzen diese, um möglichst viel über uns zu erfahren und uns abhängig zu machen.

Mark Zuckerberg weiß schon jetzt mehr über die meisten Deutschen als Angela Merkel jemals erfahren wird.

Es geht also um eine rationalere Bewertung des Datenschutzes – und nicht darum, einem Überwachungsstaat das Wort zu reden.

Selbst in Singapur, das derzeit eine noch konsequentere digitale Kontaktnachverfolgung einführt, werden keine Geodaten erfasst, die Bluetooth-Daten verschlüsselt auf dem eigenen Handy gespeichert und nach 25 Tagen automatisch gelöscht. Und im Stadtstaat herrscht ein durchaus autoritäreres Verhältnis zwischen Regierung und Bürgern als bei uns. Dort ist derzeit immerhin ein halbwegs normales Leben ohne Lockdown möglich. Und wer kein brauchbares Handy hat, bekommt für die bessere Kontaktnachverfolgung sogar einen Token.

Das sind die großen Möglichkeiten im Herbst 2020. In Deutschland begnügten sich Kanzlerin und Ministerpräsidenten am Montag allerdings damit, zu beschwören, die Corona-App helfe, "Infektionsketten schneller und umfassender zu unterbrechen" – und dann noch ein paar kleinere Änderungen anzukündigen.


WAS STEHT AN?

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Weil wir deshalb realistischerweise davon ausgehen sollten, dass sich an den Methoden, wie wir diese Pandemie bekämpfen, nichts Grundlegendes mehr ändern wird, müssen wir uns selbst helfen – und das heißt vor allem: optimistisch bleiben.

Es spricht einiges dafür, dass Deutschland am 1. März 2021 in Sachen Corona ein bisschen besser dasteht als derzeit. Nicht nur, weil dann der meteorologische Frühlingsanfang ist, die Temperaturen also vielleicht höher, der Himmel wahrscheinlich heller und die Tage auf jeden Fall länger als derzeit sind. Anfang März könnten wir auch schon auf die ersten Wochen der wohl größten Impfaktion der Geschichte zurückblicken. Die deutsche Bürokratie mag langsam und technologiefeindlich sein, aber organisieren kann sie. Immerhin.

Kurzum: Anfang März werden wir mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Licht am Ende des Tunnels deutlicher erkennen als derzeit. Und wir können wohl noch mehr darauf vertrauen, dass es sich dabei nicht um einen entgegenkommenden Zug handelt.

Aber wir müssen eben noch die Zeit bis dahin überbrücken. Wie das gelingen könnte? Vielleicht, indem wir dieses Jahr auf einen traditionellen Adventskalender verzichten und uns dafür einen Corona-Kalender gönnen. Er sollte nicht 24, sondern 100 Tage umfassen. Wenn Sie an diesem Samstag damit beginnen, jeden Tag ein Türchen, Päckchen (oder was auch immer) zu öffnen, machen Sie das letzte davon am 28. Februar 2021 auf.

Und wahrscheinlich wird es dann wie so oft im Leben sein: Rückblickend verging die Zeit viel schneller als im Voraus gedacht.


Am Abend lädt Angela Merkel per Video zum sogenannten "Autogipfel". Unter anderem mit Ministern, Ministerpräsidenten, Koalitionsspitzen, Vertretern der Branche und Gewerkschaften spricht sie darüber, wie die für Deutschland so wichtige Branche den Strukturwandel bewerkstelligen kann. Ob es zu konkreten Ergebnissen kommt, ist unklar. Zuletzt galt bei diesem Format eher das Motto: Über allen Autogipfeln ist Ruh'.


Im Prozess gegen den Attentäter von Halle sind heute die letzten Vernehmungen geplant, so dass die Beweisaufnahme wahrscheinlich endet. Bereits am Mittwoch könnten die Plädoyers beginnen. Der 28 Jahre alte Stephan Balliet hatte am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur im Oktober des vergangenen Jahres versucht, in die Synagoge der Stadt einzudringen. Als ihm das misslang, erschoss er auf der Straße eine 40 Jahre alte Frau und tötete in einem Döner-Imbiss einen 20 Jahre alten Mann. So grausam und nicht nachvollziehbar diese Tat ist: Ein Staat wie unserer begibt sich nie auf das Niveau der Täter. Er rächt sich nicht, sondern spricht Recht.


Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, lädt zum European Inclusion Summit. Wenn es darum geht, wie der Stand der Inklusion in Europa ist und welche Positivbeispiele es für mehr Teilhabe gibt, sind unter anderem Helena Dalli, die EU-Kommissarin für Gleichheitspolitik, und der EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, Nicolas Schmit, dabei. Die Veranstaltung zeigt: Auch Menschen, deren Namen Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben, machen wichtige Arbeit.


Um 20.45 Uhr spielt Deutschland in der Nations League gegen Spanien. Die Frage, für wie sinnvoll die Bürger ein solches Spiel in diesen Zeiten halten, wird allerdings erst morgen beantwortet: mit einem Blick auf die Einschaltquote. Die Konkurrenz für die Nationalmannschaft klingt mit "Inga Lindström" und einem Prominenten-Special bei Günther Jauch härter, als sie ist. Sowohl das Liebesdrama als auch die "Wer wird Millionär"-Folge sind aus dem Jahr 2015.


WAS LESEN?

Das waren noch Zeiten, als Barack Obama die USA regierte. Wie der frühere Präsident sie selbst erlebte, beschreibt Obama in seinen Memoiren, die heute erscheinen. Mein Kollege Johannes Bebermeier, der derzeit in Washington ist, hat die rund 1.000 Seiten gelesen und erklärt, was er an dem Werk für gelungen hält und was nicht. Und er verrät, was Obama an Angela Merkel besonders geschätzt hat.


Ungarn und Polen, die es mit dem Rechtsstaat nicht so genau nehmen, stellen sich beim neuen europäischen Haushalt quer. Das liegt auch daran, dass die Staatengemeinschaft die beiden rechtspopulistischen Regierungen jahrelang gewähren ließ. Nun muss die EU endlich die Scheu ablegen, kommentiert mein Kollege David Ruch.


Nur wenige Tage, nachdem die Mainzer Pharmafirma Biontech einen Erfolg mit ihrem Impfstoff verkündete, legte auch der US-Konzern Moderna positive Daten für sein Vakzin vor. Welcher Wirkstoff aus heutiger Sicht erfolgversprechender ist – und was die Kühlkette damit zu tun hat – erklärt meine Kollegin Melanie Weiner.


WAS AMÜSIERT MICH?

Als ich am Wochenende die vielen negativen Reaktionen auf die #besonderehelden-Clips der Bundesregierung las, war ich zunächst etwas frustriert: Warum müssen manche Leute immer nörgeln? Wieso sehen sie alles immer durch die negativste Brille, die es gibt?

Dann sah ich bei Twitter, Facebook und anderswo die vielen positiven Reaktionen aus dem Ausland: Hey, Ihr Deutschen habt ja richtig Humor.

Deshalb amüsiert mich inzwischen eher die Humorlosigkeit vieler Menschen bei uns, weil sie nicht einmal darüber schmunzeln können, dass eine qua Amt eher steife Bundesregierung recht lockere Videos drehen lässt, in denen ein älterer Herr auf den Herbst 2020 zurückblickt, als er mit 20 zockend vor dem Computer saß und dabei kalte Ravioli aß: "Als dann Corona ausbrach, blieb ich der gleiche faule Sack, der ich vorher auch gewesen bin. Aber im Gegensatz zu mir hatte sich die Welt verändert."

Starten Sie also mit einem Lächeln in diesen Tag. Morgen schreibt an dieser Stelle wieder Florian Harms für Sie.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Twitter: @SvenBoell

Mit Material von dpa.

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