Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Von wegen die Schweden machen’s besser
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie den Tagesanbruch abonnieren möchten, können Sie diesen Link nutzen. Dann bekommen Sie ihn jeden Morgen um 6 Uhr kostenlos per E-Mail geschickt.
Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Der Mensch braucht mehr zum Leben als Luft und Liebe, Speis und Trank. Ohne Geistesnahrung verkümmert er. Hockt in seiner Corona-Einsiedelei, stiert auf den Computerbildschirm oder saust von der Arbeit ins Wohnzimmer, wo er vor dem anderen Bildschirm in den Abend döst. Diese Viruskrise bedroht nicht nur unsere körperliche und wirtschaftliche, sondern auch unsere intellektuelle Gesundheit. Sicher, im Regal stehen die Bücher, so viele sind noch nicht gelesen. Der vorletzte McEwan. Mary Gaitskills neu aufgelegter Klassiker "Bad Behavior". Stefan Zweigs Habsburg-Abgesang "Die Welt von Gestern", der erstaunliche Parallelen zu unserer erschütterten Gegenwart aufweist. Imre Kertész "Roman eines Schicksallosen" wollte man sich in diesen Tagen auch noch einmal vornehmen.
Aber man kann nicht nur lesen. Der Mensch braucht mehr von dem, was das Leben lebenswert macht. Mitreißende Theaterabende. Amüsantes Kabarett. Graziöse Balletttänzer. Ausstellungen, die unseren ästhetischen Sinnen schmeicheln oder sie frech herausfordern. Programmkinos, die Filme zeigen, die man sonst nirgendwo sieht. Meinethalben auch Opern. Jazzkeller natürlich. Rockkonzerte unbedingt, aber leider vergilbt die Karte für das Open-Air von Guns N’ Roses in der Schublade neben dem Ticket für die Kölner Elektroband Coma, beide Konzerte wurden längst abgesagt. Wie so vieles in diesen Wochen, und natürlich ist die Streaming-Konserve im Internet kein Ersatz.
Embed
Als Journalist meint man ja, einen weiten Horizont zu haben, aber wenn ich mich in meinem Oberstübchen so umschaue, dann blicke ich in eine ziemlich eintönige Landschaft: Auf fast jedem Gedanken und jeder Erfahrung klebt ein Corona-Schild; von der Politik über die Wirtschaft und den Sport bis zum Alltagsleben dreht sich derzeit alles um die Jahrhundertkrise. Seit achteinhalb Wochen schreibe ich nun fast jeden Tag über dieses vermaledeite Virus und seine Folgen; ich weiß gar nicht, welcher Aspekt hier im Tagesanbruch noch nicht abgeklopft worden ist. Klar, irgendwie wollen wir das alles wissen, weil es unser Leben sehr beeinträchtigt (und weil es vielleicht auch unser menschliches Selbstverständnis als Krone der Schöpfung beleidigt?). Aber irgendwann ist es auch mal genug. Dann will man wieder raus ins Leben, will mit allen Sinnen Kultur aufnehmen – und weiß zugleich, dass es immer noch kaum geht. Die Kontaktsperre. Die Abstandsregel. Die Sicherheit. Nur soundso viele Besucher pro Raum. Alles verständlich und alles sehr berechtigt. Aber eben auch sehr tragisch. So viele kleine Bühnen, Galerien, Kinos und Lokale schlittern gerade in die Pleite oder sind bereits am Ende. Auch Kneipenkultur kann ja Hochkultur sein, wenn man genug im Glase und einen amüsanten Thekennachbarn hat.
Ich ahne: Die Corona-Krise verändert unser Land nachhaltiger, als viele Bürger es sich jetzt schon vorzustellen vermögen. Wenn wir irgendwann aus dem Gröbsten raus sind, dann werden wir feststellen, welchen ungeheuren Verlust an Kultur wir zu beklagen haben. Die Hälfte aller Kinos, ein Drittel aller Kleintheater, ein Viertel aller Eckkneipen könnten uns bald fehlen: Die Schätzungen der Branchenverbände sind naturgemäß noch schwammig, aber viele Beobachter erwarten einen Kahlschlag im Kulturleben. In einer Metropole wie Berlin wird man das weniger stark spüren als in Kleinstädten oder gar Dörfern. Wenn dort das einzige Lichtspielhaus schließt und im Nachbarort der Jugendclub, dann vielleicht auch noch die Stadtbücherei oder die Kleinkunstbühne, dann herrscht schnell ein kultureller Notstand. Man mag sich gar nicht ausmalen, was das in einem Land bedeutet, in dem die gesellschaftlichen Milieus ohnehin auseinanderdriften. Was, wenn auch noch die verbindende Kraft der Künste versiegt?
Ich will das Bild heute Morgen nicht zu schwarz malen. Es gibt ja Hoffnung. "Ich weiß, was wir alles vermissen und wie viele Bürgerinnen und Bürger darauf warten, endlich wieder live Ihre kulturellen Angebote erleben zu können", sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die praktischerweise mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) befreundet ist. "Bis dahin versuchen wir, so gut wie es geht, Sie zu unterstützen durch unsere Hilfsprogramme", verspricht sie den Kulturschaffenden, "aber auch dadurch, dass wir sagen, wie wichtig Sie für uns sind." Das klingt reichlich vage und eher nach moralischer als monetärer Unterstützung. "Die Zeit läuft uns weg", drängt der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, und fordert einen nationalen Fonds zur Erhaltung der kulturellen Infrastruktur. Das hält auch Finanzminister Olaf Scholz (SPD) für eine gute Idee. Zwar hat er in seine Haushaltsbücher schon rund 1,2 Billionen Euro an Corona-Hilfen hineinnotiert, trotzdem hat er immer noch die Spendierhosen an: "Kunst und Kultur brauchen unbedingt ein eigenes Konjunkturprogramm, wir wollen den Kulturschaffenden massiv helfen", gelobt er.
An diesem Versprechen sollten wir diese Bundesregierung messen. Geld für Kultur ist kein verzichtbarer Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Erst recht in Krisenzeiten. Der Mensch braucht mehr zum Leben als Luft und Liebe, Speis und Trank. Ohne Geistesnahrung verkümmert er.
Man muss nicht lange über das Coronavirus debattieren, im Kreis der lieben Verwandtschaft etwa oder unter Freunden, bis einem ein Argument begegnet, das mit "Aber" beginnt. "Aber", heißt es dann, "in Schweden ..." Ja, in Schweden hegt man die Hoffnung auf ein gedeihliches Leben mit dem Virus, aber ohne schmerzliche Einschnitte. Mit geöffneten Restaurants und einer brummenden Wirtschaft, aber dennoch ohne Sorge, dass die gefürchtete zweite Welle von Covid-19-Erkrankungen hereinbricht. Denn Schweden hat auf harte Verordnungen zum Herunterfahren des öffentlichen Lebens von vornherein verzichtet. Tatsächlich blieben die Krankenhäuser in Stockholm – anders als in Wuhan, Bergamo oder New York – vom Chaos verschont. Nun staunen viele über das Wunder eines unbeschwerten Alltags, und am lautesten schwärmen jene Leute vom "schwedischen Sonderweg", denen der geschäftsschädigende Aspekt des Coronavirus als das größte Übel erscheint.
Was ist da dran? Was können wir lernen? Nun, als Erstes stellen wir fest, dass die schöne, einfache Story sich erheblich komplexer darstellt, sobald man genauer hinsieht. Dafür müssen wir den großen Brocken wegräumen, der uns die Sicht verstellt: die irrige Annahme, dass es einen vom Rest der Welt radikal unterschiedlichen schwedischen Sonderweg überhaupt gibt. Auch in Schwedens Städten sucht man derzeit dichtes Gedränge, proppenvolle Restaurants und Tanzflächen vergeblich. Eher breiten Cafébesitzer im Abstand von zwei Metern auf dem Boden Decken aus, auf denen maximal drei Gäste Platz nehmen dürfen. Kein Geschiebe an der Bar, Getränke müssen am Platz bestellt und dort selbst in Empfang genommen werden. Und getanzt wird schon gar nicht. Party? Na ja.
Aber davon abgesehen stimmt es schon, zumindest auf dem Papier: Die Beschränkungen im hohen Norden fallen relativ bescheiden aus. Nicht mehr als 50 Leute dürfen sich versammeln. Von Besuchen in Altersheimen ist Abstand zu nehmen. Schüler ab der zehnten Klasse aufwärts müssen zu Hause bleiben (die Jüngeren gehen normal in die Schule oder in die Kita). Mit dem Maßnahmenpaket sind wir an dieser Stelle bereits durch. Business as usual also, wenigstens weitgehend. Wenn es da nicht noch die Empfehlungen gäbe.
Denn die Schweden verzichten mitnichten auf Kontaktbeschränkungen – sondern nur auf das Dekret, das sie verhängt. Die Regierung von Ministerpräsident Stefan Löfven setzt stattdessen auf Freiwilligkeit und Vernunft. Wer immer kann, soll zu Hause bleiben, seine Arbeit im Homeoffice erledigen und selbstverständlich Abstand zu seinen Mitmenschen halten. Das klingt dann schon wieder ganz wie bei uns daheim. Der staatliche Appell an den gesunden Menschenverstand ist allerdings keinesfalls als unverbindliche Empfehlung zu verstehen, über die man sich nach Belieben hinwegsetzen kann. Wenn es die Vernunft nicht wuppt, wird es scharfe Gesetze geben – das ist bei unseren nördlichen Nachbarn jedem klar. Wir können auch anders! Aber wir müssen nicht. Die Regierung hofft, die Bevölkerung auf diese Weise mitzunehmen, auf dass die Einsicht den Widerstand ersetze. Die Zustimmungswerte legen nahe, dass das bisher recht gut klappt. Obgleich auch Schweden in den vergangenen Jahren politische Tumulte und soziale Friktionen erlebt hat, sind das Gemeinschaftsgefühl und das kollektive Verantwortungsbewusstsein dort offenbar immer noch stärker verankert als bei uns.
Aber so ganz scheint man dem Braten nicht zu trauen. Es sei das Ziel, nur "diejenigen Teile der Gesellschaft zu schließen, von denen wir denken und es von anderen Krankheiten wissen und es in anderen Ländern beobachten, dass dort der Großteil der Übertragung stattfindet": So formuliert der staatlich beauftragte Epidemiologe Anders Tegnell etwas umständlich die schwedische Strategie. Intelligent zumachen also. Ja, das klingt toll – aber funktioniert es auch?
Die Infektionszahlen geben darüber nur begrenzt Auskunft, da in Schweden bisher nur wenig getestet wurde – gemessen an der Einwohnerzahl nicht einmal halb so viel wie in Deutschland. Eine andere Statistik ist verlässlicher, und sie zeichnet ein düsteres Bild: Die Zahl der Todesfälle, wiederum gemessen an der Einwohnerzahl, ist fast dreieinhalbmal so hoch wie bei uns. Vor allem in Pflege- und Altenheimen hat das Virus viele Opfer gefordert, und inzwischen hagelt es auch in Schweden Kritik an diesem eklatanten Versagen. Miese Zustände und Arbeitsbedingungen in den Heimen werden angeprangert. Und es wird bestimmt nicht leichter, die Seniorenheime in sichere Burgen zu verwandeln, wenn draußen das Virus ungehindert umgeht.
Die Suche nach der richtigen Corona-Strategie ist also noch lange nicht zu Ende. Auch aus Schweden gibt es leider keine Wunder zu vermelden. Auch dort ächzt die Wirtschaft unter den Beschränkungen, selbst wenn diese formal freiwillig daherkommen. Ökonomen aus dem benachbarten Dänemark beobachten im schwedischen Dienstleistungssektor einen ähnlich dramatischen Einbruch wie im eigenen Land, wo ein äußerst striktes Regiment herrscht. Die Schweden gehen also ihren eigenen, aber keinen besseren Weg. Ein Vorbild für Deutschland finden wir bei ihnen leider nicht.
WAS STEHT AN?
Bundeskanzlerin Merkel (CDU) muss sich heute im Bundestag einer Regierungsbefragung stellen. Voraussichtlich werden die Abgeordneten von ihr wissen wollen, wann sie denn nun ihren Innenminister anweist, die Grenzen zu den Nachbarstaaten wieder zu öffnen. Andere werden fragen, ob all die Lockerungen der Kontaktsperre nicht viel zu schnell gehen. Und uns alle sollte außerdem interessieren, wann und wie die Regierung dem Kulturbetrieb zu helfen gedenkt.
Nach der Kanzlerin wird die EU-Kommission ihren Plan zur Öffnung der europäischen Binnengrenzen vorstellen.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) will den Drohnen-Aktionsplan der Bundesregierung vorstellen. Ziel: Flugtaxis sicher in die Luft zu bringen. Was man halt so macht, wenn man sich nicht um das Pkw-Mautdebakel kümmern will.
US-Außenminister Mike Pompeo besucht in Jerusalem Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und dessen neuen Koalitionspartner Benny Gantz. Die drei wollen Israels geplante Teil-Annexion des palästinensischen Westjordanlands vorbereiten. Frieden wird so sicher nicht gestiftet.
Der große Stevie Wonder feiert heute seinen 70. Geburtstag. Da kann man wohl nur mit einer Hymne gratulieren.
Im Museum in der Völklinger Hütte wird die spannende Ausstellung "Afrika – Im Blick der Fotografen" eröffnet. Das geht trotz Corona. Hier ein Vorgeschmack.
WAS LESEN UND HÖREN?
Morgen veröffentlicht das Bundesfinanzministerium seine Steuerschätzung. Dann bekommen wir erstmals eine verlässliche Zahl, wie viel uns die Corona-Krise kosten wird. Olaf Robin Hood Scholz will das Loch mit einer Reichensteuer stopfen. Dieser Pfeil würde allerdings die Falschen treffen, meint unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld.
Die Corona-Krise "schärft den Blick für Ungleichheiten", sagt auch der Politikwissenschaftler Matthias Kettemann – und schlägt eine ungewöhnliche Lösung vor: ein allgemeines Recht auf Internet. Warum er das für so wichtig hält, erklärt er in unserem Podcast "Tonspur Wissen".
Unser Kolumnist Gerhard Spörl wiederum hat sich die Frage gestellt, warum die SPD in den Umfragen so wenig von der respektablen Arbeit ihrer Bundesminister profitiert. Hier ist seine wie immer elegant formulierte Antwort.
Es gibt nicht viele Fußballer, die gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein beweisen. Neven Subotic tut es wie kein Zweiter. Was der Profi von Union Berlin meinem Kollegen Dominik Slišković über die zynischen Mechanismen des Ball-Business und die umstrittenen Corona-Tests, aber auch sein Brunnenbau-Projekt in Nordäthiopien und die wachsende Ungerechtigkeit in der Welt erzählt hat, sollten nicht nur Sportfans lesen.
WAS AMÜSIERT MICH?
Falls Sie mal ein Problem haben: In Corona-Zeiten hat Olaf Scholz für alles eine Lösung.
Ich wünsche Ihnen einen unfallfreien Tag. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.