Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Corona: Fünf gefährliche Irrtümer
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WAS WAR?
Eine 55 Kilometer lange Brücke übers Meer, darunter ein fast sieben Kilometer langer Unterwassertunnel und zwei künstliche Inseln: Um so ein Jahrhundertbauwerk ins Wasser zu setzen, brauchten die Chinesen gerade einmal neun Jahre. Vor anderthalb Jahren eröffneten sie die Seebrücke zwischen Hongkong und dem Festland mit großem Tamtam. Hierzulande backen wir kleinere Brötchen, und vor allem backen wir langsamer. 14 Jahre haben wir gebraucht, um den neuen Berliner Hauptstadtflughafen BER in den Sand zu setzen. Neun Jahre nach dem ursprünglichen Eröffnungstermin hat die Baubehörde gestern endlich den Terminal freigegeben, Ende Oktober sollen mit kleinem Tamtam die ersten Flieger abheben (falls dann wieder jemand fliegen darf). Halleluja.
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Und die Moral von der Geschicht? Überforderte Lokalpolitiker aus Brandenburg und Berlin, übermütige Planer aus allerlei Gewerken, schlampige Arbeiter aus unzähligen Sub-Sub-Sub-Unternehmen – aber keiner will’s gewesen sein: Die Gründe für das Airport-Debakel sind hinreichend dokumentiert, manche Leute haben ganze Magazine damit vollgeschrieben. Offen bleibt die Frage, was wir daraus lernen. Vielleicht dies: Wenn so viele Leute auf einem Projekt herumtanzen, dann sollen gerne alle mitreden – aber am Ende muss einer das letzte Wort haben. Der entscheidet und der die Verantwortung trägt. Eigentlich ganz einfach. Wie kommt es bloß, dass ich mich, während ich diese Sätze schreibe, an das Durcheinander der Kontaktsperre-Regeln in den deutschen Bundesländern erinnert fühle?
WAS STEHT AN?
So lange haben wir jetzt schon mit dem Coronavirus zu tun, dass man meinen könnte, nun wäre alles gesagt. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Der Diskussionsstoff nimmt in diesen Tagen wieder zu, weil das Für und Wider, das Wann und das Wie des Ausstiegs aus der Kontaktsperre die Gemüter erhitzt. Die Wellen schlagen hoch, es geht ums Ganze. Angesichts der Schäden für Wirtschaft, Arbeitsplätze und Löhne, aber auch, weil die Beschränkungen vielen Leuten inzwischen auf die Nerven gehen, ist es menschlich, dass die Emotionen hochkochen. Verständlich, aber sinnlos. Denn wenn wir uns darüber beschweren wollen, dass es so nun wirklich nicht weitergehen kann, dann debattieren wir mit einem Virus. Die Natur hört uns nicht zu.
Angesichts der Argumente, die in diesem einseitig geführten Gespräch von Politikern ebenso zu vernehmen sind wie im Bekanntenkreis, gewinnt man schnell den Eindruck: Wir haben noch immer nicht genug über die Mikrobe und ihr Verhalten gesprochen. Da macht viel Halbwissen die Runde, das gefährliche Folgen haben kann. Also sollten wir uns das, was wir über das Virus wissen, dringend noch einmal vergegenwärtigen – und die Irrtümer auflösen, die nun durch viele Köpfe schwirren.
Der erste Irrtum: Es ist doch alles nicht so schlimm. Gewiss, mehr als 6.000 Tote sind in Deutschland schon gezählt worden, aber zu normalen Zeiten sterben hierzulande jährlich mehr als 900.000 Menschen, da fallen doch 6.000 kaum ins Gewicht: So argumentieren manche Leute – und offenbaren damit nicht nur ihren Zynismus, sondern tappen auch in eine logische Falle. Sie gehen dem trügerischen Eindruck auf den Leim, den vorbeugende Maßnahmen gerade dann entstehen lassen, wenn sie erfolgreich sind. Wer regelmäßig zum Zahnarzt geht und sich dank frühzeitiger Behandlung auch noch jenseits der Pensionsgrenze intakter Zähne erfreut, der könnte daraus den falschen Schluss ziehen, dass Parodontose völlig überbewertet werde und Karies eine Erfindung der Medien sei. Aufklärung schafft der vergleichende Blick über den Tellerrand: In Ländern, wo der Zahnarzt seine Praxis höchstens auf einem Tuch am Straßenrand ausbreitet, begegnen uns alte Menschen (meistens) ohne Zähne. Muss also doch etwas dran sein am Segen der Prophylaxe. Im Fall von Covid-19 zeigt uns derselbe Vergleich: Wir haben hierzulande nur deshalb relativ wenige Tote zu beklagen, weil die vorbeugenden Maßnahmen Wirkung gezeigt haben. In Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien und den USA hat man die Chance nicht im selben Maße gehabt oder sie verspielt. Dort hat das Coronavirus zusammengenommen schon mehr als 150.000 Tote gefordert. Und das Sterben geht weiter. Coronavirus: nicht so schlimm? Um Himmels willen.
Noch tiefer im Sumpf der Fehlinterpretation versinken jene Zeitgenossen, die bereits Realität gewordene Folgen der Viruskrise mit dem gesamten Potential des Schlamassels verwechseln – denn das ist der zweite Irrtum. Zuverlässige Studien liefern uns inzwischen eine heißbegehrte Information: die Infektionssterblichkeit. Ihr können wir entnehmen, wie groß der Anteil der Todesfälle unter allen Menschen ist, die sich mit dem Virus infiziert haben – ob sie nun Symptome zeigen oder nicht (die Dunkelziffer unerkannter Ansteckungen, die ohne nennenswerte Erkrankung verlaufen, ist in diese Quote bereits eingeflossen). Die Ergebnisse der Studien bewegen sich in einem Korridor um die Marke von 0,5 Prozent. Das gestattet uns nun endlich, einen Richtwert zu ermitteln, wie viele Opfer Covid-19 in Deutschland fordern kann.
Was wir bereits wussten: Insgesamt müssten etwa 55 Millionen Menschen (also zwei Drittel der Bevölkerung), die Infektion durchmachen – ob mit Symptomen oder bei bester Gesundheit –, damit das Virus anschließend so häufig an immunen Personen scheitert, dass es zum Erliegen kommt. Auf dem Weg zu dieser Herdenimmunität würden etwa 0,5 Prozent der Infizierten sterben. Solange weder wirksame Medikamente noch ein Impfstoff vorhanden sind, müssten wir also mit mehr als einer Viertelmillion Opfern rechnen.
Aber, hören wir nun von manchen Leuten, diese Menschen wären doch sowieso gestorben! Nicht an Corona. Nur mit Corona. Alte eben oder Kranke, ohnehin dem Tod geweiht, bloß zufällig zur selben Zeit auch mit dem Virus infiziert. Wirklich? Nein, denn das ist Irrtum Nummer drei, und wir können ihn zum Glück schnell aufklären. Dazu schauen wir noch einmal über den deutschen Tellerrand zu den Briten, weil uns hierzulande die erfolgreiche Prophylaxe auch in diesem Fall den Blick auf die Gefährlichkeit des Virus verstellt. Wären Erkrankte tatsächlich an anderen Leiden gestorben als an Covid-19, müsste sich die Zahl der Todesfälle im Jahresverlauf ebenso entwickeln wie in anderen Jahren auch. Tatsächlich sehen wir jedoch das hier:
Gar nichts ist wie immer. Schlagartig stirbt eine Vielzahl von Menschen – inzwischen vermelden die Briten doppelt so viele Tote wie zu normalen Zeiten. Nichts dergleichen ist in den vergangenen Jahren zu beobachten gewesen. Und die Verstorbenen waren an Covid-19 erkrankt. Nicht am Coronavirus gestorben, nur mit ihm? Dieses Gerücht können wir hiermit zu den Akten legen und die Schlussfolgerung auch für Deutschland ziehen: Die Opfer des Erregers, auch die Alten, auch die Kranken, starben am Virus – und vor ihrer Zeit.
Irrtum Nummer vier: Die Ausgangsbeschränkungen seien Quatsch. Die Ansteckungsrate sei ja bereits gefallen, bevor die Kontaktsperre in Kraft trat. Die verordneten Maßnahmen habe man also gar nicht gebraucht. Bei dieser Verkürzung der Sachlage fallen wesentliche Aspekte unter den Tisch. Zum einen greifen hier statistische Effekte, zum anderen gerät Grundsätzliches aus dem Blick: Natürlich wird das Virus nicht von Regierungsbeschlüssen zurückgedrängt – sondern von unserem veränderten Verhalten. Die schlimmen Nachrichten aus Italien, Ausbrüche wie in Heinsberg und der Rückzug von Firmen ins Homeoffice hatten das Leben in Deutschland schon vor Verhängung der Kontaktsperre verwandelt.
Wir erleben das Phänomen übrigens derzeit noch einmal: Bereits in den Tagen vor Beginn der Maskenpflicht war der Mundschutz, bis dato ein eher exotisches Accessoire, auf einmal häufiger zu sehen. Die neue Rechtslage wirkte also schon, bevor sie formal galt. Wir dürfen gespannt sein, ob wir auch hier in einigen Wochen die unsinnige Beschwerde hören, dass die Maskenpflicht nichts bringe, weil ein hilfreicher Effekt ja schon vor dem offiziellen Stichtag zu beobachten gewesen sei. Es ist so leicht, zu kurz zu denken.
Der fünfte und gravierendste Irrtum ist der Vorwurf, dass man den Virologen ja sowieso nichts glauben könne, weil jeder von ihnen etwas anderes erzähle. Dieses Muster kennen wir aus der Klimadebatte: Leugner der Klimakrise graben irgendeinen einsamen Forscher aus, der irgendetwas sagt, was dem Konsens der Wissenschaft zuwiderläuft – und schon können sie über die vermeintliche Uneinigkeit der Experten schwadronieren. Dabei ist es völlig normal, dass an der vordersten Front der aktuellen Forschung heftig debattiert wird. Das ist in allen Wissenschaftszweigen so, auch unter Virologen und Epidemiologen. Nur darf man darüber nicht aus dem Blick verlieren, dass diese Debatte auf einem Berg bereits akzeptierten Wissens ruht – und dass aus dem Disput der Fachleute mit beachtlicher Geschwindigkeit ein Konsens hervorgeht, wenn an einem Thema so intensiv geforscht wird wie an der Krankheit Covid-19. Man kann sich aus den verfügbaren Standpunkten also nicht einfach denjenigen herauspicken, der einem am besten gefällt. Wer es trotzdem tut, dem passt offensichtlich der Konsens nicht ins Weltbild.
Das sind sie, die fünf Irrtümer, die von einigen Leuten geschürt und leider von vielen geglaubt werden. So wächst die Verwirrung: Wahr oder falsch – alles ein Brei. Das macht leider die Bahn für das Virus frei. So, genug der Schulmeisterei.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) stellt heute die Frühjahrsprojektion der Bundesregierung vor. Sie dürfte düster ausfallen, Deutschland erwartet eine schwere Rezession. Die Stimmung in der Exportwirtschaft ist so schlecht wie noch nie:
WAS LESEN UND HÖREN?
Alle reden vom Wirtschaftseinbruch, warum herrscht an den Börsen trotzdem leidlich gute Laune? Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld erklärt es Ihnen – und was unser Steuergeld damit zu tun hat.
Das Coronavirus gibt es eigentlich gar nicht, hinter den Ausgangsbeschränkungen steckt eine jüdische Mafia, die Bundesregierung plant die heimliche Abschaffung des Bargelds: Verschwörungstheorien haben derzeit Hochkonjunktur und verfangen leider bei vielen Menschen. Die Kollegen des "Tagesspiegels" berichten, wie Rechtsextremisten den Ärger über die Kontaktsperre ausnutzen.
Ein Medikament gegen Covid-19 käme der gesamten Menschheit zugute – doch wie findet die Wissenschaft einen passenden Wirkstoff? Der Biochemiker Volker Haucke erklärt es in unserem Podcast "Tonspur Wissen".
Appelle statt Ausgangssperre: Schweden ist in der Viruskrise bisher einen Sonderweg gegangen. Doch mittlerweile sterben immer mehr Menschen an Covid-19, die Regierung gerät unter Druck. Führt der schwedische Weg in die Katastrophe? Meine Kollegin Rebekka Wiese hat nachgeforscht.
Die Reproduktionszahl der Infektionen spielt im Kampf gegen das Virus eine entscheidende Rolle: Sie muss dauerhaft unter 1 gedrückt werden, sonst gerät die Lage außer Kontrolle, warnen Mediziner. Doch was genau bedeutet das eigentlich? Meine Kollegin Laura Stresing erläutert die Statistik.
WAS AMÜSIERT MICH?
Ein Mann rutscht auf einer Bananenschale aus: Der Witz ist nicht neu. Er ist sogar ziemlich alt. Wissen Sie, wer ihn heute vor 105 Jahren erstmals auf der Leinwand zeigte?
Ich wünsche Ihnen einen unfallfreien Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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